Wo ist die Natur? — Tagebuch einer
Suche
Schuhwerk, urbane
Schönheit und der Wahnland-Code
In der
Mondlandschaft Karlsruhes, seit zehn Jahren in gigantischem Umbau, überall
aufgerissene Krater, babylonische Baumaschinen, — es geht um das ehrgeizige Projekt
einer Untergrundbahn von ungefähr dreieinhalb Kilometern für eine Stadt mit
weniger als 300 000 Einwohnern — , Lärm, Beton, Stahlträger, seit neuestem hunderte
öffentlicher Miet-E-Scooter im Stadtbild, sah ich eine Frau in mittlerem Alter spazieren.
Ihr leuchtend roter Mantel war aus weichem, exquisiten Wollstoff, der Schnitt
schlicht und elegant. Drunter trug sie eine cremeweiße Siebenachtelhose aus
ebenso sichtlich exquisitem Wollstoff. Um die Brust eine Gurttasche mit
handgewebtem Trageband in Rottönen. Alles erlesen und lässig getragen. Dazu
feine, bequeme Stiefelchen. Der Kopf dominiert von extrem glatt und hellblond
aufbereiteten, halblangen Haaren. Eine geradezu feudale Erscheinung.
Ich renkte mir
den Hals nach ihr aus.
Am Morgen
hatte ich eine kleine Axt gekauft. Zum Holzspalten. Meine Füße lieben den
unebenen Waldboden. Die Haut in Regen und Wind, am Haar zerrt der Fauch: „Kleidung
muss was aushalten“, ein Schutz sein, Dienerin ihres Trägers, Vermittlerin zur
Wildnis. Das Stehen und Gehen in den kalten Monaten braucht Schuhwerk.
Würde die Dame
im roten Mantel im Wald überleben, wenn die urbane Kunstwelt zu Staub zerfallen
wäre? Nach wenigen Stunden in der Natur wäre die extravagante Montur am Ende,
das Gehen in den Stiefelchen unmöglich, die Frisur aufgelöst, eine hässliche
Ruine. Würde sie wissen, wie man ein Feuer macht oder Bucheckern öffnet? Kann
man mit Fug und Recht von Schönheit sprechen, wenn der Mensch verstümmelt und
in der wirklichen Natur überlebensunfähig gemacht wird?
Oder anders gefragt:
Eine anfällige Extravaganz, die ohne künstliche Weltblase sofort unterginge —
gibt es eine Schönheit des Instabilen und Überblähten? Eine Schönheit, die man
nicht nur am (künstlich geschulten) „Auge des Betrachters“ misst?
Diese
künstlichen Formungen, die Welten, die Moloche unserer Tage mit ihren technologischen
Sensationen und Bequemlichkeiten, der bald stündlich üppigeren Codierung eines zugleich
immer stärker verarmten Weltkonstruktes, generieren Lebensformen, die sui
generis in der freien Natur nicht lebensfähig sind. Der urbane Mensch ist ein Monstrum
der Robotik. Ein Grottenolm. Intelligenter Diskurs von Angesicht zu Angesicht
wird ihm unmöglicher mit jeder neuen Generation von Smartphones, die auf den
Markt geworfen wird. Obwohl er den ganzen Tag geradezu überladen wird mit
Zeichen und selbst pausenlos Signale sendet, ist er sprachlos geworden.
Die
Digitalisierung der Welt führt in eine Verstümmelung des Menschlichen, wie wir
sie nie erlebt haben und funktioniert wesentlich binär (eine Aufstockung zum Ternären
ist von wirklicher Vielfalt genauso weit entfernt): schwarz oder weiß, alles
Bunte wird auf schwarz oder weiß umgerechnet, und dies nur unter enormer
Eroberung von „Lebensraum“. Was man bis dato in einem prägnanten, schlanken Begriff
sagen konnte, bedarf heute eines riesigen Areals an chiffrierten Daten. Analog
dazu zerfließen immer mehr Zeitgenossen in übergewichtige, megafette Gestalten,
wie ich sie noch in meiner Kindheit mir nicht hätte vorstellen können.
Man weicht
zurück vor den knappen, aber markigen Sätzen älterer Zeiten, dem verbogenen
Heutigen wirken sie wie „Beleidigungen“. In der reduzierten digitalen
Schwarzweißwelt gerät man schnell unter Verdacht. Der gehetzte Zeitgenosse
unterschreibt seine Emails seit einiger Zeit, mit dem Rücken immer zur Wand,
gleich, um was es geht, mit der Schlussformel „liebe Grüße“. Wie ein Kind, das
den Alten beteuert, dass es brav ist und bereit zur Unterordnung. Dass dabei
gelegentlich die unverschämtesten Inhalte mit „lieben Grüßen“ abgerundet
werden, treibt die Absurdität auf die Spitze.
Fehlt nur
noch, dass die Wildnis nach Maßgabe von QR-Codes angelegt wird: Irrgärten zur
Co2-Reduktion. Es wäre ein neuer Marktsektor, die Wildnis abzuschaffen und die
gesamte Welt in einen Bausatz zu verwandeln, im Design und "under construction" von staatlich geprüften Naturexperten. Sind wir nicht großartig, wir
Menschen, und so innovativ? La nature, c'est nous! Eins und null - das genügt. Und überhaupt - nach Orwells Neusprech von wegen "Krieg ist Frieden", "Freiheit ist Sklaverei", "Unwissenheit ist Stärke" ist die zeitgenössische Rede von der "Natur" (bzw "Umwelt" oder gar "Klima") durchaus mit Vorsicht zu genießen: "Das Hässliche ist Schönheit." Und "Wahnland ist Natur."
Ich hatte
vergessen zu erwähnen, dass die leuchtend rote Dame kein erhobenes Haupt hatte.
Sie ging mit gesenktem Sklavennacken, in ihr teures Smartphone starrend, und
scheiterte an der Überquerung einer Straße.
27.11.2019 (In Karlsruhe)
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