Samstag, 30. November 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Die blaue Kuppel

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Die blaue Kuppel

Gegen fünf Uhr ging ich noch kurz einkaufen. Fuhr mit dem Fahrrad durch den Wald hinaus in eisklare Luft. Spürte, wie sie mich mit jedem Atemzug durchfloss.
Im Supermarkt empfing mich Einkaufkonzentration. Familien, die Grünzeug, Kerzen und Kinderpunsch kauften. Ein Geschäftsmann, der auf der Suche nach Diabetikerschokolade war. Fremde Männer aus Osteuropa, die an jedem Arm einen Bierkasten in ihr Wohnheim um die Ecke trugen. Und solche wie ich, die einfach noch Saft, Eier, Sonntagsfleisch, Wintergemüse, Trockenfrüchte, Klopapier, Milchprodukte, Waschpulver und Katzenfutter für die nächsten Tage brauchten.
Mit meinem voll beladenen Bundeswehr-Gebirgsjägerrucksack kam ich wieder aus dem Laden.
Die Eisenbahngleise von Karlsruhe nach Pforzheim, Bretten und Stuttgart können an dieser Stelle nur über eine große Fußgängerbrücke überquert werden. Ich schob mein Fahrrad in den Aufzug und fuhr aufwärts. Empor ...
… ich sah ich mich entrückt in einen blauen Dom:

Es ist eine Bläue, die keinen Namen hat. Es ist die marianische Bläue, die man nach dem Konzil von Trient als liturgische Farbe verboten hat. Wen ich auch gefragt hatte — niemand konnte mir je schlüssig erklären, warum Rom diese Farbe vor 500 Jahren tabuisiert hat.
Ich drehte mich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse: Im Südosten stand die Mondsichel im noch lichten, bereits meerdunkel schimmernden Himmel, der sich nach Süden mit silbrigen Schaumkronen zierte. Im Westen glänzte es rosighellblau, nur manche Hortensienblüte kommt dem nah. Der himmlische Blumengruß sank nach Norden jäh in ein tiefes Samtblau hinab, das sich im Osten in das Urbild aller smaragdfarbenen Gebirgsseen verwandelte. Hoch oben in der Kuppel funkelten immer mehr der goldenen Sterne, die in unseren Abendliedern besungen werden. Lebendige Lichtreflexe, manche rotgolden, manche grüngolden, manche gelbgolden und manche fast silbern, dem Glitzern des Lichtes auf Schneeflächen vergleichbar.

Unterhalb dieser Zauberwelt schnitten Oberleitungen durch die Luft, eine Drohne stand am Himmel über der Autobahn. Auf dem Berg im Norden rotieren die Säbelblätter eines gigantischen Windrades, mit 148 m Höhe knapp niedriger als der höchste Kirchturm Europas, das Ulmer Münster mit 161 m, die Rotorspitzen senden rote Warnsignale aus. Die mittelalterliche Kirche hier am Hang des Turmberges, 48 m hoch, lag in orangewarmer Illumination, ein goldener Hahn krönt die Turmspitze. Sonst überall kaltes, stechendes Licht der LED-Beleuchtungen. Eine Dame ging Gassi, ihr Liebling trug ein grasgrünes Sneakerbug Hundeleuchthalsband.

Im letzten Moment hatte ich mich doch dazu entschieden, einen Adventskalender zu kaufen. Im Wald zurück, freut mich der Nachtmantel, der mich einhüllt. Ich kenne blind den Weg. Ich schiebe das Fahrrad und lege den Kopf in den Nacken. Zahllose Flugobjekte ahmen die Sterne nach — erfolglos, dem geübten Auge erfolglos.

30.11.2019 (Am Spätnachmittag unterwegs in Grötzingen)


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30.11.2019: Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Kolorierter Holzschnitt

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Kolorierter Holzschnitt

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche 

Kolorierter Holzschnitt

Nachdem nun in der vergangenen Woche unter Sturm, Regen und tief hängendem Wolkengrau die letzten Blätter verwirbelt wurden, bleiben die kahlen Äste zurück, schwarzgrau.
Der große Auftritt der Efeuranken und Misteln beginnt, saftig weihnachtsgrün.
Am Wegrand rote Weißdornfrüchte und Hagebutten an blattleeren Zweigen.
Die Welt ist entlaubt, die Dinge treten nackt zutage, bestätigt von der Sonne und einem freien Himmel. Heute ist der letzte Novembertag. Die Natur ein Holzschnitt. Zart koloriert. Poliert durch die Feuchtigkeit.
Die Wochen vor der Wintersonnwende durchlöchern den Spiegel.
Ich denke: Entleerung. Rekonvaleszenz der Farben …
Die Verwandlung naht.

30.11.2019 (zu Hause)


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27.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Schuhwerk, Urbane Schönheit und der Wahnland-Code

Mittwoch, 27. November 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Schuhwerk, urbane Schönheit und der Wahnland-Code

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Schuhwerk, urbane Schönheit und der Wahnland-Code

In der Mondlandschaft Karlsruhes, seit zehn Jahren in gigantischem Umbau, überall aufgerissene Krater, babylonische Baumaschinen, — es geht um das ehrgeizige Projekt einer Untergrundbahn von ungefähr dreieinhalb Kilometern für eine Stadt mit weniger als 300 000 Einwohnern — , Lärm, Beton, Stahlträger, seit neuestem hunderte öffentlicher Miet-E-Scooter im Stadtbild, sah ich eine Frau in mittlerem Alter spazieren. Ihr leuchtend roter Mantel war aus weichem, exquisiten Wollstoff, der Schnitt schlicht und elegant. Drunter trug sie eine cremeweiße Siebenachtelhose aus ebenso sichtlich exquisitem Wollstoff. Um die Brust eine Gurttasche mit handgewebtem Trageband in Rottönen. Alles erlesen und lässig getragen. Dazu feine, bequeme Stiefelchen. Der Kopf dominiert von extrem glatt und hellblond aufbereiteten, halblangen Haaren. Eine geradezu feudale Erscheinung.
Ich renkte mir den Hals nach ihr aus.

Am Morgen hatte ich eine kleine Axt gekauft. Zum Holzspalten. Meine Füße lieben den unebenen Waldboden. Die Haut in Regen und Wind, am Haar zerrt der Fauch: „Kleidung muss was aushalten“, ein Schutz sein, Dienerin ihres Trägers, Vermittlerin zur Wildnis. Das Stehen und Gehen in den kalten Monaten braucht Schuhwerk.
Würde die Dame im roten Mantel im Wald überleben, wenn die urbane Kunstwelt zu Staub zerfallen wäre? Nach wenigen Stunden in der Natur wäre die extravagante Montur am Ende, das Gehen in den Stiefelchen unmöglich, die Frisur aufgelöst, eine hässliche Ruine. Würde sie wissen, wie man ein Feuer macht oder Bucheckern öffnet? Kann man mit Fug und Recht von Schönheit sprechen, wenn der Mensch verstümmelt und in der wirklichen Natur überlebensunfähig gemacht wird?
Oder anders gefragt: Eine anfällige Extravaganz, die ohne künstliche Weltblase sofort unterginge — gibt es eine Schönheit des Instabilen und Überblähten? Eine Schönheit, die man nicht nur am (künstlich geschulten) „Auge des Betrachters“ misst?

Diese künstlichen Formungen, die Welten, die Moloche unserer Tage mit ihren technologischen Sensationen und Bequemlichkeiten, der bald stündlich üppigeren Codierung eines zugleich immer stärker verarmten Weltkonstruktes, generieren Lebensformen, die sui generis in der freien Natur nicht lebensfähig sind. Der urbane Mensch ist ein Monstrum der Robotik. Ein Grottenolm. Intelligenter Diskurs von Angesicht zu Angesicht wird ihm unmöglicher mit jeder neuen Generation von Smartphones, die auf den Markt geworfen wird. Obwohl er den ganzen Tag geradezu überladen wird mit Zeichen und selbst pausenlos Signale sendet, ist er sprachlos geworden.

