Donnerstag, 21. März 2019

Ist Jesus eine Erfindung der Flavier? Bemerkungen zu Joseph Atwills Bestseller „Das Messias-Rätsel“

Ist Jesus eine Erfindung der Flavier? Bemerkungen zu Joseph Atwills Bestseller „Das Messias-Rätsel“

Die Aussagen des Neuen Testamentes sind — für eine normale antike menschliche Erwartung gesprochen — so bizarr, dass eine angeblich  manipulierende Urheberschaft durch Machthaber der Spätantike, wie neuerdings durch Autoren wie Joseph Atwill[1] („Cesar’s Messiah“) behauptet wird, schon aus logischen Gründen abwegig ist.
Die von Jesus und den Aposteln immer wieder ausgesprochene, eindringliche Warnung vor Verführung lässt eine plumpe Vereinnahmung durch die weltliche Macht nicht zu, zumal deren Falschheit deutlich gekennzeichnet wird. Die Beziehung des Gläubigen zu Gott entzieht sich wegen der direkten und individuellen Geistbeseelung jedem Herrschaftszugriff und kann ihm auch naturgemäß nicht dienen. Die kryptische Problematik einiger  überlieferter Jesuszitate ist schon für die früheste Zeit des Christentums belegt und wird von Jesus selbst vorhergesagt (Mk 4,12). Eine machtpolitisch verwertbare Botschaft geben sie jedenfalls in ihren Wortlauten objektiv nicht her. Der Jesus, der in den Evangelien gezeichnet wird, stieß nichts und niemanden mehr vor den Kopf als die Mächtigen, die Klugen und Weisen, ganz wie es seine Mutter in ihrem Lobgesang formuliert hatte: „Er stößt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“. Sind das wirklich die richtigen Parolen für machtgierige Erfinder?
Atwill führt in seinem Buch die Behauptung aus, die Evangelien seien wahrscheinlich von Flavius Josephus geschrieben und frei erfunden, stellten aber in Form einer Satire den siegreichen Titus als Messias dar. Der Auftrag dazu sei von Kaiser Vespasian an Josephus ergangen. Mithilfe der Messiaslüge sollte das nationalistische Judentum überlagert und supranational pazifiziert werden. Konsequent durchdacht hätte Josephus seine Landsleute „verarscht“.
Atwills „Beweisführung“ ist mehr als grob, weiß nichts von sprachlichen Feinheiten, hat sichtlich keine Ahnung von den spirituellen Dimensionen des Neuen Testamentes, sein Denken ist materialistisch ohne Horizont für anderes, ignoriert fast den gesamten bibelwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Forschungsstand und stellt wenig plausible Zusammenhänge für denjenigen her, der sich in der Materie gut auskennt.

Der Erfolg des Buches lässt sich damit erklären, dass heute nur noch wenige über ausreichende Fachkenntnisse zu diesen Themen verfügen und anfällig sind für steile Thesen und „abgefahrene“ Theorien, die das Kind mit dem Bade ausschütten. Die „Methode der Typologie“, mit der Atwill seine Ideen begründen will, wendet er schlampig an. Der Wunsch ist allzu oft Vater des Gedankens. Er forscht nicht ergebnisoffen, sondern ordnet alles seiner von vornherein feststehenden These nach der Devise „Reim dich, oder ich fress dich“ unter. Die Vielzahl an Gründen, die seiner These entgegenstehen, umgeht er sorgfältig, indem er sein schmales „Beweismaterial“ kräftig aufbläst und farbig ausmalt.

