Freitag, 17. Mai 2013

Zwiesprache und Wahrheit



 
Rolf Breitinger: Schulz von Thun lässt grüßen. Edding-Zeichnung April 2013


Zwiesprache und Wahrheit
Eine Skizze über Dialog(un)fähigkeit im (vormals?) christlichen Abendland

Es ist unsere glanzvolle Freiheit, alles zu erfinden, die Geschichte, die anderen, das Gespräch mit ihnen und die Heilige Kuh der Postmoderne dazu: das heroisch inszenierte Selbst. Alles, alles, was mich betrifft, ist in mein Ermessen gestellt. Was denkbar, wünschbar ist, muss auch möglich sein. Die grenzenlose Kreativität der Selbstinszenierung ist der bedeutendste Wirtschaftsfaktor.
Unser anderes Leben, jenes, das uns erbarmungslos zwingt, unsere Selbstverwirklichung den kriminellen Energien von Wirtschaft und Staat zu unterwerfen, weist in ganz andere Richtungen. Während wir selbstmitleidig und heroisch um unsere ganz persönlich wahre Selbsterschaffung kämpfen, unser ganzes Vermögen dafür hinblättern, ziehen Strukturen, die wir nicht mehr im Blick haben können bei all den aufwühlenden privaten Wahrheiten und Wichtigkeiten, die Schnüre immer enger und enger. Der einzelne, verstrickt in die Fiktionen seiner Selbst und zunehmend all seiner emotionalen Stützen in Glauben, Familie und Gemeinschaft beraubt, an den Wochenenden damit belastet, seine Kinder vom getrennten ‚Ex’ zu holen oder wieder hinzubringen und an den Werktagen die überbordende Bürokratie seiner Existenz zu organisieren, hat kaum mehr die Kraft, Gedankenketten über seine eigene Problematik hinaus zu schaffen. Geschweige denn, profunde Gespräche zu führen, sich mit dem anderen zu berühren. Und dies eben nicht in der atemlosen Levitation über der Oberfläche, sondern in der Tiefe, in der ruhigen gemeinsamen Hingabe an unteilbar einzige Wahrheit.