Die Digitalisierung der Welt führt in eine Verstümmelung des Menschlichen, wie wir sie nie erlebt haben und funktioniert wesentlich binär (eine Aufstockung zum Ternären ist von wirklicher Vielfalt genauso weit entfernt): schwarz oder weiß, alles Bunte wird auf schwarz oder weiß umgerechnet, und dies nur unter enormer Eroberung von „Lebensraum“. Was man bis dato in einem prägnanten, schlanken Begriff sagen konnte, bedarf heute eines riesigen Areals an chiffrierten Daten. Analog dazu zerfließen immer mehr Zeitgenossen in übergewichtige, megafette Gestalten, wie ich sie noch in meiner Kindheit mir nicht hätte vorstellen können.
Man weicht zurück vor den knappen, aber markigen Sätzen älterer Zeiten, dem verbogenen Heutigen wirken sie wie „Beleidigungen“. In der reduzierten digitalen Schwarzweißwelt gerät man schnell unter Verdacht. Der gehetzte Zeitgenosse unterschreibt seine Emails seit einiger Zeit, mit dem Rücken immer zur Wand, gleich, um was es geht, mit der Schlussformel „liebe Grüße“. Wie ein Kind, das den Alten beteuert, dass es brav ist und bereit zur Unterordnung. Dass dabei gelegentlich die unverschämtesten Inhalte mit „lieben Grüßen“ abgerundet werden, treibt die Absurdität auf die Spitze.
Fehlt nur noch, dass die Wildnis nach Maßgabe von QR-Codes angelegt wird: Irrgärten zur Co2-Reduktion. Es wäre ein neuer Marktsektor, die Wildnis abzuschaffen und die gesamte Welt in einen Bausatz zu verwandeln, im Design und "under construction" von staatlich geprüften Naturexperten. Sind wir nicht großartig, wir Menschen, und so innovativ? La nature, c'est nous! Eins und null - das genügt. Und überhaupt - nach Orwells Neusprech von wegen "Krieg ist Frieden", "Freiheit ist Sklaverei", "Unwissenheit ist Stärke" ist die zeitgenössische Rede von der "Natur" (bzw "Umwelt" oder gar "Klima") durchaus mit Vorsicht zu genießen: "Das Hässliche ist Schönheit." Und "Wahnland ist Natur."

Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass die leuchtend rote Dame kein erhobenes Haupt hatte. Sie ging mit gesenktem Sklavennacken, in ihr teures Smartphone starrend, und scheiterte an der Überquerung einer Straße. 

27.11.2019 (In Karlsruhe)

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Dienstag, 26. November 2019

Neuerscheinung im Zeitschnur Verlag: Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin

Neuerscheinung im Zeitschnur Verlag: Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin


Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin
Erzählung

mit zwei Zeichnungen von Hanna Jüngling
132 Seiten
Format 20,5 x 13,5 cm
Gewicht 180g
ISBN 978-3-940764-23-2
Ladenpreis 12,00 €
Im Buchhandel oder auf Booklooker


Ideal als Weihnachtsgeschenk ...







Rezension:

Irmentraud Kiefer beschreibt in ihrem Vorwort zu "Die Amme der Königin", einer Erzählung, die soeben erscheinen ist, wie sie durch das rätselhafte Verschwinden der Pharaonin Kleopatra V. Tryphaina um das Jahr 69 vor Christus und die merkwürdig widersprüchliche Quellenlage über diese Frau dazu angeregt wurde, sich eine Fortsetzung des abgebrochenen Lebenslaufes auszudenken.

Diese Geschichte, die so schlicht und freundlich erzählt wird, hat es nun allerdings gewaltig in sich. 

Kleopatra V. Trypaina war die Mutter der bekannten "großen" Kleopatra. Nach altägyptischer, kultischer, von den Ptolemäern übernommener Sitte wurde sie mit ihrem Bruder in einer Geschwisterehe verheiratet, die beide unter enorme Zwänge bringt, denen sie auf jeweils eigene Weise zu entkommen suchen. 
Wir erfahren die Geschichte einer Frau, die vermutlich verstoßen wurde oder sich verstoßen ließ, um sich aus den alptraumhaften Bedingungen am ägyptischen Hof zu befreien zu einem normalen, glücklichen, aber auch selbstbestimmten Leben. Was am höfischen Leben der Ptolemäer in zentralen Merkmalen eigentümlich "modern" wirkt, wird in seinen bedrückenden Konsequenzen blitzlichtartig und scharf skizziert. Zugleich mit dem persönlichen Schicksal dieser Frau scheint die Endphase und der Niedergang des politischen Ptolemäerreiches und der Eigenständigkeit Ägyptens auf.

Eine feine Erzählung mit gutem Ausgang für die Heldin, einem steinigen Weg dahin und einer Nachwirkung, mit der der Leser im ersten Moment niemals rechnen würde.

Bibliophile Gestaltung, typisch für den Zeitschnur Verlag, schönes Munken-Werkdruckpapier und Fadenheftung. 

Hanna Jüngling, 26.11.2019

Sonntag, 24. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Räume. Flächen. Strecken.

Wir bewegen uns physisch in drei Dimensionen. Zumindest erscheint es uns allgemein empirisch so. Der Raum ist eine besondere Form der Konzentration in die Tiefe. Wollte man alle Punkte in einem Raum auf einer Fläche anordnen, nähme sie an Oberflächenausbreitung enorm zu, hätte aber keine Tiefe? Erst recht auf einer Strecke untergebracht wäre diese Punkte-Strecke erheblich länger als die jeweiligen Raum- oder Flächenseitenmaße? Ein Rauminhalt umgerechnet in einen Flächeninhalt?
Ich stelle mir vor, ich gieße einen Liter Wasser aus einem Würfel, der genau diesen Liter enthalten kann, auf eine Ebene: die Ebene hätte erheblich längere Einzelkoordinaten als das Würfelmaß. Aber das Wasser verlöre seine spezifische Konsistenz auf der Ebene in dem Moment, in dem die Höhe h = 0 und damit eine Fläche erreicht wäre, wäre nur noch eine Ahnung, ein theoretischer „Abdruck“ des Wassers.
Oder: Ein großer, aber überschaubarer Tanker auf hoher See leckt und gibt das Öl frei, das fortan als riesiger, unüberschaubarer Teppich auf der Meeroberfläche schwimmt. Auch dieser Teppich, aller, auch der flachsten Räumlichkeit, die auch ein Teppich hat, beraubt, wäre kein Öl im strengen Sinn mehr.
Die Anzahl der Punkte in Räumen und Flächen ist ohnehin unendlich und darum gleich.
Der Übergang von einer in die andere Dimension ist eine Illusion.
Etwa so, wie es illusionär wäre, wenn in der alten Elementvorstellung etwas „nur“ im Feuer oder „nur“ im Wasser oder „nur“ in der Luft existierend vorgestellt wäre.
Alles befindet sich in jedem Element, auch in jeder Dimension, und eine momentane Standortbestimmung trifft immer nur als eine der unendlich vielen Möglichkeiten zu.
Natürlich bietet dies breiten Raum für Spekulationen. Für Alchemie. Esoterik und allerlei naturphilosophische Lehren.
Mein Interesse an den vorhandenen tradierten Spekulationen war stets mäßig.
Die Überzeugung aber, dass der Transformationsmöglichkeiten, um es einmal so modisch zu sagen, unendliche viele sind, ist auch in mir:
Wie anders sollten die Visionen der Propheten verständlich sein, in denen Gott aus einem Feld von Knochen, aus der Erde und dem Meer die Toten zurückruft und wieder sammelt in ihre Gestalt, ganz zu schweigen davon, dass er in der Auferweckung Jesu aus dessen irdischer Gestalt eine himmlische schuf und Paulus davon spricht, es würden nicht alle entschlafen, sondern, wenn der Herr käme, in einem Nu verwandelt werden?
Es ist aus diesem Grunde auch äußerst töricht, wenn wir es für lächerlich halten, dass Maria Jungfrau war und doch einen Sohn gebären konnte, weil die Kraft des Allerhöchsten über sie kam und aus ihrer Gestalt die Gestalt des Christus holte. Es ist mehr als töricht.
In einem gewissen Sinn hat sich das Denken unserer Tage aus der Tiefe in eine totale Verflachung ergossen, so sehr, dass es nicht mehr als echtes menschliches Denken bezeichnet werden sollte. Es ist, wie unser Liter Wasser oben, ohne Tiefenkoordinate seiner selbst beraubt und nur noch ein Abdruck verlorenen Denkens.