Atwills These ist alleine schon aus chronologischen, historischen Gründen nicht plausibel: Nicht die Gestalt Jesu, wie sie in den Evangelien beschrieben wird, diente als Herrschaftsinstrument der Römer, sondern der Prozess der manipulierenden Dogmatisierung von philosophischen „Glaubenssätzen“, zu deren Bekenntnis man alle Welt politisch erpressen wollte, ab der „konstantinischen Wende“ im 4. Jh nach Christus und eine Umorganisation der Gestalt Jesu erfüllt dieses Merkmal. Bis dahin aber ist jahrhundertelange Unruhe der römischen Regierungen mit den christlichen Bewegungen in den Quellen überliefert, die bis ins 4. Jh hinein — handelte es sich, wie Atwill meint, bei der historischen Gestalt Jesu wirklich um eine Erfindung der Römer zur Pazifizierung jüdischer Aufstandsbewegungen — vollkommen ihr Ziel verfehlt hätten.
Atwill hält die Zeitgenossen der Flavier offenbar für vollendete Idioten: warum sollten sie einer bösartigen Satiregestalt namens Jesus folgen, als wären sie unfähig, eine Satire zu erkennen und dämlich genug, eine solche für bare Münze zu nehmen? Wo wäre denn sonst einmal in der römischen Geschichte eine Satire dazu benutzt worden, eine gerade mal eben frei erfundene globale Religion durchzusetzen? Wie viele solche Religionen gibt es in der Menschheitsgeschichte?
Und warum haben die römischen Behörden nicht gewusst, was Christen genau glauben, sie aber als gefährliche Abweichler angesehen und schon im 1. Jh verfolgt?!
Atwills These zeugt von einer bodenlosen Arroganz gegenüber früheren Menschengenerationen, als hätte es ihnen an elementarer Vorsicht und Intelligenz gefehlt. Die jüdischen Aufstandsbewegungen existierten parallel zu den bereits entstandenen und dem Judentum entgegenstehenden christlichen Bewegungen. Sie bildeten andererseits nicht „das“ Judentum ab. In Atwills Gedankenführung entsteht der Eindruck, alle Juden seien mehr oder weniger Zeloten gewesen, was erst noch zu beweisen wäre. Warum sollte die römische Macht die jüdischen Rebellionen mithilfe der Jesusbewegung, der sie in den spezifisch christlichen Thesen entgegenstanden, bekämpfen? Der Schuss wäre ja nach hinten losgegangen… Die Juden rangen nachweislich theologisch heftig mit dem jungen Christentum und sorgten selbst für dessen Verfolgung.
Die flavische Überlieferung wird außerdem spätestens seit der Reformation aus literaturwissenschaftlichen Gründen kritisch diskutiert. Heute halten fast alle christlichen Theologen die Erwähnung Jesu bei Flavius Josephus, die ihn als Messias bekennt, mit guten Gründen entweder für eine spätere christliche Einfügung oder Textverfälschung.[2] Die zweite Erwähnung aber ist unumstritten, in der er die Verurteilung und Hinrichtung des Bruders Jesu, des Jakobus, erwähnt.[3]
Die häufigere, aber verstreute Erwähnung Jesu oder der Christen in der antiken Literatur spricht jedoch nicht dafür, dass es sich um reine Erfindungen handle, zumal die Christen schon früh, in der Wende zum 2. Jh als eine historische Realität bezeugt sind. Uns sind zB die Briefe Plinius des Jüngeren (+113 n. Chr.) an Kaiser Traian überkommen, die sich mit der rechtlichen Einstufung und Verfolgung der Christen auseinandersetzen, die nicht als willfährige Helfer im Kampf gegen aufständische Juden, sondern als Misstrauen erregende Problemfälle erscheinen. Warum Plinius unter Folter zwei Gemeindeleiterinnen überhaupt erst über die Lehre der Christen befragen muss, um die Gefährlichkeit dieser Sekte besser einschätzen zu können, wird mit Atwills Behauptungen vollends absurd: als Justizorgan der römischen Staatsmacht hätte Plinius sehr genau wissen müssen, was diese Christen glauben, wenn deren Glauben eine flavische Erfindung gewesen wäre. Immerhin überlagert sich die Lebenszeit des jüngeren Plinius mit der der Flavier. Wackere Jesus-Leugner zweifeln heute alle antiken Erwähnungen Jesu oder der Christen an. Das lässt sich mE nicht halten.
