Mittwoch, 1. Mai 2013

Schloss Mondésir und das Himmlische Jerusalem - Eine ultramontane Streitschrift zum vielbeklagten Reformstau

(Leseprobe unten) 

Hanna Jüngling: Schloss Mondésir und das himmlische Jerusalem. Eine ultramontane Streitschrift zum vielbeklagten Reformstau. Zeitschnur Verlag Karlsruhe 2012
ISBN  978-3-940764-12-6

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3. Brauchen wir Sex?

Ich brauche nur einmal im Leben wirklich überlebensnotwendig Geschlechtsverkehr – nämlich den meiner Eltern, wenn sie mich zeugen. Geschlechtsverkehr, den ich vollziehe, brauchen nur die, die aus mir entstehen sollen und Gott, der sie ins Leben rufen will.

Ich brauche folglich den durch mich vollzogenen Geschlechtsverkehr nicht notwendigerweise. Wenn ich ihn für notwendig halten will, bezieht sich die Notwendigkeit ganz und gar nicht auf mich. Bliebe ich jungfräulich, würde es mein persönliches Überleben und mein Glück (was nicht mit Momenten der Lust gleichzusetzen ist) in keiner Weise einschränken. Ob Geschlechtsverkehr wirklich „gebraucht“ wird, um eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau innig zu gestalten, darf getrost bezweifelt werden. Grundsätzlich braucht niemand „Sex“, um zu lieben oder geliebt zu werden. Ungezählte jungfräuliche Menschen haben das bereits vorgelebt. Die große Freude einer Beziehung zwischen Mann und Frau ist nicht weniger erotisch, wenn sie keinen sexuellen Kontakt sucht. In einer normalen Ehe bleiben die Partner nicht aufeinander fixiert. Die Männer empfinden natürlich auch Zuneigung zu anderen Frauen – gerade weil sie ihre Frau kennen und lieben. Und die Frauen lieben natürlich auch andere Männer. Denn das Alleinstellungsmerkmal einer ehelichen Beziehung ist tatsächlich nicht die Liebe und Zuneigung, sondern ihre Öffentlichkeit und der Vollzug der Sexualität samt der Ankunft von Nachkommen und allem, was daraus im Alltag folgt. Die Setzung des Alleinstellungsmerkmales ist ein bewusster und willentlicher Akt. Dieser Akt tut sich nicht von allein. Wer sich nicht selbst immer wieder daran erinnert, dass er ein Versprechen gegeben hat, das vor Gott und mit Gottes Hilfe gilt, verliert leicht die Fassung im Umgang mit anderen Menschen. Wir erleben es tagtäglich in unserer Gesellschaft, die glaubt, auf Gottes Hilfe und Maß verzichten zu können und für das Einhalten von Versprechen zu infantil geworden ist. Die lebenslange christliche Ehe ist kein romantisches Gefühlsinstitut, sondern ein Bahnhofsbau: wer heiratet, will einen Ort schaffen, an dem Menschen ankommen können. Die Trauer der Paare, die keine Kinder bekommen, ist nicht anachronistisch. Es bleibt eine Katastrophe für die Betroffenen, wenn in der Bahnhofshalle immer Züge einfahren, aus denen keiner aussteigen mag! Kinderlose Eheleute sehnen sich nach einer Weitung ihrer Gemeinschaft und suchen nach einer Zeit der Krise fast immer andere Möglichkeiten, dies zu verwirklichen. 