24. November 2019 (Sonntagabend, am Ofen)


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Donnerstag, 21. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Morgendämmerung, später November

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Morgendämmerung, später November

Der Blick vom Berg aus landet weich im Nebel. Äste fließen aus. Die beiden Flutlichter im Landwirtschaftlichen Versuchszentrum sind kalt leuchtende Wattekerne, irrlichternde Ahnungen von Ferne. Warum empfinden wir diese widerstandslose, kantenfreie Weichheit als unheimlich?

Wenn ich es nicht wüsste, dass es ein ‚Da unten’ gibt, die Rheinebene mit ihren Städten, der ‚Hardt’, dem breiten Fluss mit seinen langen, flachen Frachtschiffen und die Kette der Berge gegenüber, sechzig Kilometer entfernt …
Wenn ich es nicht wüsste, wäre der Nebel mir unsichtbar. Ich wäre im Nebel, ohne zu erkennen, dass da Nebel ist. Hätte ich niemals klare Luft erlebt, wäre der Nebel ein Element, in dem ich mich selbstverständlich und ohne Kenntnis bewegte. Oder sagen wir es schärfer: Ich würde den Nebel wahrnehmen, aber nicht wissen, dass ich ihn wahrnehme.
Die Folgen wären immens. Man sieht nicht nur anders und weniger. Man hört auch weniger. Gerüche würden sich schwerer zu mir hinbewegen, aber sie verflögen auch langsamer. Unter ‚Weitblick’ verstünden wir eine Spanne von wenigen Metern. Unser ganzes Denken würde sich verlagern.
Eine großartige Nebelkosmologie könnte der Naturwissenschaftler sich ausdenken, Mess- und Beobachtungsgeräte würden nebulöse Theorie bestätigen. Und wer weiß, was er, im Nebel tappend, als gäbe es keine Welt ohne Nebel, behaupten würde. Seiner Fantasie wären kaum Grenzen gesetzt. Und prüfen könnte es niemand. Dem Skeptiker, dem Ahnungsvollen, dass da mehr ist, könnte man immer entgegenhalten, dass er doch erst einmal sagen solle, wie es denn dann anders sein könnte als so, wie man es sieht. Und er müsste passen oder aber sehr komplizierte Gedanken anstrengen, denen wiederum viele nicht folgen könnten, verweichlicht durch die konturlose Nebelwelt.
Allein: Auch in einer Nebelwelt tauchen immer wieder Gestalten auf, die uns an ein „Dahinter“ gemahnen. Solange sie dezent bleiben, lassen sie sich verdrängen.
Die Alten mit ihrer Vorstellung vom Äther, diesem unsichtbaren Element, das doch alles zusammenhält, waren vielleicht näher an der Wahrheit als die materialistische Wissenschaft, eine bis an die Zähne bewaffnete Trutzburg verbissener Theorien wider die kommende Erkenntnis und Wahrheit.

Aber der Morgen steigt unaufhaltsam herauf, das Licht jenseits des Nebels zieht in einer feinen Erhabenheit ein in unser dämmriges Nebelreich, wie ein König, dessen Kommen Erlösung bedeutet. Das kosmische Licht, nicht das Flutlicht im Versuchszentrum, löst diese unüberwindliche Schicht auf, die Dinge werden klar und scharf. Fast lautlos trat es heran, mit ‚Macht und Herrlichkeit’, aber was sage ich: Macht ohne Macht, mit graziöser Liebe und Hingabe und der Würde seiner Erhabenheit, die nicht herrscht und den Nebelgläubigen weder zwingt noch treibt, sondern Angebote unterbreitet, die abzulehnen töricht, aber dennoch verbreitet ist.

Wer auf der Nebelwelt besteht, darf zurückbleiben, nackt und bloß, benebelt nun ohne Nebel, ein unvorstellbarer Zustand, aber es gibt ihn — auf eigenen Wunsch dessen, der sich in der Versuchung häuslich eingerichtet hat, gebannt und erstarrt im festgekrallten Augenblick der weichen Täuschung.

21. November 2019 (Zu Hause)


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Montag, 18. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Mistelbaum

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche

Mistelbaum

Ein Windfauch und die Luft knistert von Blättern. Der Uferweg an der Pfinz erhält einen gelbroten Teppich. Ich radle langsam. Die Wolken hängen mir ins Gesicht. Eselsgrau.

Ein Windfauch, wieder. Die Blätter treibts aufwärts. Ein Heer von Regentropfen reibt sie auf. Eine Himmelsfront. Unten Efeu flaschengrün, die Weidenkronen schüttelts, Birken spenden Taler. Grünspan. Irgendwo formt sich ein Krummeck Himmelsblau.

Ein Windfauch, einer gebiert den andern. Ich schau nach oben. Im kahlen Weidengeäst erscheinen sie, so viele Mistelbälle, der Blattfall gibt sie frei. Vergessen der Weg, der Mythenzauber hat mich im Bann. Mein Fahrrad schlingert in den Graben, zu Ende die Luftfahrt. 

Ich stürzte nicht: Ein Engel fing mich auf.
  

18.11.2019 (Am Uferweg zwischen Berghausen und Söllingen)


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Sonntag, 17. November 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Blinde sehend

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

„Blinde sehend“

Buchenstämme
Elefantenfüße
Grau grün steinblau
Feuchtigkeitsadern auf der Rinde
Leuchtend gelbe Blätter drumherum
Rieseln und knistern
In den Wipfeln Nebelregen
Regennebel
Nebelregen
Herbstgischt
Dazu der Ofenrauch
Wir sehen, was unsere Augen zulassen
In einem blinden Spiegel


17.11.2019 (Zu Hause)


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16.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Einleitungsworte

Samstag, 16. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

„Ich bin in der Natur geboren.“ (Hans Arp)


Die Natur ist in aller Munde, jeder scheint genau zu wissen, was sie ist und was nicht. Sie ist zum politischen und religiösen Kampfbegriff geworden. Schon lange und immer mehr.

Die einen deklarieren sie zur Gegenwelt gesellschaftlicher und ökonomischer Konstrukte, die unbedingt vor dem Menschen „geschützt“ werden müsste. Die Natur als eine der vielen diskriminierten Minderheiten, anhand derer man sich als „Helfer“ profilieren kann. Die Natur als Projektionsfläche für ein Friedensreich, von dem wir glauben, dass sein Bestehen ausschließlich von unserer Aktion abhängt.
Es gibt die „Anwälte“ dieser "Natur als Gegenwelt", aber sie verstehen nicht, dass sie selbst genau das tun, was sie den „anderen“, den „Bösen“ oder Gedankenlosen vorwerfen: sie stellen auch nur ein neues Konstrukt des Natürlichen und Guten her und bleiben den Beweis für ihre Meinungen stets schuldig. Wenn Gentechnik unnatürlich und falsch ist, warum ist dann etwa die heute als „Normalfall“ erklärte Geschlechtsumwandlung natürlich und gut? Warum ist Kernkraft oder das Verbrennen von Kohle und Öl schlecht, der destruktive Überzug der Landschaften mit hässlichen und für zahlreiche Vogel- und Insektenarten tödlichen Windräder gut, zu denen tonneschwere Betonsockel in den Boden verbaut werden müssen, die niemals mehr entfernbar sind? Warum ist es schlecht, wenn asiatische Tier- und Pflanzenarten einheimische allmählich verdrängen, aber gut, wenn bestehende menschliche Populationen möglichst so sehr vermischt werden, dass sie sich auflösen?