Im Falle der Pliniusbriefe etwa sprechen mehrere Dinge inhaltlich gegen eine Fälschung. Er beschreibt, was die Gefolterten ihm über Jesus sagen, und man hat durchaus den Eindruck, dass er vorher nicht wusste, wer dieser Jesus war und warum er verehrt werden sollte, nachdem er es erfahren hatte, aber Entwarnung an den Kaiser gab — es handele sich um Leute voller Aberglauben, aber sie tun nichts Kriminelles. Warum sollte die Kirche so etwas Jahrhunderte später fälschen? Die Verfolgung wurde danach nicht aufgegeben, aber abgemildert. Plinius berichtet von der Schwierigkeit, dass nicht alle, die sich Christen nennen oder einmal Christen waren, über dieselben Glaubensinhalte verbunden sind. Auch das wirkt authentisch und wahrscheinlich. Ihm ging es zentral darum, überhaupt erst einmal zu klären, wer nun eigentlich Christ ist.[4] Ein Umstand aber, der seine Briefe als absolut glaubwürdig erscheinen lässt ist die Tatsache, dass er zwei „ministrae“ unter Folter verhört. Ein „minister“ im Lateinischen ist dasselbe wie ein „diakonos“. Immer wieder bestritt die Kirche, dass die Erwähnung des weiblichen „diakonos“ Phoebe, den Paulus am Ende seines Briefes an die Römer empfiehlt, eine amtliche Bezeichnung gewesen sei, um leugnen zu können, dass Frauen führende Positionen in frühen Gemeinden haben konnten. Nun nennt Paulus diese Frau aber als „diakonos“ der Gemeinde in Kenchreä. Auch Plinius schreibt selbstverständlich davon, dass es solche „Diakoninnen“ gegeben habe. Es ergibt wenig Sinn zu sagen, das seien unbedeutende Mitglieder einer christlichen Gruppe gewesen, die halt irgendwelche Dienste getan haben, Hauptsache man gibt nicht zu, dass sie Leitungsfunktionen gehabt haben dürften. Plinius schreibt, sie seien von den anderen Christen „ministrae“ genannt worden, was sogar stark auf ein Amt hinweist. Da er Informationen über das Innenleben der Gemeinden suchte, ist anzunehmen, dass er Personen verhörte, die auch in Fragen der Lehre aussagefähig waren — zwei führende Frauen. Das war in der römischen Antike, die Frauen für nicht testierfähig ansah, absolut ungewöhnlich und ein Ärgernis für all jene, die bis heute behaupten, Frauen dürften nicht lehren oder führen. 
Plinius kann den Intentionen der späteren Kirche gerade deswegen überhaupt nicht gefallen, weil er so ausdrücklich weibliche Führungspersonen benennt und bezeugt. Wenn die Kirche seine Briefe gefälscht hätte, hätte sie aus diesen beiden „ministrae“ wohl eher „ministres“ gemacht, wie sie dies später mit der "apostola" Junia gemacht hat, die im Mittelalter kurzerhand in einen männlichen Apostel namens Junias umgefälscht wurde, obwohl es nirgends ein Zeugnis für den Namen "Junias", dafür aber hunderte von antiken Zeugnissen für den Frauennamen "Junia" gibt (Röm 16,7)[5]… Jedenfalls spricht gerade dieses beiläufige und zufällige Zeugnis für die führende Rolle der Frau in der frühen Kirche, eine Tatsache, die die nachkonstantinische Kirche erstickt hat, für die Echtheit des Pliniusbriefes.

