Zwiesprache
und Wahrheit
Eine
Skizze über Dialog(un)fähigkeit im (vormals?) christlichen Abendland
Es ist unsere glanzvolle Freiheit,
alles zu erfinden, die Geschichte, die anderen, das Gespräch mit ihnen und die
Heilige Kuh der Postmoderne dazu: das heroisch inszenierte Selbst. Alles,
alles, was mich betrifft, ist in mein Ermessen gestellt. Was denkbar, wünschbar
ist, muss auch möglich sein. Die grenzenlose Kreativität der Selbstinszenierung
ist der bedeutendste Wirtschaftsfaktor.
Unser anderes Leben, jenes, das uns
erbarmungslos zwingt, unsere Selbstverwirklichung den kriminellen Energien von
Wirtschaft und Staat zu unterwerfen, weist in ganz andere Richtungen. Während
wir selbstmitleidig und heroisch um unsere ganz persönlich wahre Selbsterschaffung
kämpfen, unser ganzes Vermögen dafür hinblättern, ziehen Strukturen, die wir
nicht mehr im Blick haben können bei all den aufwühlenden privaten Wahrheiten
und Wichtigkeiten, die Schnüre immer enger und enger. Der einzelne, verstrickt
in die Fiktionen seiner Selbst und zunehmend all seiner emotionalen Stützen in Glauben,
Familie und Gemeinschaft beraubt, an den Wochenenden damit belastet, seine
Kinder vom getrennten ‚Ex’ zu holen oder wieder hinzubringen und an den
Werktagen die überbordende Bürokratie seiner Existenz zu organisieren, hat kaum
mehr die Kraft, Gedankenketten über seine eigene Problematik hinaus zu schaffen.
Geschweige denn, profunde Gespräche zu führen, sich mit dem anderen zu
berühren. Und dies eben nicht in der atemlosen Levitation über der Oberfläche,
sondern in der Tiefe, in der ruhigen gemeinsamen Hingabe an unteilbar einzige
Wahrheit.
Hören Sie es auch? Hören Sie auch den
vielstimmigen Einwurf, es gebe keine alleingültige Wahrheit, jeder habe seine
eigene Wahrheit, es könne nur viele Wahrheiten geben?
Was ist Wahrheit? fragte schon
diplomatisch Pilatus und leitete damit seine dem eigenen Machterhalt gewidmete
Entscheidung, Jesus hinrichten zu lassen, obwohl er ihn für unschuldig hielt,
ein. Jesus hatte von sich behauptet, er
sei die Wahrheit. Pilatus wusch sich seine Hände symbolisch in Unschuld,
nachdem er ihn zum Tode verurteilt hatte. Er schob die Schuld an diesem Urteil
den Juden zu. Die Kirche hat zu Recht im Glaubensbekenntnis nicht formuliert Gelitten unter dem jüdischen Hohen Rat…
(obwohl der wesentlich beitrug zum Todesurteil!), sondern Gelitten unter Pontius Pilatus… Die Juden hatten sich in ihrem eigenen
Wahrheitsanspruch so verrannt, dass ihnen Jesu Anspruch todeswürdig erschien. Pilatus aber war der, der nüchtern
‚keine Schuld an ihm’ finden konnte und doch das Urteil fällte. Er kannte die unteilbare
Wahrheit (hier über die Unschuld dieses Menschen) und löste sie argumentativ in
viele Wahrheiten auf, um seine Machtinteressen zu rechtfertigen. Des Pilatus
eigene ‚Wahrheit’ war, dass es Gründe gab, seinen politischen Stand nicht aufs
Spiel zu setzen.
Es ist überraschend für unser Denken,
dass Jesus der Wahrheit sein persönliches Gesicht gab. Wahrheit kann nur
unteilbar sein, so unteilbar eben wie eine Person. Es ist philosophischer Unfug,
von ‚vielen Wahrheiten’ zu sprechen. Es gibt meinetwegen viele Meinungen über
die Wahrheit oder viele Perspektiven auf eine Sache. Aber lassen Sie uns
redlich bleiben: Wahrheit ist Meinungen
und Teilwahrheiten gegenüber, die unter dem Verdacht der Verzerrung stehen
(‚halbe Wahrheit’), der vollständige Sachverhalt und Zusammenhang. Wahrheit ist
das Ganze, der Gegenstand, dem wir nachspüren sollten, anstatt ihn zu verteilen
wie eine selbstgebackene Geburtstagstorte.