Die anderen sehen die Natur nicht als Hort des Guten, sondern als eine herzlose, feindselige Welt, in der alle mehr oder weniger gewaltsam ums Überleben ringen und dabei das Leben der anderen nicht schonen. Die gesamte Tierwelt lebt in einem enormen Stress, ist in ständiger Fluchtbereitschaft und der Angst gefressen zu werden, wenn sie nicht selbst frisst. Der Mensch ist nichts weiter als ein besonders raffiniertes Tier, das es noch schlimmer treibt als alle anderen. Das Recht hat der Stärkere, der „Sieger“. Er bestimmt, wie es weitergeht. Er schreibt die Geschichte. Warum aber lebt doch in uns allen eine tiefe Sehnsucht nach Harmonie, nach so etwas wie einer „Übernatur“? Warum glauben wir, unlogisch, dennoch, sie sei in der Natur, was oder wo immer sie ist, mehr vorhanden als beim Menschen, der auf diese Weise aus dem Natürlichen ausgegliedert wird? Warum ist in vielen die verborgene Überzeugung, dass es das Schwache ist, das am Ende den Durchbruch schaffen wird? Das eines Tages einfach seine bunten Blütenblätter öffnen und strahlen wird, nachdem all die anderen sich gegenseitig zerfressen haben werden? So wie diese Gräser, die ganze Teerdecken heben und schließlich durchbrechen? Asphaltbeläge, die irgendwann überwuchert werden von der Pflanzen- und Tierwelt, als hätte es sie nie gegeben, wenn man sie nicht ständig gewaltsam instand hält? Jeder, der ein klein wenig Erfahrung mit einem Leben in der Natur hat, weiß, dass die Natur sich restlos alles zurückholt, wenn man ihr nicht kleine Zugeständnisse abringt.

Warum fürchten wir, der Mensch könnte es je schaffen, die Natur unwiederbringlich zu zerstören, wo jeder Grashalm unter der Teerdecke uns darüber belehrt, dass es nicht so ist? Entspringt diese Furcht nicht einer Hybris, die mit der Teerdecke verwandt ist und den eigenen irrationalen Naturbegriff konterkariert? Und wird, wenn das so ist, nicht diese Hybris postmoderner Klimaaktivisten und Ökofanatiker folgerichtig eines Tages wieder von natürlichen Zusammenhängen zurechtgerückt werden?
Kann es sein, dass der Mensch zwar seine Verantwortung für die Natur veruntreuen kann, dass deswegen aber dennoch nicht die Natur stirbt, sondern unser … Geist?

Wir erleben eine bruchstückhafte und habgierig vereinnahmte Mischung aus beiden Sichtweisen: eine bestürzende Sentimentalität neben einem haarsträubenden Moralismus, der dem Bauch hinterhertreibt, in dem die Winde der Tagespropaganda und des medialen Trigger-Stundengebets die Segel blähen und in täglich neue Auswüchse der Begehrlichkeiten nach moralischer Überheblichkeit und zugleich Selbstzerstörung drängen? Der „Klima“-Hype ist ein perfektes Beispiel dafür: der Natur entfremdete Menschen hüpfen auf Kommando „gegen Kohle“, - nota bene: einen der zentralen und lebenswichtigen Baustoffe der Natur (nach allem, was wir derzeit wissen!) - haben Panik vor einem lebenswichtigen Spurengas (Co2), haben keine klare Vorstellung davon, was hier eigentlich natürlich wäre oder auch nicht, aber eines glauben sie gewiss: Sie glauben, es gäbe starre Naturgesetze und „Forscher“, die sie besser erkennen und deuten als alle jene, die ihnen widersprechen. Die Frage, warum sie das glauben, ob es überhaupt wahr ist, erübrigt sich, weil man ihnen gesagt hat, das erübrige sich. Wir erleben ein gespenstisches Revival ignatianischer-frommer Selbstverdummung und Autoritätshörigkeit bis in die letzten Fasern des Bewusstseins hinein. Wir erleben eine geradezu finster-säkulare Kirchlichkeit, die verlangt, dass wir das Schwarze für weiß halten, wenn die Autorität es uns zu glauben heißt. Nur staatlich geprüfte Indoktrinatoren wissen, was die wahre Wahrheit ist. Und wir hängen an ihren Lippen und fürchten uns, selbst zu denken, weil man uns den vollen Teller entziehen könnte und den seelischen Missbrauch, den wir mit Anerkennung verwechseln. Es ist unglaublich, wie sang- und klanglos so viele, auch akademisch verbildete Menschen, zurücksinken in den Zustand, der den Begriff der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ noch euphemistisch erscheinen lässt. Solange der Teller gefüllt ist und Alltagsdrogen sichergestellt sind einschließlich der Freiheit zum ewigen Sex, sind sie gerne Sklaven einer ganz sicher nicht natürlichen „öffentlichen Meinung“ und lernen aufgrund der neuen medialen Volksbildung all jene zu hassen, die noch selbst denken.

Viele haben aber auch die Nase voll von dieser antiaufklärerischen Apostasie, nicht alle lassen sich von der Geisteskrankheit anstecken, und verlassen die urbanen Räume und ziehen sich zurück in die wirkliche Natur. Als „Überleber“, als „Survivaltrainer“. Sie ahnen, dass wir vielleicht schneller in die Natur zurückgeworfen werden könnten, als die meisten Klimahüpfer es wahrhaben wollen. Sie trainieren das Überleben in der echten Natur — nicht der veganen Kitschwelt, in der der Messwert und der Grenzwert das oberste Gesetz sind.
Aber ist das wirklich eine Alternative?
Kann der Mensch überhaupt einfach so ganz natürlich und gut leben? Ist er nicht gezwungen, sich in ihr regelrecht zu behaupten? Ist sie denn diese Mammi, an deren Busen man sich nur zu legen braucht, und schon ist alles wieder gut?
Hier verschwimmen die Linien, die Gedanken, die Erfahrungen …

Ich werde daher der Frage danach, wo die Natur ist, in tagebuchartigen Aufzeichnungen nachgehen. Die Frage nach dem „Wo“ soll den utopischen Charakter unterstreichen, den sie aus meiner Sicht deswegen hat, weil auch sie, wie der Apostel Paulus schrieb (Röm 8,18), ihrer Erlösung harrt:

„18 Denn ich denke, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. 20 Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden - nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin, 21 dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt. 23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft; die Erlösung unseres Leibes.24 Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet worden. Eine Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung. Denn wer hofft, was er sieht?25 Wenn wir aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit Ausharren.

Die Tagebuch-Fragmente erfolgen in loser Folge auf diesem Blog.


Hanna Jüngling, 16. November 2019

Montag, 4. November 2019

Trinitätslehre auf dem Prüfstand: Brief XIII an Unitarier und Trinitarier — Maskil: Wessen Sohn ist der Christus?

Trinitätslehre auf dem Prüfstand: Brief XIII an Unitarier und Trinitarier — Maskil: Wessen Sohn ist der Christus?