Es sollte aus mS nicht übersehen werden, dass der entscheidende antike Vorwurf gegen die frühen Christen der war, sie seien „Atheisten“ („atheoi“), weil sie kultische Handlungen vermissen ließen und ihren Glauben nicht zum Gegenstand öffentlicher, aber auch nicht mysteriöser (an Mysterienkulten orientierten) und staatstreuer Zelebration machten. Die Verbindung von Staat und Religion lehnten sie gerade ab. Ihr Gott war eben kein Gott irgendeiner irdischen Macht, kein Stadtgott, kein Volksgott, sondern ein Vater seiner Kinder, die als „Freie“ aus den Verbänden herausgelöst wurden, die sie umklammerten![6][5] Diese Zeichnung Gottes als „Papa“ („abba“) hatte es so niemals zuvor gegeben und musste dem antiken Menschen entweder als mangelnde Ehrerbietigkeit oder als Ärgernis und Torheit erscheinen. Keine andere Göttergestalt der damaligen Zeit trägt solche Züge.

Atwill versäumt eine differenzierte Auseinandersetzung mit der vorkonstantinischen Realität in den Quellen und nimmt eine Rückprojektion der Motive nach dem Jahr 325 (Konzil von Nicäa) auf die Zeit davor vor, was ihm freilich durch die tradierte katholische Geschichtspropaganda nahegelegt wird. Sie suggeriert, die Konzilien hätten nur das festgelegt, was ohnehin immer schon geglaubt worden sei.
Vor 100 Jahren stellten uns ausgezeichnete Studien historisch-kritischer Forschung ganz andere Szenarien vor Augen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Studie des gelehrten Rabbiners Leopold Lucas verweisen, der das Verhältnis von Juden und Christen im 4. Jh aufgrund zahlreicher zeitgenössischer Quellen sehr gut belegte.
Demnach kann man erst nach Konstantin davon sprechen, dass das Christentum eine Funktion römischen Machtwillens geworden war, zu dem sich das entstehende Judentum schon etwas früher angedient hatte.[7] Um die Gruppe der renitenten (nicht aller!) Juden zur Zeit Jesu und kurz danach zu pazifizieren bedurfte es — nach den historischen Quellen — also keineswegs der Erfindung des Christentums. Einige Juden kollaborierten mit dem römischen Staat, lange bevor es die Christen taten. Anklänge daran sind in der Schrift des Flavius Josephus „Über die Ursprünglichkeit des Judentums“, später auch unter dem Titel „Gegen Apion“ geführt, herauszuhören, wo nicht etwa das Christentum angepriesen, sondern das Judentum verteidigt wird. Auf die Forschungen Lucas’ greift der aktuell bekannteste deutsche Judaist Peter Schäfer zurück, der den Sachverhalt ebenfalls in den kleinen Bändchen „Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums“ und „Anziehung und Abstoßung“ ins Licht hebt.[8] Hier wird die These vertreten, dass das, was wir heute unter  „Judentum“ verstehen, sich im Ringen mit dem frühen Christentum im Laufe der ersten christlichen Jahrhunderte entwickelte. Schäfer zeigt aber auch, dass dieses Ringen keine Einbahnstraße war und im Prozess der Loslösung des Christentums aus dem Glauben Israels in einer komplizierten geistigen Bewegung geschah. Die theologischen Gegenstände der Auseinandersetzungen liegen weitab von politisch verwertbaren Themen. Es ist eine Beleidigung der Israeliten, wenn man implizit unterstellt — und Atwill tut dies — , sie seien zu dumm gewesen, den römischen „Fake“ zu durchschauen. Kein gebildeter Jude hätte mit einem römischen Messias-Fake  theologisch "gerungen". Alleine schon dieses Szenario ist vollkommen abwegig. Die Thesen Leopold Lucas’ und Peter Schäfers, die — anders als das grobschlächtige Fabulieren eines Joseph Atwill und ähnlicher Autoren — eine eingehende und tiefgehende, wissenschaftlich fundierte Quellenarbeit liefern, zeigen eindeutig, dass dieses theologische Ringen nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 stattgefunden hat. Das Judentum konnte durch Absetzung vom jungen Christentum den Römern sogar eher zeigen, dass es integrationsfähig war. Auch diese Folgerung aus den Thesen Schäfers führen Atwills Behauptungen ad absurdum.

Die katholische Kirche behauptet, sie setze den frühchristlichen Glauben und die Zeugenschaft der Jünger, die um Jesus waren, sinngemäß und ohne Bruch fort („apostolische Sukzession“). Atwill nimmt dies unbesehen an und schließt daraus, dass die Flavier Jesus erfunden haben müssen, um mithilfe ihrer Erfindung eines willfährigen, pazifistischen Heilsbringers die „pax romana“ bei den Juden zu stiften und zu stabilisieren. Dass dies historisch äußerst fragwürdig sein dürfte, habe ich dargelegt.

Seine Deutungen einzelner literarischer Episoden sind mE — wenn man methodisch literaturwissenschaftlich einigermaßen sauber argumentieren will — auf dünnem Eis aufgebaut, seine Deutung des neuen Testamentes als einer „Satire“, die den Flavier Titus, den Sieger über die Juden, als Messias Jesus, als pazifistischen Mann ohne jedes Rebellentum vorführe, ist literarisch willkürlich und nicht ausreichend begründet. Warum sollten Menschen einen heidnischen Kriegsherrn als israelitischen „Messias“ anerkennen, der doch aus dem Stamm Davids kommen sollte? Und warum glaubt Atwill, sollte Titus in einer Satire als völlig geschwächter Jesus gezeigt werden? Das ist bei genauerem Durchdenken vollkommen abstrus. Vollends abwegig erscheint Atwills These, wenn man bedenkt, dass die ersten Apostel Jesu, Petrus und Paulus, in schwere Konflikte mit der römischen Staatsmacht gerieten und, wie Jesus selbst, von derselben als Rebellen und Aufrührer hingerichtet wurden. Dass dies geschehen ist, ist gut belegt. Wo also der angeblich erfundene Jesus hier zu einer „Pazifizierung“ rebellischer Juden beigetragen haben soll, erschließt sich aus den historischen Quellen nicht. 
Es existiert eine Debatte darüber, ob diese frühen Quellen überhaupt echt seien oder nicht eher spätere Interpolationen aus christlicher Hand. Die Vertreter der Meinung, Jesus habe nie existiert, Petrus und Paulus seien ebenfalls erfundene Figuren, können ihre Ansicht nicht wirklich begründen. Immerhin gibt es diese frühen Zeugnisse über Jesus und seine Anhänger zerstreut und zufällig in verschiedenen antiken Texten. Es ist willkürlich, nun zu unterstellen, alle diese Erwähnungen seien samt und sonders erdichtet und in all diese verschiedenen Texte gezielt hineingemogelt worden. Als ordentlicher Geisteswissenschaftler stellt man derart plumpe Behauptungen nicht auf. Falls aber doch, müsste man die Behauptungen zweifelsfrei und sehr gut begründen können. Davon kann keine Rede sein.
Anders ist die Sachlage im Islam, in dem überhaupt keine zeitnahen und vor allem keinerlei kritische Quellen über die Existenz des Propheten vorliegen. Die gesamte Überlieferung setzt dort erst 200 Jahre später ein, und es gibt überhaupt gar kein Zeugnis darüber in anderen Quellen. Das ist eine tatsächlich andere Problemlage aus einer wissenschaftlichen Sicht.