Jesus sagte, er selbst sei wahr. Und zwar umfassend wahr: niemand komme an ihm
vorbei zu Gott. Für diese Aussage wurde er vonseiten der Juden als todeswürdig
betrachtet. Sie war und ist bis heute der Stein des Anstoßes. Daran stießen
sich nicht nur damalige gelehrte Juden, sondern die Verneinung dieser Rolle
Christi ist auch die Geburtstunde des Islam, der, durch innerchristliche Kämpfe
um die Natur Jesu Christi inspiriert, dies ausdrücklich ebenfalls als Blasphemie
und Verrat am Monotheismus wertet(e) und sich von Gott dazu berufen sah und sieht,
diese Ungeheuerlichkeit der Christen zurechtzurücken… Man verstand und versteht
Jesu Wahrheitsspruch als überheblich und Ausdruck der totalen menschlichen
Hybris. Der moderne, agnostische Mensch sieht darin vor allem einen
ausgewachsenen Wahrheitswahn, eine pathologische Selbstüberschätzung.
Man kann Jesu Ausspruch aber auch als
Rätselspruch, als Code deuten, der erst in mystischer Hingabe verstehbar wird. Wenn
man in diesem Rätselspruch keine private Meinung eines Menschen über sich
selbst sieht, wenn man ihm eine Verstehenschance gibt, wohlwollend tiefe Wahrheit
des Glaubens in ihm annimmt, kann er unser Denken in eine andere Dimension als
die bloß individualitätsbetonte Geisteshaltung führen. Spürt man dem Code im
Neuen Testament nach, stößt man auf Sätze, die zu diesem Wahrheitsspruch
passen: Im Johannes-Evangelium wird Jesus der ‚Logos’ genannt, das Wort, der
vollständige Sinn, der am Anfang stand. Jesus sagt, wer an ihn, die leibhaftige
Wahrheit, also das Ganze glaube, sei gerettet.
Gerettet woraus oder wovor? Der Heilige Paulus sagte, Jesus sei der Erbe des
Alls. Aus ihm seien alle Dinge geschaffen. Er sei die Wahrheit, das Ganze, das All(es) dieser Schöpfung. Er ging an der
Ignoranz und Wahrheitsfeindlichkeit ‚seines Eigentums’ zugrunde: Er war in der Welt und die Welt ist durch
ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber
die Seinen nahmen ihn nicht auf (Joh
1, 10f). Der menschliche Geist ertrug die Wahrheit nicht, so sehr lief sie
seinen Teilwahrheiten und temporären Meinungen zuwider…. Es ist uns in der Tat
unmöglich, die Wahrheit zu wissen.
Unser Erkennen ist und bleibt bruchstückhaft. Es ist des ungeachtet ein
Fehlschluss, an die Harmonie aller Widersprüche zu glauben, aus der Not der
vielen Widersprüche eine Tugend zu basteln und die Kompatibilität aller
Meinungen und Teilwahrheiten zu deklarieren. Damit soll und darf andererseits die
Bedeutung der Paradoxien oder scheinbaren
Widersprüche nicht aufgehoben werden.
Wir sind vor die schwere Aufgabe
gestellt, zu lernen, wie man das eine vom andern unterscheidet. Diese
Unterscheidung wird nur durch Vernunftarbeit, durch respektvolle Zwiesprache
mit Gott, Mensch und Schöpfung zu leisten sein. ‚Vernunft’ kommt von
‚vernehmen’. Vernunft ohne Dialog wäre eine sich selbst aufhebende Vorstellung.
Wir werden diese Fragen nicht mit uns selbst abmachen können, ohne zu versiegen.