41 Als aber die Pharisäer versammelt waren, fragte Jesus sie 42 und sagte: Was haltet ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist er? Sie sagen zu ihm: Davids. 43 Er spricht zu ihnen: Wie nennt David ihn denn im Geist Herr, indem er sagt: 44 "Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege unter deine Füße"? 45 Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist er sein Sohn? 46 Und niemand konnte ihm ein Wort antworten, noch wagte jemand von dem Tag an, ihn weiter zu befragen. (Mt 22)

Eine Frage nach dem Christus (Messias) im Neuen Testament
Kaum eine Stelle im Neuen Testament trifft mehr ins Herz der Auseinandersetzung zwischen Trinitariern und Unitariern.
Sie ist vor allem deswegen so brisant, weil sie uns keine leicht erkennbare, eindeutige Antwort gibt. Sie lässt die Frage nach dem Christus offen. Wie eine Art Rätselspruch lässt sie den Leser und ganz offenkundig auch den damaligen Hörer zurück mit einer Frage, über die er nachdenken soll. Wenn also mancher dem Nachdenklichen damit kommt, er dürfe oder solle darüber nicht nachdenken, man müsse nicht alles wissen, dann ist diese Stelle in den Evangelien eine deutliche Zurechtweisung solcher Stimmen, denn immerhin stellt diese Frage hier der Herr selbst. Es ist NICHT die Frage hochmütiger Gelehrter, sondern etwas, was Jesus selbst den Menschen mit auf den Weg gibt. Denken wir also darüber nach!
Wie wichtig das Nachdenken über diese Frage sein dürfte, offenbart ein Satz aus dem sogenannten „hochpriesterlichen Gebet“ Jesu kurz vor seiner Hinrichtung:
„1 Dies redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche,2 wie du ihm Vollmacht gegeben hast über alles Fleisch, dass er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben gebe!3 Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. (Joh 17)
Wenn das ewige Leben davon abhängt, dass wir erkennen, wer Vater und Sohn sind, dann darf niemand uns ein schlechtes Gewissen einjagen, wenn wir alles dran setzen, diese Frage immer wieder „in unseren Herzen bewegen“, wie es einst Maria tat, denn auch über sie wird immer wieder gesagt, sie habe dies getan, wenn es um die Frage danach ging, wer eigentlich ihr Sohn in Wahrheit ist!
Wie die damaligen Pharisäer empfinden wir, dass wir vor ein Rätsel gestellt werden, das niemand so leicht zu lösen vermag, das sich nicht über eine philosophische Spekulation erschließt, aber doch mit den inneren Augen erkannt werden kann, das uns aber vor die äußeren Augen hält, dass Jesus als Mensch etwas ist, das wir in äußerer Gedanklichkeit nicht erreichen können, obwohl doch auch wir Menschen sind. Wir spüren, dass die Frage nach seinem Menschsein mit uns viel mehr zu tun hat, als wir es spontan ertragen oder verstehen können.
Nach den Schriften der Israeliten wird der Messias der Sohn Davids sein, also ein konkreter Nachfahre König Davids. Konkret nach der Blutlinie, konkret nach jüdischem Verständnis aber auch der „Art“ nach, dem „Geist“ nach. Das Geschlecht Davids meint viel mehr als die Nachkommen seines physischen Samens, denn die werden uns schon im AT weitgehend als Abtrünnige gezeichnet. Es muss also um mehr gehen. Von David heißt es, er sei ein „Mann nach dem Herzen Gottes“ gewesen (1. Sam 13,14; Apg 13,22). Der Christus wird ihm darin entsprechen. Die leiblichen Nachkommen, ja sogar die geistigen Nachkommen Davids aber entsprechen ihm darin in aller Regel nicht. Nur wenige Ausnahmen führen am Ende zu der leiblichen Davidstochter Maria, die Jesu wirkliche Mutter war und ihn insofern auch zu einem wirklichen, leiblichen Nachkommen Davids qualifizierte, — abgesehen von der geistigen Prägung, die sie ihm gab — , und dem Davidssohn Josef, dem Ziehvater Jesu, der — ohne dem Samen nach sein Vater zu sein — geistig doch ganz und gar ein Sohn Davids war und insofern dem Jesuskind ein wahrer davidischer Vater sein konnte.

