Die Brezn in Hannover
Als Frau H. aus München nach
Hannover umzog, war das erste, was ihr unangenehm auffiel, dass es an diesem Ort
alle möglichen gradlinigen Dinge wie zum Beispiel den zweitgrößten Stadtwald
Europas und das beste Deutsch auf Erden gibt – aber keine Brezn. Sie
durchsuchte die ganze Stadt und musste sich eingestehen, dass die meisten nicht
mal wussten, was eine echte Brezn ist. Man reichte ihr Tüten mit kleinen
salzigen Partybrezeln über den Ladentisch, oder ausgestochenes Teegebäck in
einer sterilen Nachbildung aus Mürbteig. Am schlimmsten waren diese unförmig
verschlungenen, mandelbesplitterten Süßgebäcke, die angeblich aus Russland
stammten. Heftiges Heimweh beschlich Frau H. und sie bereute, dass sie in diese
Stadt gezogen war, der die Grundvoraussetzungen zum behaglichen Leben fehlten.
Ein mitfühlender amerikanischer Freund schenkte ihr eines Tages zum Trost eine
Tüte voll „German Pretzels“ mit P und tz, produced in the United States. Sie
nahm die Aufmerksamkeit gerührt und wehmütig entgegen.
Ach, wie schön ist es doch in
Süddeutschland, dem Paradies, in dem nicht nur die Erschaffung des Menschen,
sondern auch herbstliche Bierfeste unter freiem Himmel auf grünem Rasen überliefert
werden! So sitzt der Mensch zwischen den
Stühlen, ist da unzufrieden, wo er herkommt und zieht davon. Doch an dem Ort, an
dem er sich dann niederlässt, fehlt ihm die alte Heimat, und sie gewinnt in der
Erinnerung die Qualitäten des Himmelreiches.
Aber unsere Frau H. war eine Dame
mit Leistungsbereitschaft und Vorstellungskraft. Eines morgens fuhr sie, um ihr
Heimweh zu kontrollieren, im Alten Aufzug von 1913 auf den Turm des Neuen
Rathauses. Von der Aussichtsplattform aus ließ sie ihren Blick über das
Panorama schweifen wie ein Radarschirm auf der Suche nach leisen Bewegungen.
Wer scharf hinsieht, wird meistens fündig. So auch Frau H. – während sie
gedankenverloren einen Punkt anstarrte, den sie später nicht mehr benennen
konnte, erschien es ihr, als hinge an einem Seidenfaden eine begehrenswerte
bayerische Brezn vom Himmel herab. Sie riss ihre Augen auf und schaute ein
zweites Mal, voller Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer sinnlichen Wahrnehmung
und doch mit dem charakteristischen Geschmack des Laugengebäcks auf dem
Zungengrund. Ihr fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als sie an einer
anderen Stelle innerhalb ihres Blickfeldes eine zweite Brezn hängen sah. Ihr
Kopf rotierte hin und her, sie schaute und schaute, bis der ganze Himmel voller
Brezeln hing. Frau H. entfuhr ein fassungsloses: „Ah-!“ Einige US-Touristen in
aufreizend kurzen Hosen wandten sich ihr überrascht zu. Frau H. zeigte ins
Weite und stotterte: „Da – da – das ist ja wie im Puppentheater. Eine Brezn
neben der andern an Schnüren - vom Himmel. Da - schauens doch nach vorne –
da….“ Ein Mann verstand, was sie sagte und kriegte den Mund nicht mehr zu: „O
my God!“ rief er und rüttelte seine Landsleute an den Schultern. „Look at that
lunatic performance!“ Er klatschte sich auf die nackten Schenkel und brach in brüllendes
Gelächter aus. „Bavarian Pretzel is over the moon!“ Die ganze Gesellschaft schaukelte
sich in eine bizarre Stimmung hoch, riss einen Witz nach dem andern, zückte die
Kameras, die Luft schwirrte von „Marvellous“-Rufen und “Me and the wonder of
the Pretzels - take a picture!” und explodierte in immer neuen Lachsalven. Schließlich
wurde Frau H. an den Rand der Aussichtsplattform gestellt und von zehn Fotoapparaten
vor dem Hannoveraner Brezelhimmel festgehalten – eine Deutsche allein unter
Brezeln. Frau H. wusste nicht, wie ihr geschah. Die Marionettenbrezeln, das
Blitzlichtgewitter, die Amerikaner - sie glaubte, verrückt geworden zu sein.