Es scheint mir, davon abgesehen, aus
dem Blick geraten zu sein, dass es nicht nur viele Auffassungen über die
Wahrheit, also den vollständigen, uns meist nicht bekannten Sachverhalt, gibt, sondern
auch die Lüge, die bewusste Verneinung dessen, was uns als wahr erkennbar ist. Die
Grenzen zwischen Illusionen über sich selbst, Irrtum, Verblendung und krasser
Lüge sind manchmal nur schwer zu ziehen.
Wie viel Zwiesprache ist in der Welt
postmoderner Wahrheitsexplosionen möglich? Auf wie viele Dinge, die man
gemeinsam für wahr hält, kann man sich einigen? Die Zahl wird geringer. Gespräche
schaffen oft mehr Missverständnisse und Zerrüttungen, als dass sie zu
Annäherungen führen würden. Im Getümmel der vielen Wahrheiten erträgt kaum
jemand mehr die diskursive Infragestellung seiner individuellen Auffassungen. Die
rein theoretische Infragestellung individuellen Lebenswandels wird als
‚Diskriminierung’ verstanden.
In letzter Konsequenz bedeutet der
Glaubenssatz, dass es keine absolute Wahrheit gebe, dass es auch keinen sinnvollen
Diskurs mehr über die Dinge geben kann. Jeder verschanzt sich in ‚seiner’
Wahrheit. Diskussionen haben allenfalls Spaßcharakter. Sie sollen und wollen
angesichts der postulierten Relativität aller Dinge keinen gemeinsamen
Erkenntnisgewinn anstreben. Der pointierte Satz Schön dass wir mal darüber geredet haben! nimmt dies humorvoll aufs
Korn.
Die einsame Selbstinszenierung ist
instabil. Man will sein Leben völlig autonom gestalten und sehnt doch das
Wohlwollen, den Beifall und die Aufmerksamkeit der anderen herbei.
Eine maßlose, gesellschaftliche
Toleranzmaxime schafft neben gelegentlich befreiender Koexistenz des
Verschiedenartigen ganze Gebirge neuer Absurditäten. Wegen der verbreiteten
Gedanken- und Sprachlosigkeit artet Toleranz in das altgediente Unter-den-Teppich-kehren,
in Ignoranz aus.
Die Wahrheitsinflation bietet - wie
angedeutet - keine Basis mehr fürs Gespräch. Das Drama der vielen Wahrheiten zieht
die Freigabe aller gesagten Sätze zur lizenzfreien Verdrehung nach sich. Jeder
hat das Gesagte eben so verstanden, wie er es verstanden hat. Oder: Es kam eben so rüber - auch wenn’s nicht
so gesagt wurde. Es ist nahezu gleichgültig, was einer sagt. Es interessiert
vielmehr, was ich verstehen will. Das genaue Hinhören, das
Nachfragen, der Vorrang der Sachinhalte sind out. Und die Möglichkeit, dass ich
unrecht habe, mein Leben aufgrund meiner Fiktionen verpfusche, darf nicht
ausgesprochen werden. Es wäre der
postmoderne Tabubruch. Meine Gefühle können sich nicht irren. Gefühle sind der
zeitgenössische Kaffeesatz, aus dem bedenkenlos die persönliche Wahrheit
abgelesen wird.
Viele Menschen retten sich in die
These: Im Grunde meinen wir doch dasselbe.
Leider meinen wir aber ganz und gar nicht dasselbe, nicht einmal das gleiche, nicht
selten sogar das Gegenteil… Wieso sollte man zum Beispiel ohne weiteres
unterstellen, alle Religionen meinten ‚im Grunde’ dasselbe? Ist dieses ‚Im
Grunde’ womöglich die verfremdete, insgeheim ersehnte absolute Wahrheit? Es
gibt keinerlei sachlichen Hinweis auf die Richtigkeit dieser These. Religionen
kommen dem menschlichen Bedürfnis nach Halt angesichts der ‚letzten Dinge’
entgegen, aber deswegen meinen sie längst nicht dasselbe….