Die Gestalt Jesu wird in den Evangelien zu bizarr gezeichnet, sie stößt zu sehr jede Messiaserwartung vor den Kopf — ein Umstand, der auch im neuen Testament bereits ausgedrückt und diskutiert wird. Hätte man einen Messias erfinden wollen, wäre es sicher schlauer gewesen, ihn „passgenauer“ und heldenhafter zur jüdischen und überhaupt menschlichen Erwartung zu zeichnen. Bis heute stößt dieser Jesus wegen seiner mangelnden maskulinen Stärke und seiner überraschenden und ärgerlichen Andersheit viele Menschen ab: sie brauchen Helden, Weltverbesserer, keine „Loser“.
Die kanonischen Texte sind nicht „glatt“. Wir finden Widersprüchliches, verschiedene Versionen derselben Ereignisse und zahlreiche Anspielungen auf alttestamentliche, aber auch andere Überlieferungen. Vieles liegt im Dunkeln, vieles ist sehr schwer verständlich. Es ist unwahrscheinlich, dass die frühen Christen, die diese Texte so oder so ähnlich tradierten, das nicht bemerkt haben sollten. Es sollte hier ganz offenkundig das zusammengestellt werden, was einigermaßen authentisch von Jesus zeugt, auch wenn es nicht widerspruchsfrei in den Einzelheiten und Abfolgen der Ereignisse war. Alleine dieser Umstand macht das Zeugnis der Evangelien … glaubwürdig. Wie in einem Gerichtsverfahren decken sich nicht alle Zeugnisse exakt, stimmen aber in der großen Linie doch im Hinblick auf das Ergebnis zusammen. Das und nur das ist echt und menschlich. Das materialistische Verständnis von der Irrtumsfreiheit der Schrift, wie es in manchen fundamentalistischen Kreisen mit der Neuzeit vertreten wird, wollte die Glaubwürdigkeit der Schrift "retten", hat dem Glauben der Christen letztendlich aber einen Bärendienst erwiesen. Jeder kann nun ganz leicht die so menschliche und glaubwürdige, zeugnishafte Unebenheit aufspießen und damit beweisen, dass "alles erstunken und erlogen" sein muss.

