Mittwoch, 25. Dezember 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Augustinus oder Von der Unmöglichkeit eines Schlusses

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Augustinus oder Von der Unmöglichkeit eines Schlusses

„So dachte ich auch von dir, du meines Lebens Leben, du durchdringest als eine Größe die ganze Weltmasse durch gränzenlose Räume, und ragest gränzenlos, unendlich über sie hinaus, so daß dich Erde, Himmel und Alles habe und in dir begränzt sei, während du es nirgends seiest. Wie dem Sonnenlichte die, obgleich körperliche Lust, die über der Erde ist, nicht hindernd entgegensteht, so daß es sie nicht durchdringen und durchschneiden könnte – wie es sie ganz erfüllt, so glaubte ich auch von dir, es sei dir nicht nur Aether, Luft und Wasser zugänglich, sondern selbst die feste, undurchsichtige Erde. In allen ihren größten und kleinsten Theilen sei sie durchdringbar, um deine Gegenwart zu erfassen, der du innerlich und äußerlich alles was du erschufest, geheimnißvoll durchwehest. So vermuthete ich, weil ich mir es nicht anders zu denken vermochte. Aber ich irrte, denn nach dieser Vorstellung besäße ein größeres Geschöpf einen größern, ein kleineres einen kleineren Theil von dir und Alles wäre voll von dir dergestalt, daß der Elephant um so mehr von dir enthielte, als der Sperling, um wie viel er größer ist als dieser; und so würdest du stückweise dich den Einzelnwesen der Welt vergegenwärtigen und hätten die großen große, die kleinen kleine Theile von dir inne. Aber so bist du nicht! Und noch hattest du meine Finsternisse nicht erhellt.“[1]

Von der Unmöglichkeit eines Schlusses

Gott in der Natur und außerhalb ihrer — das sind Hilfssätze für etwas, das man nicht denken kann.
Ist Gott manifest in der Natur, muss sie unendlich sein, weil er unendlich und unbegrenzt ist. Geht er über sie hinaus, muss irgendwo eine Bruchstelle sein: ab da hört die Natur auf, ab hier beginnen die Gefilde Gottes, gewissermaßen wie eine sich ausdünnende Atmosphäre der Natur, die sich im „Vakuum“, in einer Gegend verliert, die atemlos ist. In diesem Fall wäre zu unterscheiden zwischen einer wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Natur oder aber einer Natur, die einen Zaun um sich herum hat in ihrer Begrenztheit. Im Außen wäre Gott, im Innen irgendwie auch. Da Gott immer derselbe ist, müsste sein unsichtbares Sein auch in der Natur unsichtbar sein. Aber dann könnte man die Natur auch „etsi Deus non daretur“ denken. Nur: wenn man sie so denkt, gibt es sie dann überhaupt? Von Nichts kommt bekanntlich nichts und nicht etwas …

Der Garten Eden hatte Grenzen. Er galt als Paradies. In ihm war es „himmlisch“, in ihm war die Natur vollkommen.
Aber ist das wahr?
In welches Außen konnten die Menschen dann vertrieben, hinausgeworfen werden?
Gehört es auch noch zur Natur?
Und dieses Außen — wo endet es?
Und warum wollten sich die Menschen in der Stadt Babel konzentrieren?
Warum wollten sie sich nicht verteilen auf der Erde?
Hatten sie Angst vor der Unendlichkeit?
Oder vor dem Zerstreutsein?
Vor dem Verlust des Ganzen?
Was aber war dann das Ganze?

Augustinus unterscheidet leider nicht Quantität und Qualität in seiner Überlegung. Ein Elefant voller Gott ist wegen seiner Ausdehnung nicht mehr als eine Ameise voller Gott. Gott ist immer Gott, es gibt ihn nicht groß und klein.
Elefant und Ameise sind voller Gott gleich.
War er wirklich so vernebelt vom spätantiken, hellenistischen, in seinem Falle dann neuplatonischen Wahn, der mit finsterer Besessenheit alles in Rangstufen geordnet sehen will, dass er diese einfache Erkenntnis nicht mehr erreichen konnte?

Wir wissen so wenig, so unendlich wenig, je mehr wir wissen!

Und der Fragen werden immer mehr …

Etwa: Ist die physische Erscheinung des auferweckten Jesus nur der Situation seiner Jünger geschuldet, die noch „im Leib“ waren, in Wahrheit sei der Auferstehungsleib aber ein reiner Geist?
Oder ist die Physis des Menschen so zentral für ihn, dass der Mensch ohne Physis nicht denkbar ist? Manche sagen: Jesus sagte, im Himmel seien wir wie die Engel, also nicht-leiblich. Aber wissen wir das so sicher? Wenn der Mensch physisch „als Mann und Frau“ (und das garantiert, dass er leiblich ist), als dieses leibliche Wesen „in der Gestalt Gottes“, sein „Abbild“ ist: wird das dann einfach weggekürzt im Himmel? Erlaubt es uns zu behaupten, Gott könne in keiner Weise Urbild dieser Physis sein?

Wie überlagern sich die schon angebrochene „basileia theou“, das Königreich Gottes, das nicht von diesem „kosmos“, diesem System ist und kein leid mehr kennen wird, und die Natur, die wir kennen, in der auch das Böse wirkt, woher immer es kommt und was immer es ist? Es konnte ja bereits in der guten Natur in Eden ungehindert wirken…?

Und was ist mit diesen 1000 Friedensjahren? Was mit dem von den Propheten angekündigten Friedensreich, das als irdisches, natürliches Reich gezeichnet wird, nur ohne Leid und Tod und Gewalt? Liegt es als Zwischenstufe vor einem reinen Geistreich, oder ist es etwas anderes? Oder war es auch den biblischen Propheten unmöglich, das in Worte zu fassen, worauf wir zugehen?

Fragen über Fragen, und niemand soll sich anmaßen, einfach so von der Natur zu sprechen als wüsste er, wo sie ist und wie sie sein soll!

Hanna Jüngling, 25.12.2019 (Weihnachten)


Tagebuchfolgen bisher:





[1] Aurelius Augustinus: Bekenntnisse VII, 1. In der Übersetzung von Georg Rapp, Stuttgart 1838