Im Spruch Im Grunde meinen wir doch dasselbe! drückt sich andererseits die Ahnung
aus, dass man sich gegenseitig im Glauben an gemeinsam für wahr Gehaltenes
erkennen, tief berühren kann, auch wenn man sich unterschiedlich ausdrückt. Es
ist ein großes Glück, wenn sich solches Erkennen einstellt. Dieses Glück bleibt
versagt, solange ich meine individuelle Wahrheit als das höchste Gut betrachte.
In allen Konflikten zwischen Menschen liegt
unbereute und unverziehene Schuld begraben, die immer wieder spukt. Gelegentlich
werden angesichts des Dilemmas Dialog, Vergebung und Frieden politisch voraussetzungslos
verordnet, scheinen jahrzehntelang sogar zu funktionieren. Brechen aber die
Unterdrückungsmechanismen solcher Politik im geschichtlichen Verlauf ab, kommt
das Gespenst des alten Zerwürfnisses wieder hoch wie der Geist, dessen Flasche
endlich entkorkt wird. In der Regel ist der Hass in der Zeit der Unterdrückung
gewachsen und gibt erstklassiges Material her für ambitionierte neue Machthaber.
Umso grausamer wird alte Schuld aufgerollt und immer wieder aufs Neue gerächt.
Dafür gab uns Jugoslawien ein schreckliches Beispiel.
Die eigene Schuld ist im (post-)modernen
Gespräch ein Reizthema. Das kirchliche Mea
culpa ruft in uns große Abwehr hervor. Wir vermeiden es, unsere Taten als
Schuld zu bewerten. Es geht mir nicht um die Verklärung einseitiger,
leichtfertiger Schuldzuweisungen früherer Zeiten. Aber Schuld ist und bleibt das
größte Hindernis zwischen den Menschen. Es sind nicht einfach nur Positionen,
die aufeinander prallen. Wir empfinden tief und schmerzlich das Unrecht, die
Verletzung der eigenen Würde, den Hass, wenn wir Opfer werden. Ohne Auseinandersetzung,
ohne Reue kann nicht verziehen werden. Mag ich als Geschädigter meinen inneren Frieden machen mit dem
Unrecht, das mir widerfahren ist - Versöhnung mit dem anderen, Vergebung, sind solange nicht möglich, solange der
Täter nicht bereut und sich meine Vergebung nicht wünscht. Es erscheint mir
daher irrig, sich einen christlichen Gott vorzustellen, der nach dem
Gießkannenprinzip ‚vergibt’. Ich hatte immer den Eindruck, dass der christliche
Gott mit jedem einzelnen ins Gespräch kommen will. ‚Wo bist du?’ ruft Gott schon in der Genesis den
Adam, der sich vor ihm verbirgt, weil er schuldig wurde. Adam kommt aus seinem
Versteck und schiebt die Schuld für sein Versagen auf Eva. Christliche
Tradition spricht von einem ‚Jüngsten Gericht’, in dem am Ende der Zeit Recht
geschaffen wird. So sehr wir uns wünschen, dass Recht da geschaffen wird, wo wir
ins Unrecht gesetzt wurden, so sehr fürchten wir, dass unser eigenes Unrecht
ans Tageslicht kommen, dass das, was wir hinter unserer vorgeblichen
‚persönlichen Wahrheit’ verborgen haben, als Illusion oder sogar Lüge entlarvt
werden könnte… Also hat man das Jüngste Gericht aus dem kirchlichen Leben
eliminiert. Um es pointiert zu sagen: Nicht Gott - ich muss recht behalten!