Geschlechtsverkehr verweist immer auf Gott und immer auf Menschen, die entstehen können. Jedes Mal, wenn ein Mann und eine Frau miteinander schlafen, klingt der Ruf nach weiteren Menschen mit – auch wenn bei den meisten sexuellen Begegnungen natürlicherweise jetzt gerade kein Kind entstehen würde. Es ist ein Prinzip, kein Automatismus. Wer sich in dieser Weise mit dem anderen vereinigt, ist wie einer, der sich selbst ganz und gar aussäht, um Neues hervorzubringen. Dass wir das lustvoll erleben und in Gemeinschaft tun dürfen, dabei nicht einsam bleiben müssen, ist Geschenk. Auf Geschenke hat man keinen Anspruch. Wir haben aber den Spieß umgedreht: wir halten das Geschenk für unser Recht und verweigern dabei, uns selbst hinzugeben an die, deren Stimmen in der Tiefe unseres Leibes schon von ferne klingen. Wir verstopfen unsere Ohren, um sie nicht zu hören, machen uns gefühllos, unempfänglich, um ihre vitale Gegenwart in unserem Bewusstsein nicht mehr zu spüren. Unser „Sex“ verliert seinen Glanz, wird so taub wie unser Gehör und so stumpf wie unser paralysierter Leib. Wir beanspruchen „Sex“, um ihn denen, denen er gehörte, vor der Nase wegzuschnappen. Wir „machen Sex“, um vor der heiligen und göttlichen Geschlechtlichkeit zu fliehen, zu der wir berufen sind. Zur Geschlechtlichkeit berufen zu sein heißt, dass man sich vollkommen hingibt an Gott und Menschen, die hinzukommen sollen zu seinem Reich. Dieser Vorstellung liegt die Auffassung vom „Leib Christi“ zugrunde, der „aufwachsen“, zu seiner Reife kommen soll wie wir es von individuellen Lebewesen kennen: Ihrem genetischen Code ist eine bestimmte Gestalt, die sich entwickeln kann, „einprogrammiert“. Wir erleben dieses Erreichen der „vollen Zahl“1 in der Zeit-Dimension. Die spezifische Aufgabe der Eheleute ist es, in der Sexualität leibhaftig und geistig diese „volle Zahl“ zu „generieren“. Es gibt, in einem tiefen Verständnis, keinen Unterschied zwischen Zölibatären und Ehepaaren. Der eine wie der andere verdankt sich dem Geschlechtsverkehr seiner Eltern und Gottes Ruf in dieses Leben. Beide geben sich selbst ganz und gar hin, um das Reich Gottes mit den Menschen zu füllen, nach denen der Schöpfer sich sehnt. Die Aufgabe insbesondere des Priesterzölibats ist es, durch Verzicht auf eigene Nachkommen frei zu sein dafür, gewissermaßen „größere generische Einheiten“ zu überblicken und zu leiten. Dass hier zwei Berufungswege beschritten werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Zwillingswege sind. Eheleute hören zunächst ihre leiblichen Kinder in sich selbst klingen. Das ist notwendig, damit ihre konkreten Kinder auch von ihnen so ersehnt werden, wie der Schöpfer sie ersehnt. Bald weitet sich aber der Horizont – es kommen immer mehr hinzu zu einer solchen Ehe und Familie, nicht nur die leiblichen Kinder, sondern auch viele andere, die hier Resonanz finden. Zölibatäre gehen hier den „kurzen Weg“. Sie hören gleich von Anfang an die Stimmen aller, die von Gott ins Leben gerufen werden wollen, im eigenen Leib klingen und eilen an die Spitze des Trosses, um die, die direkt mit der leibhaftigen Sorge um die „volle Zahl“ beschäftigt sind, im Auftrag Jesu zu „hüten“. Manche leisten dieses Hüten weniger durch das Führen, Leiten und Lehren als durch tätige Nächstenliebe und immerwährendes Gebet. So wenden sich, wenn es recht steht, sowohl die Zölibatäre als auch die Eheleute immer mehr von sich selbst weg und den vielen anderen zu. Sie ahmen die Haltung Gottes zu uns nach. Sie tun es als Männer und als Frauen. Es ist der Antwortgesang auf Gottes Liebe. Und diese Liebe