Fragen wir anders angesichts der Tatsache, dass nicht jeden Tag mal eben kurz eine Weltreligion geboren wird:
Wo ist schon einmal eine solche Gestalt nachweislich erfunden worden, die es schaffte, die Herzen zu gewinnen, als sei sie real? Wo konnte man mithilfe einer bloßen Legende eine so starke geistige und spirituelle Bewegung in den Köpfen für Jahrtausende auslösen? Wo entfachte ein einfaches Märchen schon einmal solch gewaltige Kulturleistungen wie im Falle der Gestalt Jesu? Wo wurden schon einmal bis heute so viele gelehrte Arbeiten über eine rein erfundene Gestalt geschrieben?
Ebenfalls muss gefragt werden, warum es eine Gestalt wie Jesus nun unbedingt nicht gegeben haben soll? Selbst wenn die eine oder andere Episode eine Erfindung oder ungenaue Erinnerung an ihn sein sollte, ist das kein ausreichendes Argument gegen seine historische Existenz. Was spricht denn grundsätzlich dagegen, dass es ihn gegeben hat, eine kleine Gruppe von Anhängern und Jüngern die Nachrichten über ihn in einer Welt vor allem mündlicher Weitergabe schließlich verschriftlichten, damit sie nach ihrem Tod nicht vergessen oder verzerrt würden? Ist das wirklich so unwahrscheinlich? Und auch hier spricht die Unebenheit der Übereinstimmung in den Evangelienberichten dafür, dass man festhalten wollte, was man noch festhalten konnte, bevor es im Nebel der Geschichte verdampft, damit es nicht verloren geht, auch dann, wenn nicht alle Details übereinstimmten. 
Unwahrscheinlich ist vielmehr ein erfundener Meister mit den Merkmalen Jesu — genau daran nahmen viele Anstoß, nicht zuletzt der Islam, der mit diesem Kreuzesmann, der nicht herrschen wollte, überhaupt nicht zurecht kommt, weil er, wie der Mensch normalerweise denkt, unter einem Gottgesandten einen Gewinner, einen Herrscher und Gewaltigen versteht in den Kategorien dieses „kosmos“. Aber auch die Kirche kam damit schwer zurecht und bildete die Trinitätslehre aus, um den vermeintlich „schwachen“ Jesus aufzuwerten und in der Kontrastierung des wahren Gottes und Menschen letztendlich doch seine große Qualität zu „beweisen“. Nun sagt aber das Neue Testament nicht dies, sondern es sagt uns, dass dieser Sohn Gottes das vollkommene Abbild des unsichtbaren Gottes sei. Dieser Gedanke ist so unglaublich wie er unerträglich ist für den stolzen Menschengeist: Gott, von dem alle Dinge kommen und ohne dessen schöpferisches Wort nichts ist, hat keinen Herrscherimpetus gezeigt, sondern den eines Dieners, der nur von dem erkannt wird, der ihm sein Herz „opfert“…
Die behauptete „Pazifizierung“ der renitenten Juden um die Zeitenwende jedenfalls ist — als Umwandlung einer anstößigen Bewegung, die nichts und niemanden „pazifiziert“ hat, in eine Staatsreligion — definitiv erst im 4. Jh, mit der konstantinischen Wende, zu verzeichnen, führt also wieder zu meiner Ausgangsthese, dass Atwill den Übergang zum Staatskirchentum im 4. Jh ohne jeden stichhaltigen Beleg mit phantastisch aufgebauschten, aber sachlich verworrenen Gründen um 300 Jahre vorverlegt. In einer verschwörerischen und total geheimen Aktion hätte man das Christentum erfunden und unters Volk gebracht, das nichts gemerkt haben soll und brav gläubig wurde wie vorhergesehen, dafür verfolgt und hingerichtet wurde (?!) und alle außerchristlichen Zeugnisse für die Existenz Jesu Christi und der Christen seien Fälschungen — wenn das nicht eine ausgewachsene „Verschwörungstheorie“ ist…




[1] Deutsch erschien dieses Buch, das im Original 2005 herauskam, unter dem Titel: Joseph Atwill: Das Messias-Rätsel. Die Geheimsache Jesus, Berlin 2008
[2] Die Überlieferungsproblematik wird auf Wikipedia sachlich gut beschrieben: https://de.wikipedia.org/wiki/Au%C3%9Ferchristliche_antike_Quellen_zu_Jesus_von_Nazaret
[3] „Er versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor diesen den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ" (Antiquitates, Buch XX). Zitiert nach: Tobias Glenz: Lebte Jesus wirklich — oder behauptet das nur die Bibel? 4.6.2018 auf https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/lebte-jesus-wirklich-oder-behauptet-das-nur-die-bibel
[6] Der Begriff er „ecclesia“ meint in antiker Sprache keine „Kirche“, auch keine „Gemeinden“, sondern eine „Sammlung der Freien“, ursprünglich die Freien einer Polis. Die christliche Polis ist ursprünglich eine himmlische Stadt der nachäonischen Zukunft (vgl. Gal 4).
[7] Leopold Lucas: Zur Geschichte der Juden im vierten Jahrhundert. Der Kampf zwischen Christentum und Judentum. Hildesheim 1985. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1910.
[8] Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums. Tübingen 2010; ders.: Anziehung und Abstoßung : Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten ihrer Begegnung. Tübingen 2015