Die neuzeitliche Theologie und
Psychologie fördert die Sprachlosigkeit zwischen Gott und Mensch. Während in
den alten Kirchen der Priester in persona
Christi der Gemeinde so zuspricht, wie Gott nach christlicher Überlieferung
zum Menschen spricht (im Beichtgespräch bzw. dem Sakrament der Versöhnung
geschieht solcher Zuspruch individuell), ist mit zunehmender Entfernung von der
Tradition sowohl diese liturgische Gestaltung als auch das Beichtgespräch geschwächt
oder ganz abgeschafft worden. In den modernen protestantisch orientierten
Kirchen und Freikirchen redet vor allem der Mensch. Wem in der Kirche etwas
nicht passt, der macht eben seine eigene auf, Wahrheitsanspruch übrigens
inklusive. Ein Heer entwurzelter, nomadisierter Christen nippt krittelnd und
mäkelnd mal bei der, mal bei jener ‚Kirche’. Ich interpretiere selbständig die Bibel, wie es mir gerade passt, was
die Kirche glaubt(e), geht mich nichts an, interessiert mich nicht einmal. Ich bin der Souverän über mein Verhältnis zu Gott. Ich bete, was ich will. Ich schreie Halleluja und
‚Preiset den Herrn’, ich gebe mir Ausdruck in Liedern und Tänzen. Ich entscheide, was ich verstehen und
glauben will. Mit der Vorstellung,
dass Dinge über mein momentanes Verstehen gehen könnten, gehe ich nicht (mehr)
um. Der kirchenfreie Christ hat sich selbst zum Maß der Dinge des Glaubens
gemacht. Seine Gottesdienste sind Weihehandlungen des inszenierten Selbst. Gott
wird dem schon wohlgefällig zusehen und zustimmen…. Ein Gott, der in seiner
Größe immer einen Schritt hinter mir herhinken darf, ist genaugenommen
überflüssig! Ich muss ehrlich zugeben, dass mir da ein gestandener Agnostiker
glaubwürdiger erscheint!
Immer werden Schulddefinitionen dadurch
umgangen, dass man dem Opfer eine Mitschuld zuschreibt. Schuld wird so gegen
Schuld aufgerechnet, quasi weggekürzt. Und schon scheint Schuld keine Rolle
mehr zu spielen. Die tragische Situation der Notwehr wird als Verstehensmuster
für alle Situationen des Lebens angenommen.
Ich bin nicht selbst schuld an dem
Unrecht, das mir widerfährt. Auch dann nicht, wenn ich selbst Schuld auf mich
geladen habe. Unrecht ist Unrecht. Meines und das des anderen. Da hebt sich
nichts einfach auf! Die Notwehrsituation zwingt den Täter, gegen seine
Absichten, um des eigenen Überlebens willen, schuldig zu werden. Um es noch
einmal zu sagen: es ist infantil, jede unbequeme Herausforderung des Lebens als
Notwehrsituation zu interpretieren und sich selbst damit einen Freispruch für das
Unrechttun auszustellen. Diese selbstmitleidige Haltung ist eine kollektive
Neurose des deutschen Volkes. Das hitlersche ‚Ab heute wird zurückgeschossen!’
am Vorabend des Einmarsches in Polen meinte, dass das geprellte, beschissene,
gedemütigte deutsche Volk nun endlich zeige, ‚wo der Bartel den Most holt’,
‚zurückschießt’, sich wehrt, weil es so tief ins Unrecht gesetzt wurde. Über
das Ins-Unrecht-gesetzt-worden-sein hätte im politischen Gespräch und auf lange
Sicht gekämpft werden können und müssen. Das Unrecht aber, das Deutschland aus
der Haltung verzweifelter Infantilität über die Welt brachte, ist und bleibt tiefe,
tiefe Schuld. Sie verschwindet auch nicht dadurch, dass man einfach nicht mehr
darüber redet…
Wir erziehen unsere Kinder nicht (mehr)
zu dem Bewusstsein, dass sie
verantwortlich für ihr Verhalten sind. Wir entlasten sie unentwegt. Wir haben
ein sentimentales Verhältnis zu ihnen, missbrauchen sie als Projektionsfläche
für unsere eigenen Entwicklungsdefizite. Alle Argumente werden herangezogen,
die kleinen Übeltäter zu entlasten: er oder sie ist müde, hatte einen langen
Tag, ist im Unterzucker und außerdem haben wir so wenig Zeit für ihn oder sie
und überhaupt sind die Kleinen heute ja so belastet…! Dem Kind wird ein Koffer voller
Ausreden und Argumente für seine Selbstsucht mit auf den Weg gegeben. Benimmt es
sich vor aller Augen daneben, entschuldigen sich meist die Eltern dafür, anstatt
ihr Kind dazu zu ermutigen, sein Verhalten einzusehen und den, den er
geschädigt hat, um Verzeihung zu bitten. Ob so erzogene bzw. unerzogene
Menschen je beziehungsfähig sein werden? Sie hängen am Tropf elterlicher
Absolution gegen den Rest der genervten Welt und bleiben auf diese Weise unselbständig.