Maskil — Zum Unterschied von Weissagung (N’vuah) und verselbständigter Weisheit (Chochma)
Der zentrale Hinweis auf diese Qualität Davids als „Mann nach dem Herzen Gottes“ und des Bundes Gottes mit ihm erzählt Psalm 89. Dieser Psalm ist ein „maskil“, wie es zu Anfang heißt. Buber nennt dies „Eingebungsweise“ und deutet damit, subtil und feinsinnig den prophetischen Charakter an (s.u.). Im biblischen Kontext ist ein „maskil“ ein Lehrgedicht. Später wurde im Judentum aus dem „maskil“ ein Gelehrter, ein Verständiger, ein Philosoph, einer der weniger das Sagenhafte als das Logische und Erkennbare ins Licht hebt.[1] „Maskil“ kommt vom Wortstamm „s-ch-l“ und dort der Hifil-Form „hiskil“: zu deutsch bedeutet dies „Einsicht haben“, „verständnisvoll/verständig sein“. „Sechel“ ist der menschliche Verstand.[2]
Wir werden sehen, welche geistige Haarlinie sich in diesem Begriff des „maskil“ ausdrückt:
Ein „maskil“ also, eine Herausforderung unserer Erkenntnis und unseres Nachdenkens, gibt uns in Psalm 89 der Dichter Eitan, „Eitan, der Esrachiter“, der im Ersten Buch der Könige als einer der weisesten Männer benannt wird, dem nur König Salomo überlegen ist (1. Kön 5,11). Der „maskil“ hängt folglich mit der „chochma“, der Weisheit, zusammen. Was ist echte, lebendige Weisheit ist in diesem biblischen Zusammenhang? Sie ist nicht Geheimwissen oder Arkanlehre, sondern die Einsicht, die dem Menschen allgemein möglich ist, zu der jeder herausgefordert werden soll, der den Psalm liest. Die Einsicht stellt sich aber auf eine prophetische Weise ein, keine „logische“.
Doch was „lehrt“ uns dieser Psalm 89 oder besser: was „lehrt“ er mich?
Es ist ein eigentümlicher Text. Er beginnt mit dem Lobpreis der Treue Gottes zu dem Bund, den er mit David geschlossen hat. David ist bereits eine messianische (gesalbte) Gestalt. Menschen, mit denen Gott zuvor einen Bund schloss (Noach, Abraham, Mose etc.) erhielten zwar Berufung und Verheißung, aber keine Salbung. Die Salbung hat prophetischen und königlichen Charakter. Sie erfolgt mittels eines Salböls und/oder des Geistes Gottes.
Gepriesen wird nun die Größe Gottes, die unvergleichlich ist, unvergleichlich mit allem, was im „Luftraum“ („schachak“) ist, in dem die „bnei elim“ sind, die „Göttersöhne“, oder „Gottessöhne“, wie oft auch übersetzt wird. Gott begrenzt den Hochmut des Meeres, er hat das (mythische) Chaos-Ungetüm Rahav, das im Meer haust und ein Verwirrer, Bedränger und Durcheinanderbringer ist, durchbohrt. Rahav wird gelegentlich mit Ägypten identifiziert, aus dem Gott die Hebräer herausgeführt hat (Ps 87).
Dann zitiert Eitan die Visionen seiner Vorfahren:
„Hilfe (bzw eine Krone) habe ich auf einen Helden gelegt, ich habe einen Auserwählten erhöht aus dem Volk. 21 Ich habe David gefunden, meinen Knecht. Mit meinem heiligen Öl habe ich ihn gesalbt. 22 Meine Hand soll beständig mit ihm sein, und mein Arm soll ihn stärken. 23 Kein Feind soll ihn bedrängen und kein Sohn der Ungerechtigkeit ihn bedrücken. 24 Ich will seine Bedränger vor ihm zerschmettern. Die ihn hassen, will ich niederstoßen. 25 Meine Treue und meine Gnade sollen mit ihm sein, und durch meinen Namen soll sein Horn erhöht werden. 26 Ich will seine Hand auf das Meer legen, und seine Rechte auf die Ströme. 27 Er wird mich anrufen: Mein Vater bist du, mein Gott und der Fels meines Heils! 28 So will auch ich ihn zum Erstgeborenen machen, zum Höchsten unter den Königen der Erde. 29 Ewig will ich ihm meine Gnade bewahren, und mein Bund soll ihm festbleiben. 30 Und ich will seine Nachkommen einsetzen für immer und seinen Thron wie die Tage des Himmels.“ 
Hier fällt auf, dass diesem Davidssohn, dem „gibor“, dem „Helden“, begabt mit Kraft bis an die Grenzen des Menschlichen, der da kommen soll, etwas von der zuvor beschriebenen Macht Gottes gegeben wird: Wie Gott wird er das Meer beherrschen können. Aber es ist Gott, der seine Hand nimmt und auf das Meer legen wird. Die Stelle beschreibt keine göttliche Gestalt, die dies aus sich heraus vermag, sondern von Gott selbst dazu autorisiert und erhöht wird. Diese Erhöhung greift Jesus selbst immer wieder auf und bezieht sich auf sie (s.u.).
Und der gesalbte „gibor“ wird Gott als „awi“, als „mein Vater“ anrufen — im Alten Testament eine absolute Seltenheit. Von niemandem wird das berichtet, nicht von Adam und Eva, noch von Noach oder Abraham, noch Sara oder Jakob, auch nicht von Aaron, Mose oder Miriam. Diese Anrede ist außergewöhnlich.
Weder ein Feind noch der „ben avla“, der „Sohn der Deformation/Sünde“ darf ihn überwältigen; dieser Begriff kehrt im NT als „filius perditionis“ wieder und meint einmal den Verräter Judas, das andere Mal den Antichristen.
Nun folgt eine Klage darüber, dass Gott seinem „maschiach“, seinem Gesalbten, zürnt. Die Konfrontation könnte kaum eindringlicher beschrieben werden:
„40 Preisgegeben hast du den Bund mit deinem Knecht, hast zu Boden geworfen und entweiht seine Krone. 41 Du hast niedergerissen all seine Mauern, hast seine Burgen in Trümmer gelegt. 42 Es haben ihn alle ausgeplündert, die des Weges vorübergehen. Er ist zum Hohn geworden seinen Nachbarn. 43 Du hast erhöht die Rechte seiner Bedränger, hast erfreut alle seine Feinde. 44 Auch hast du zurückweichen lassen die Schärfe seines Schwertes und hast ihn nicht bestehen lassen im Kampf. 45 Du hast aufhören lassen seinen Glanz und zur Erde gestürzt seinen Thron. 46 Du hast verkürzt die Tage seiner Jugend, mit Schmach hast du ihn bedeckt. //“
Wie ist das möglich? Wie kann das sein? Gott hat doch einen Bund geschlossen?
Eitan hat zuvor schon eine Antwort aus der alten Vision gegeben:
„31 Wenn seine Söhne mein Gesetz verlassen und nicht wandeln in meinen Rechtsbestimmungen,32 wenn sie meine Ordnungen entweihen und meine Gebote nicht halten,33 so werde ich ihr Vergehen mit der Rute und ihre Ungerechtigkeit mit Schlägen heimsuchen. 34 Aber meine Gnade werde ich nicht von ihm weichen lassen und nicht verleugnen meine Treue. 35 Ich werde meinen Bund nicht entweihen und nicht ändern, was hervorgegangen ist aus meinen Lippen. 36 Einmal habe ich geschworen bei meiner Heiligkeit - wie könnte ich David täuschen!“
Es gibt David und die Mitte seiner Söhne. Sie haben den Bund gebrochen, und sie spüren die Folgen, aber Gott hat den Bund nicht gebrochen.
All diese Ungereimtheit, die wir erleben, hängt damit zusammen, dass Gott seinem Bund treu ist, aber wir nicht. Genau diese Ungereimtheit und Schmach liegt auf dem „maschiach“, dem „Gesalbten Gottes“, dem Sohn Davids. Er oszilliert zwischen der versprochenen Erhöhung und Befähigung und den irrlichternden Wahnwelten, die ihn umtosen und förmlich „umwerfen“ dürfen, weil er einer der Menschen ist, weil seine menschlichen Geschwister ihn in diese Lage bringen, die alle Menschen dem Tod aussetzt, auch den Gesalbten. Er wird für das geschlagen, was seine Brüder und Schwestern hervorgebracht haben: die Huldigung an Rahav, die Herausforderung der Meereswogen, die Kontaktaufnahme mit dem „ben avla“, dem Sohn des Verderbens, die verkehrte Wahl und den Hohn über die Wahrheit.
Eitan schließ mit der Anrufung Gottes, die Ihm vor Augen halten will, dass niemand aus dieser Verfangenheit kommen kann ohne die Hilfe des Allerhöchsten, die er David doch deswegen geschworen hat, eben weil keiner der „bnei adam“, der Menschenkinder, sich selbst helfen kann in dieser Not:
„49 Welcher Mann lebt und wird den Tod nicht sehen, wird sein Leben befreien von der Gewalt des Scheols? // 50 Wo sind deine früheren Gnaden, Herr, die du David zugeschworen hast in deiner Treue? 51 Gedenke, Herr, der Schmach deiner Knechte. In meiner Brust trage ich all die vielen Völker mit ihrem Hohn, 52 womit deine Feinde gehöhnt haben, HERR, womit sie gehöhnt haben die Fußspuren deines Gesalbten! 53 Gepriesen sei der HERR ewig! Amen, ja Amen!“
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dies ein prophetischer Psalm eines weisen Mannes ist. Es verbindet sich die Gelehrsamkeit und Erkenntnis mit der Gabe der Prophetie, der Weis-sagung. Eine „gesunde“ oder „lebendige“ Weisheit außerhalb dieser Verbindung gibt es nicht und grenzt solche Verständigkeit ab von allem okkulten, verselbständigten Wissen. Hier spielt mit hinein, dass die Schlange Eva damit verführte, ihr solche „Weisheit“ in Aussicht zu stellen, „Wissen“, das Wissen um Gut und Böse, als sei es eine definierbare geistige Welt, in die man „eingeweiht“ werden könnte. Der Baum, so heißt es, habe Eva gefallen, weil er „verständig macht“, „lehaskil“. Wir haben hier wieder unseren Wortstamm „s-ch-l“ (Gen 3,6).
Die „Weisheit Ägyptens“ hat mit dem „maskil“ und der Weissagung deshalb nichts zu tun, weil das eine losgelöst von der Vitalität Gottes und statisch, als ein gigantisches Normengebilde verstanden ist, das andere an die Vitalität Gottes gebunden und von ihr in jedem Moment inspiriert.
Statische Weisheit ist nicht dasselbe wie dynamische Weisheit. In Salomo brach sich beides. Sie sind, obwohl gleichen Ursprungs, Kontrahenten wie Finsternis und Licht.[3] Das eine, die Weissagung, die „n’wuah“, die den „nawi“, den Propheten hervorbringt, ist nicht dasselbe wie die Weisheit, die als „chochma“ sich verselbständigt und den Weltweisen „chacham“, den Schriftgelehrten oder Weisheitslehrer im genauen Wortsinn, aber keinen Propheten, hervorbringt. Erstere ist ihrem Ursprung liebend zugewandt und in ihm schwingend, die andere kehrt den Ursprung in ein mechanistisches Gefüge, dem der Weise Leben verleiht durch sein Weise-Sein.