Während die Touristen noch filmten und alberten, schlich sie sich davon, fuhr
im Aufzug nach unten und begab sich schnurstracks ins psychiatrische
Krankenhaus in die Notfallambulanz. Den ganzen Weg lang raschelten die Brezeln
hoch über ihr und wiegten sich leise in den Luftbewegungen. Es war eine eigene,
seltsam trockene Musik, ein Brezelwindspiel, immer wieder fielen Salzkörner
herab und streichelten Frau H.s Gesicht.
Als die verstörte Münchnerin sich
an der Pforte des Hospitals einfand, stand dort schon eine Schlange
aufgeriebener Menschen. Sie alle sahen Brezeln und zweifelten an ihrem Verstand.
Der Pförtner ging draußen vor dem Gebäude auf und ab, den Kopf im Nacken und blickte
in den Himmel. „Alles voller Breeezeln“, sagte er ein ums andere Mal und
betonte dabei ganz übermäßig das e. Frau H. korrigierte ihn: „Das e musst kurz
sagen, es heißt „Brezn“ oder „Brezel““. Er winkte ab und zeigte in die
Auffahrt: dort hatte sich ein Wagen des Norddeutschen Rundfunks eingefunden und
filmte bereits die Vorgänge am Himmel und auf Erden. Ein Arzt mit Glatze und
weißem Kittel forderte die Menschen auf, nach Hause zu gehen. Es sei alles
okay, keiner müsse um seine Gesundheit fürchten. Frau H. bestand darauf,
Urheberin des Brezelwunders zu sein und rührte sich nicht von der Stelle, bis
sie von einer süßen jungen Radio-Praktikantin befragt wurde. Das Interview kam
noch am selben Tag in voller Länge im dritten Programm und wurde weltweit in
jeder Nachrichtensendung erwähnt.
Liebe Leser, wir können uns
ausmalen, wie es weiterging, denn vor allem anderen geht es ums Geld: Hannover
wurde Anziehungspunkt für Suchende aus aller Welt. Schamanisten, Altachtundsechziger,
Transsexuelle, Orakel, Yogis, Comic-Fans, Mittelalterdarsteller und
Bierliebhaber fielen in Horden ein. Alle wollten den Himmel voller Brezeln
hängen sehen. Aber die Gunst der Brezelstunde hatte noch am selben Abend ihr
Ende gefunden und es erschien keine Brezel mehr am Himmel. Es versteht sich von
selbst, dass sich in Hannover seither die Bäckereien überschlagen, echte
bayerische oder badische oder schwäbische Brezeln anzubieten. Hannover ohne
Brezeln – das kann sich heute niemand mehr vorstellen. Die Brezel – ein Symbol
von unabsehbarer Tragweite. Inzwischen wird sogar einmal jährlich eine
Brezelkönigin gewählt. Es gibt ein Wettbrezeln auf der Leine, mit den
holzgeschnitzten Brezellarven ist die alemannische Fasnet im Norden eingezogen
und unter dem Unendlichkeitssymbol der Brezel findet alle zwei Jahre ein
internationaler Esoteriker-Kongress statt. Eine Seherin aus der Region hat das
nächste Datum für eine Brezelerscheinung in Hannover vorausgesagt: in 173
Jahren auf den Tag genau am 4. April. In Bayern konnte ein
Volkskundler nachweisen, dass schon der Mühlhiasl das Wunder angedeutet hatte.
Irgendwann tauchte in den USA eine neue Psychotechnik auf – das „Pretzelling“,
das einen Siegenszug in der westlichen Welt angetreten hat, der seinesgleichen
sucht.
Und Frau H.? Sie wurde „abständig“,
wie Heidegger gesagt hätte. Sie wollte nicht aufgehen in der anonymen,
allgemeinen Brezelei, vor allem nicht in Hannover. Sie packte ihre Sachen und
zog zurück nach München. Dort hängen die Brezn einfach achtlos überall herum.
Man backt sie, kauft sie, isst sie und vergisst sie.
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