Gottes ist in sich so bewegt und lebendig, dass das ineinander verschlungene Mann- und Frausein vollkommener Ausdruck davon ist. Für Zölibatäre ist daher das Mann- oder Frausein genauso gewollt und schön wie für Eheleute. Sie sind wie alle anderen Menschen natürlicherweise mit dem anderen Geschlecht verwoben. Sie haben ja nur versprochen, auf Geschlechtsverkehr und all die tausend Bindungen, die daraus praktisch und alltäglich wachsen, zugunsten einer kontemplativen, karitativen oder priesterlichen Bindung an Jesus, die das Zeichen der Ehe „überspringt“, zu verzichten. Nicht mehr und nicht weniger. Damit ist weder die Verneinung der eigenen Geschlechtlichkeit noch eine Absage an die innige Verwobenheit mit dem anderen Geschlecht gemeint. Denn wie schon der heilige Paulus sagte, ist der Mann nichts ohne die Frau und die Frau nichts ohne den Mann.2 In jedem Fall drücken Personen in jedem Stand diese innergöttliche Lebendigkeit und Sehnsucht aus. Dass wir in jedem Stand Versuchungen, die uns in die Untreue treiben wollen, ausgesetzt sind, spricht nicht gegen das eben Gesagte.
Wir „brauchen“ keinen „Sex“ für uns selbst! Aber wir brauchen das erfüllte Bewusstsein, ein Mann oder eine Frau zu sein, von Gott so gewollt und geliebt zu sein und ihn, den lebendigen, bewegten und bewegenden Schöpfer im Humor und in der Zärtlichkeit für das andere Geschlecht auszudrücken.
Jesus hat zu der Frage, ob man seinen sexuellen Impulsen zwingend nachgeben müsse, eine erfrischend harte und unverklemmte Antwort: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Wenn dich dein rechtes Auge verführt, dann reiß es aus und wirf es weg!3  Das heißt: nein, man muss nicht seinen sexuellen Impulsen nachgeben! Jeder wird angefochten durch Impulse aller Art, die nicht am Platz sind. Jesus drückt dies deutlich aus. Aber er drückt auch aus, dass das keinesfalls richtungweisend sein darf für mein Handeln! Der Geschlechtsverkehr ist und bleibt für Christen in Übereinstimmung mit der ungebrochenen Überzeugung der Kirche seit 2000 Jahren eine exklusive Aufgabe eines Ehepaares. In allen anderen Beziehungen gibt es keinen solchen Vollzug, auch wenn er möglich wäre, reizvoll erscheint und uns möglicherweise eine Zeit lang hart anficht. Es ist eine absolut klare Aussage Jesu, die andererseits eine enorme Weitung menschlicher Liebesbeziehungen andeutet. Anstatt Liebe zwischen Menschen notorisch in einer sexuellen Lesart wahrzunehmen, haben Christen eine enorme Freiheit: wir können, dürfen und sollen sogar viele andere lieben, mit aller Tiefe, allem Respekt, mit Innigkeit, Leidenschaft, Zärtlichkeit und Hingabe, aber nicht im Geschlechtsverkehr, nicht durch die sinnleere Überbetonung der Sexualität, sondern durch all die anderen Möglichkeiten und Ausdrucksformen, die in jeder individuellen Konstellation zwischen zwei Menschen zur Verfügung stehen! Die aufgaben- und sinnzentrierte Begrenzung des Geschlechtsverkehrs ist die Voraussetzung für die besondere und tiefe Liebe zu all den Menschen, die Gott in unsere Biografien hineinfügt. Jesu „harte“ Worte bringen dolcezza, Süße und Milde ins Leben. Es ist wahrhaftig so, wie er selbst es gesagt hat: sein Joch ist zwar ein Joch, aber es drückt nicht, seine Last ist leicht!4 Christenleben weisen aus diesem Grunde eine große Leichtigkeit, einen spezifischen Swing auf.

1  Vgl. Röm. 11, 25 Der Begriff der „vollen Zahl“ ist hier zwar nur auf die Heiden bezogen, aber das widerspricht nicht der von mir hier entwickelten Lesart des Begriffes als generischem Gestaltbegriff.
2  1. Kor. 11,11
3  Mt. 5, 28f
4  Mt. 11,30