Herr 1, Herr 2 und Sohn
Doch zurück zu unserer Szene mit Jesus und den Pharisäern. Der Rätselspruch bringt den normalen menschlichen Sinn durcheinander, weil die hierarchischen Beziehungen in ihm ähnlich wie auf der „unmöglichen Treppe“, die der Mathematiker Penrose entwickelt hat, ins Wanken kommen. Man kann sagen, dass Jesus mit einem Handstreich unsere hierarchische Denkweise zusammenstürzen lässt. Was hier über den Messias gesagt wird, wirkt absurd angesichts unserer hierarchischen Logik, aber die Pharisäer spüren, so wie wir alle, dass nicht das Wesen des Messias absurd ist, sondern unser hierarchisches Denken …
Der Christus ist der Sohn Davids. Söhne sind immer den Vätern unterstellt nach der Logik der Menschen. Wie kann es dann sein, dass der Vater den Sohn als „Herrn“ anspricht?
„Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist er sein Sohn?“
Man könnte zunächst sagen, eine der Prämissen ist dann eben falsch: Er ist nicht der Sohn Davids, oder aber er ist nicht der Herr Davids. Nun wird aber letzteres ausgeschlossen durch die Bemerkung, dass der „Herr des Herrn“ jenen zu sich erhöht und auffordert, zu seiner Rechten Platz zu nehmen. Im Bild gesprochen sitzen da nun zwei auf dem Thron: der erste und eigentliche Herr und der zweite, den er zu sich erhöht. Dass dieser zweite Herr ein Sohn Davids sein wird, ist in der Schrift viele Male bezeugt, dem Glaubenden unmöglich zweifelhaft.
In der Tat überschneidet sich im zweiten Herrn, dem „Herrn 2“ der „Herr 1“, also der eindeutig als Gott gezeichnete Herr, mit David, dem königlichen Menschen. IST er darum aber, wie die Trinitätslehre es dogmatisch definiert, sowohl Gott als auch Mensch, ein „Gottmensch“? Oder ist nicht genau eine solche Lehre der Versuch, etwas, das nur in der lebendigen Weisheit Gottes verständlich ist, festzubannen in einen albernen menschlichen Satz, der in seiner „Weisheit zu Torheit“ wird?
Dem muss man in jedem Fall entgegenhalten: Was den „Herrn 2“ zu einem „Herrn“ macht, hat er übertragen bekommen und nicht aus sich selbst heraus. Dies geht eindeutig aus dem Zitat hervor, das in Mt 22 direkt aus Psalm 110,1 übernommen wird. Jeder schriftkundige Israelit kannte diese Stelle. Einer, der bereits wesensgleich mit Gott ist, muss von ihm nicht erhöht werden zu seiner Rechten. Gemeinhin entgegnet der traditionsbewusste Katholik diesem Argument, diese Sätze aus dem Psalm und den Evangelien seien ja nur „secundum hominem“ gemünzt, also nur hinsichtlich der Menschheit Christi, die nun mit-erhöht würde. Das Menschsein, das sich die Gottheit durch ihre Inkarnation angezogen habe, habe sie gewissermaßen „heruntergezogen“ in unsere Niederungen und müsse nun hinaufgehoben werden.
Ganz einsichtig ist das allerdings nicht, denn wenn einer „Gottmensch“ ist, ist er, bevor er Mensch ist doch unhintergehbar Gott und müsste aus eigener Macht auch die Erhöhung seines Menschseins schaffen. Andernfalls ist er eben doch nicht wesensgleich mit Gott. Man kann vermuten, dass die Arianer genau daran auch hängeblieben, nach menschlicher Denkweise ja völlig zu recht! Denn zum göttlichen Wesen gehört auch die Allmacht oder Machtfülle. Wir kenn die poetische Formulierung „Er entäußert sich all seiner Gwalt“ aus einem Kirchenlied — nur: wo steht das in der Schrift? Die Stelle in Philipper 2,6, die hier als Beleg angeführt wird, sagt genau dies allerdings nicht, sondern etwas anderes, worauf ich schon einmal eingegangen bin (Link—) und noch einmal eingehen werde an anderer Stelle. Die „Entäußerung der Gewalt“ ist bereits theologische Auslegung im Sinne der kirchlichen Dogmatik.
Man argumentiert hier so, als ob Gott einer „multiplen Persönlichkeitsstörung“ nahekomme, in sich selbst gewissermaßen Personen abgespalten, sich dissoziiert habe.
Ich muss zugeben, dass mich der Gedanke abstößt und in seiner Greulichkeit und Monstrosität in die Flucht schlägt: Kann das sein? Was immer sich um Gott herum bewegt an „z’waot“, an „Heerscharen“, wer immer im Luftraum und im Meer an „bnei elim“ oder „Rahav“, „Leviatan“, „Tannin“, Göttern, Engeln und Dämonen etc. unterwegs ist, wovon das AT ja durchaus deutlich Kunde gibt: Gott, der Allerhöchste, ist einer und spricht immer als einer.
Er ist eben nicht dieser seltsame Chamäleondrache, der ständig die Maske wechselt (und „persona“ heißt eigentlich „Theatermaske“!). Dass er sich im Menschen abgebildet hat bedeutet nicht, dass damit eine multiple Persönlichkeit gemeint ist. Dieser Rückschluss ist und bleibt selbst nach logischen Kriterien unzulässig. Man würde auch von keinem menschlichen Elternpaar sagen, sie drückten sich wegen ihrer zahlreichen Kinder in zahlreichen Personen aus, die aber alle „eins“ seien, nämlich sie selbst. Das ist absurd. Man gefällt sich zwar in dieser nebulösen Rede von den „allen“, die irgendwie „eins“ sind, aber man bleibt in diesem gedanklichen Sumpf auch so tief stecken, dass man in aller Regel nicht mehr vordringt zu der Frage, wer Vater und Sohn wirklich sind, der Frage, die ja nicht dogmatisch definiert werden sollte, sondern um die geistig gerungen werden müsste.
Müssten wir nicht täglich rufen: Wer bist Du, Gott, Vater? Wer bist Du, Herr Jesus, sein Messias und Sohn?
Aber ist es nicht gerade diese Frage, die wir Gott gar nicht mehr stellen, weil wir glauben, aufgrund einer kirchlichen Feststellung wüssten wir es schon ganz genau?
Nach dem Johannes-Evangelium ist aber genau dies die Frage aller Fragen des Glaubens (s.u.)!
Die Frage ist, wie diese Überschneidung zwischen Gott und Mensch zu deuten ist, gilt sie doch generell jedem Menschen von der Schöpfung her, die den Menschen grundsätzlich, ob Mann ob Frau, „im Bild Gottes“ bekennt und bezeugt, dass jeder und jede ursprünglich sogar „in der Gestalt Gottes“ ist (Gen 1). Die Misere der „bnei adam“ liegt darin, dass sie diesen Status verloren oder verwundet haben und sich den Ungeheuern ausgeliefert haben, etwa dem Rahav. Der „Herr 2“, wiewohl ein Mensch, weil er von einer leiblichen Nachfahrin Davids geboren wurde, die von besonderen Qualitäten ist, weil sie als solche Nachfahrin von Gott „mit höchster Gunst/Gnade erfüllt“ wird, als „kecharitomene“ (Lk 1,28), ist von dieser Verfangenheit jedoch ausgenommen. Die Außerordentlichkeit beginnt tatsächlich schon bei Maria, aber nicht nur bei ihr. Der „Sohn Davids“, der als „maschiach“ verheißen war, sollte nicht aus dem Schmutz davidischer Deformationen kommen, sondern von jemandem, der selbst eine gewisse davidische „Messianität“ aufwies. Es ist daher von Belang, dass auch Josef, der Mann Marias, als „Gerechter“, als „dikaios“ (was dem hebräischen „zaddik“ entspricht) beschrieben wird. Jesus wurde also von einer Frau hervorgebracht, die ebenfalls „nach dem Herzen Gottes“ war und geschützt von einem Mann, der den höchsten jüdischen Ehrentitel trug, der dasselbe bedeutet: einem Gerechten.
Dass in der „Heiligen Familie“ bereits die gängigen hierarchischen Strukturen gebrochen wurden, habe ich an anderen Stellen immer wieder beschrieben. Die protestantische Aversion gegen eine Seligpreisung Marias verweigert sich tatsächlich der Schrift, die solche ausdrücklich vorsieht, wenn auch nicht in der Verzerrung, die die Verehrung in der Kirche erfahren hat. Das soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen.
Der „Hammer“ ist vielmehr die Konstellation vom Vater David, der seinen Sohn „im Geist“ (wie Jesus sagt) als „Herrn“ anspricht. Die typisch menschliche Reaktion zu sagen, dann müsse dieser Sohn irgendwie Gott sein, wobei man mit einer abenteuerlichen Argumentation über die Begriffe „adonai“ (für Gott) und „adoni“ (Christus, eigentlich „mein Herr“) in Psalm 110,1, in der LXX generalisiert mit „kyrios“ wiedergegeben, schließt, dann müssten folglich alle, die irgendwie mit „kyrios“ angesprochen werden, irgendwie auch Gott sein. Das ist nicht nur unkorrekt in Betrachtung des hebräischen Grundtextes, sondern auch sonst.
Inwiefen ist der „maschiach“, der Christus, ein „kyrios“, ein „adon“, ein „Herr“? Er ist es den Schriftstellen gemäß einzig und allein deswegen, weil Gott ihn dazu autorisiert hat. Und Gott kann erhöhen wen er will und weswegen er will.
Jeder Schluss, der darüber hinausgeht, ist außerhalb dessen, was wir wissen können.
Jesus wurde von Gott erhöht. David sah, dass einer seiner Nachkommen von Gott erhöht werden würde und dies für ewig, denn das wusste offenbar auch Eitan genau.
Jesus wiederum wusste es auch, und er wusste auch, dass er derjenige ist. Aber in der Diskussion mit den Pharisäern lag sein schmachvoller Weg, den Eitan beschrieben hatte, noch vor ihm. Jesus konnte zu diesem Zeitpunkt noch nichts weiter dazu sagen, aber alle anderen spürten, dass „etwas in der Luft lag“, dass eine gewaltige Bewegung auf sie zukam, die Erlösung verhieß oder Verderben, je nachdem, was der einzelne Mensch wählt.
Kurz vor seinem Tod aber ist uns das hochpriesterliche gebet Jesu überliefert, das viel mehr Auskunft gibt über die rätselhafte Stelle in Psalm 110 und den Evangelien:

„Ehe die Welt war“
Jesus spricht unter Worte:
„4 Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte. 5 Und nun verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war! 6 Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. 7 Jetzt haben sie erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist; 8 denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und haben geglaubt, dass du mich gesandt hast.“ (Joh 17)
Viele lesen aus diesen Sätzen ebenfalls die Trinitätshypothese ab. Sie fragen, was denn anders damit gemeint sein soll, dass Jesus betet „Und nun verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war!“ 
Sie verstehen diese Worte iS einer Präexistenz Jesu bei Gott. Und da er bei Gott und nicht irgendwo anders war, denken sie, er müsse ebenfalls Gott sein. Der Gedankengang ist nachvollziehbar, aber ist er tatsächlich das, was da steht?
In den wenigen Sätzen finden wir nicht nur den scheinbaren Hinweis auf eine Präexistenz Jesu bei Gott, sondern undeutlich auch eine Präexistenz der Seinen, die Jesus ihm wieder zuführen sollte, in Vers 6: „Dein waren sie…“. Man kann aber bei vorsichtiger Untersuchung nicht behaupten, dass hier von einer Präexistenz die Rede ist. Wir sind gewohnt, mit solchen Vorstellungen umzugehen und sind stets in der Gefahr der Projektion. Der Text sagt genau genommen nichts anderes als, dass Gott alles vorherweiß und vorherwusste, dass er alles vorhergesehen hat und alles umschlossen ist in seinem Plan. Er hatte vor aller Schöpfung schon seinen „maschiach“ vor Augen in aller Schönheit und genauso alle, die die Seinen sein würden. Wie genau sich dieses Vorherwissen Gottes gestaltet, können wir aus dieser Stelle nicht erfahren.
Wesentlich wichtiger aber ist, dass Jesus dem Vater sagt, er habe nun den Auftrag erfüllt, dem Vater die Seinen wieder zuzuführen. Sie sind wieder in die richtige Richtung „ausgerichtet worden“, haben die rechte „Peilung“ erfahren, präzise auf den Vater hin durch das, was Jesus ihnen vom Vater überliefert hat. Jesus sagt, sie hätten es dadurch erkennen können. Es wundert mich, dass diese so wichtige Feststellung Jesu völlig ins Hintertreffen kam vor der Spekulation über die Trinitätslehre.
Das lange Gebet Jesu umkreist die Einigkeit von Vater und Sohn, aus der die Einigkeit der Seinen folgen soll; erwähnt wird, dass die Kluft zum gegenwärtigen „kosmos“ sich so sehr vergrößern wird, dass die Seinen, wenn sie nun zurückbleiben und Zeugen Jesu sein werden, umhüllt und bewahrt werden müssen. Jesus sorgt sich um den „maskil“, dass er lebendiges Gotteserlebnis und Weissagung bleibe und nicht zu toter confessio werde, an der jeder lebendige Glaube zerbrechen wird, wie wir es nun jahrhundertelang erlebt haben. Wie Leopold Ziegler es in einem Aufsatz hellsichtig darlegte[4], störte nichts das lebendige Gottesverhältnis mehr als der Zwang zu Bekenntnissen, dem die Schwurformel „Wenn du nicht x glaubst, bist du ausgeschlossen“ zugrunde liegt und nicht der Jubel über die persönlich erfahrene Beseelung und die persönliche Hoffnung auf die Auferweckung.
Wir finden zurück zu der Unterscheidung von lebendiger Weissagung und Verständigkeit und toter Weisheit, dem Bewegtwerden von Gott, der vor aller Zeit um mich wusste in Christus, und dem Eingeweihtwerden in ein mechanistisches Geheimwissen ohne das „Abbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15). Philippus bat Jesus einst: „Zeige uns den Vater!“ Jesus antwortete ihm: „Wer mich sieht, sieht den Vater!“ (Joh 14,8f) Auch in diesem Abschnitt geht es wieder um die dringende Notwendigkeit, den Vater durch den Sohn zu erkennen. Das alles heißt aber nicht, dass der Sohn Gott ist, sondern es heißt, dass er sein vollkommenes Abbild ist — das, was der Mensch eigentlich hätte sein sollen. Wir dürfen nicht — trinitarisch gebildet — Rückprojektionen in die ursprünglicheren Texte vornehmen. Präzise verstanden geben sie nicht das her, was die Kirche behauptet.
Das, was sie aber hergeben, ist brisant, weil davon das ewige Heil abhängt. Ich möchte uns alle dazu ermutigen, das NT im Hinblick auf diese Dinge neu zu lesen. Es ist nicht wichtig, sich in zeitbedingte Gemeindeordnungen zu vertiefen und seine Mitmenschen damit zu schikanieren, wie es so oft unter Christen geschieht. Davon hängt fast gar nichts ab.
Von der Erkenntnis darüber, wer der Sohn ist und wer der Vater, hängt alles ab.





[1] https://www.wortbedeutung.info/Maskil/
[2] Langenscheidt-Achiasaf, Handwörterbuch Hebräisch-Deutsch von Jaacov Lavy, Berlin München Tel Aviv 1975, S. 570
[3] Zu diesem Schluss sind andere Gelehrte gekommen. Das Online-Portal der Deutschen Bibelgesellschaft schreibt beispielsweise im selben Sinn unter dem Stichwort „Weisheit“:
„Weisheit blendet alles aus, was mit Gottes Handeln in der Geschichte seines Volkes zu tun hat. Zugang zur Geschichte könnte dort geschehen, wo das Königtum zur Sprache kommt, das aber nicht in konkreten geschichtlichen Verortungen, sondern in übergreifenden Aussagen zum Wesen des Königtums verhandelt wird (dazu Blumenthal mit einem Vergleich Ägypten – Israel). Parallel zur Ausblendung der Geschichte in der älteren Weisheit geht die Ausblendung der Prophetie. Weisheit und → Offenbarung erweisen sich so zunächst als alternative Konzeptionen für die alttestamentliche Weltsicht (von Rad; auch Crenshaw).“ https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/weisheit-at/ch/a1e1bd748bb6b5326fcf7c72780593a4/
Es ist daher auch fragwürdig, ob in der „Weisheit“ der „Logos“ vorgeformt sei, wie Trinitarier traditionell meinen und darin der Christus als „personifizierter Weisheit Gottes“. Manche übertragen dies auf Maria. Beides ist so betrachtet unplausibel: Der Christus ist eine einmalige menschliche Gestalt, die nicht in der Weisheit, auch nicht der Weisheitsliteratur, sondern ausdrücklich und ausschließlich in der Prophetie, der Weissagung vorgeformt wurde.
[4] Leopold Ziegler: Gotterlebnis oder Konfession. Online http://www.leopold-ziegler-stiftung.de/werke/6/gotterlebnis-oder-konfession