Man kann den Verdacht haben, dass die gestiegene Gewaltbereitschaft der Jugend
mit dieser anerzogenen herabgesetzten Frustrationstoleranz zu tun hat. Ohne
Erkenntnis über die konkrete eigene Verantwortung und Schuld kann kein Frieden
werden, wird kein einziges Gespräch möglich sein. Solange wir für uns selbst
immer eine Entschuldigung parat haben, die der andere gefälligst anzunehmen hat
- wie soll da Versöhnung, Frieden, echte Zwiesprache möglich sein? Ich bitte
darum, mich hier nicht misszuverstehen: es geht nicht darum, wie vielleicht vor
Jahrzehnten noch üblich, Kindern abzuverlangen, dass sie sich regelmäßig neue
Sünden zuschreiben, um im Beichtstuhl auch etwas erzählen zu können!
Je
größer die Lüge, desto schöner der Mantel, sagt das Sprichwort. Und wir lassen uns gerne von schönen Gewändern
blenden. Besser gesagt von dem, was man uns als schön und prächtig vorgaukelt. Wir
glauben dem Ansehen, der Macht und dem Sieg. Gesellschaftliche Macht und
geistigen Sieg haben manchmal übrigens nicht die Funktionsträger, sondern deren
medienwirksame, als Helden verehrte Kritiker. Die Wahrheit, das Gute, die Schönheit
können wahr, gut oder schön sein wie sie wollen - wir werden sie mehrheitlich
für falsch, böse und hässlich halten, wenn man uns im Appell an eine verschworene
Gemeinschaft, ein Wir, sagt, dies sei so. Die meisten Menschen begreifen diese
Mechanismen instinktiv und leben in ständiger Anpassung an das, was gerade angesagt
ist. Die Tuchfühlung mit den Meinungsmachern - auch den subversiven Meinungsmachern!
- gibt ihnen das Gefühl, Anteil an deren Möglichkeiten zu haben. Sie leben
nicht im Dialog mit wem oder was auch immer, sondern im strategischen Kontakt mit
der Macht
Der Kreis schließt sich hier. Die Idole, der Mainstream, besser die Mainstreams, der Zeitgeist werden zum Wahrheitsmuckefuck, auf den man sich
einigt. Die Reflexion, die Mühe um Annäherung an Wahrheit und Schönheit hat man
vollständig delegiert. Ist eben alles relativ. Fast ist man geneigt zu sagen, man
einige sich leichter auf die Lüge als auf die Wahrheit.
Je
größer die Lügen, je mehr sie sich schmiegen. Wer uns einwickeln will, wird uns vorspielen, mit
uns im Einvernehmen sein zu wollen. Viele streben in politisch erwünschten
Dialogen Vereinbarungen, gemeinsame Papiere und Verbindlichkeit an. Das ist
zwischen Partnern, die eine große Schnittmenge an Gemeinsamkeiten aufweisen,
möglich und zukunftsfähig. Gibt es aber diese Gemeinsamkeiten bei ehrlicher
Sicht auf die Sachlage kaum, wird jede getroffene Abmachung, jeder Vertrag ohne
Zögern gebrochen werden. Die meisten Menschen setzen sich lieber mit dem
Schmeichler und Vertragsbrecher an den Tisch als mit dem, der ihnen offene
Konfrontation auf Augenhöhe bietet. Die Verbindlichkeit hat unter der
beschriebenen Umständen erheblich abgenommen. Das Individuum bleibt schutzlos
und einsam mit seinen Kaffeesatzgefühlen im Gepäck zurück wie der verlorene
Sohn, nachdem er sein Vermögen verprasst hatte.
Copyright by Hanna Jüngling 2010