Hören Sie es auch? Hören Sie auch den vielstimmigen Einwurf, es gebe keine alleingültige Wahrheit, jeder habe seine eigene Wahrheit, es könne nur viele Wahrheiten geben?
Was ist Wahrheit? fragte schon diplomatisch Pilatus und leitete damit seine dem eigenen Machterhalt gewidmete Entscheidung, Jesus hinrichten zu lassen, obwohl er ihn für unschuldig hielt, ein. Jesus hatte von sich behauptet, er sei die Wahrheit. Pilatus wusch sich seine Hände symbolisch in Unschuld, nachdem er ihn zum Tode verurteilt hatte. Er schob die Schuld an diesem Urteil den Juden zu. Die Kirche hat zu Recht im Glaubensbekenntnis nicht formuliert Gelitten unter dem jüdischen Hohen Rat… (obwohl der wesentlich beitrug zum Todesurteil!), sondern Gelitten unter Pontius Pilatus… Die Juden hatten sich in ihrem eigenen Wahrheitsanspruch so verrannt, dass ihnen Jesu Anspruch todeswürdig erschien. Pilatus aber war der, der nüchtern ‚keine Schuld an ihm’ finden konnte und doch das Urteil fällte. Er kannte die unteilbare Wahrheit (hier über die Unschuld dieses Menschen) und löste sie argumentativ in viele Wahrheiten auf, um seine Machtinteressen zu rechtfertigen. Des Pilatus eigene ‚Wahrheit’ war, dass es Gründe gab, seinen politischen Stand nicht aufs Spiel zu setzen.
Es ist überraschend für unser Denken, dass Jesus der Wahrheit sein persönliches Gesicht gab. Wahrheit kann nur unteilbar sein, so unteilbar eben wie eine Person. Es ist philosophischer Unfug, von ‚vielen Wahrheiten’ zu sprechen. Es gibt meinetwegen viele Meinungen über die Wahrheit oder viele Perspektiven auf eine Sache. Aber lassen Sie uns redlich bleiben: Wahrheit ist Meinungen und Teilwahrheiten gegenüber, die unter dem Verdacht der Verzerrung stehen (‚halbe Wahrheit’), der vollständige Sachverhalt und Zusammenhang. Wahrheit ist das Ganze, der Gegenstand, dem wir nachspüren sollten, anstatt ihn zu verteilen wie eine selbstgebackene Geburtstagstorte.
Jesus sagte, er selbst sei wahr. Und zwar umfassend wahr: niemand komme an ihm vorbei zu Gott. Für diese Aussage wurde er vonseiten der Juden als todeswürdig betrachtet. Sie war und ist bis heute der Stein des Anstoßes. Daran stießen sich nicht nur damalige gelehrte Juden, sondern die Verneinung dieser Rolle Christi ist auch die Geburtstunde des Islam, der, durch innerchristliche Kämpfe um die Natur Jesu Christi inspiriert, dies ausdrücklich ebenfalls als Blasphemie und Verrat am Monotheismus wertet(e) und sich von Gott dazu berufen sah und sieht, diese Ungeheuerlichkeit der Christen zurechtzurücken… Man verstand und versteht Jesu Wahrheitsspruch als überheblich und Ausdruck der totalen menschlichen Hybris. Der moderne, agnostische Mensch sieht darin vor allem einen ausgewachsenen Wahrheitswahn, eine pathologische Selbstüberschätzung.
Man kann Jesu Ausspruch aber auch als Rätselspruch, als Code deuten, der erst in mystischer Hingabe verstehbar wird. Wenn man in diesem Rätselspruch keine private Meinung eines Menschen über sich selbst sieht, wenn man ihm eine Verstehenschance gibt, wohlwollend tiefe Wahrheit des Glaubens in ihm annimmt, kann er unser Denken in eine andere Dimension als die bloß individualitätsbetonte Geisteshaltung führen. Spürt man dem Code im Neuen Testament nach, stößt man auf Sätze, die zu diesem Wahrheitsspruch passen: Im Johannes-Evangelium wird Jesus der ‚Logos’ genannt, das Wort, der vollständige Sinn, der am Anfang stand. Jesus sagt, wer an ihn, die leibhaftige Wahrheit, also das Ganze glaube, sei gerettet. Gerettet woraus oder wovor? Der Heilige Paulus sagte, Jesus sei der Erbe des Alls. Aus ihm seien alle Dinge geschaffen. Er sei die Wahrheit, das Ganze, das All(es) dieser Schöpfung. Er ging an der Ignoranz und Wahrheitsfeindlichkeit ‚seines Eigentums’ zugrunde: Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf  (Joh 1, 10f). Der menschliche Geist ertrug die Wahrheit nicht, so sehr lief sie seinen Teilwahrheiten und temporären Meinungen zuwider…. Es ist uns in der Tat unmöglich, die Wahrheit zu wissen. Unser Erkennen ist und bleibt bruchstückhaft. Es ist des ungeachtet ein Fehlschluss, an die Harmonie aller Widersprüche zu glauben, aus der Not der vielen Widersprüche eine Tugend zu basteln und die Kompatibilität aller Meinungen und Teilwahrheiten zu deklarieren. Damit soll und darf andererseits die Bedeutung der Paradoxien oder scheinbaren Widersprüche nicht aufgehoben werden.
Wir sind vor die schwere Aufgabe gestellt, zu lernen, wie man das eine vom andern unterscheidet. Diese Unterscheidung wird nur durch Vernunftarbeit, durch respektvolle Zwiesprache mit Gott, Mensch und Schöpfung zu leisten sein. ‚Vernunft’ kommt von ‚vernehmen’. Vernunft ohne Dialog wäre eine sich selbst aufhebende Vorstellung. Wir werden diese Fragen nicht mit uns selbst abmachen können, ohne zu versiegen.

Es scheint mir, davon abgesehen, aus dem Blick geraten zu sein, dass es nicht nur viele Auffassungen über die Wahrheit, also den vollständigen, uns meist nicht bekannten Sachverhalt, gibt, sondern auch die Lüge, die bewusste Verneinung dessen, was uns als wahr erkennbar ist. Die Grenzen zwischen Illusionen über sich selbst, Irrtum, Verblendung und krasser Lüge sind manchmal nur schwer zu ziehen.
Wie viel Zwiesprache ist in der Welt postmoderner Wahrheitsexplosionen möglich? Auf wie viele Dinge, die man gemeinsam für wahr hält, kann man sich einigen? Die Zahl wird geringer. Gespräche schaffen oft mehr Missverständnisse und Zerrüttungen, als dass sie zu Annäherungen führen würden. Im Getümmel der vielen Wahrheiten erträgt kaum jemand mehr die diskursive Infragestellung seiner individuellen Auffassungen. Die rein theoretische Infragestellung individuellen Lebenswandels wird als ‚Diskriminierung’ verstanden.
In letzter Konsequenz bedeutet der Glaubenssatz, dass es keine absolute Wahrheit gebe, dass es auch keinen sinnvollen Diskurs mehr über die Dinge geben kann. Jeder verschanzt sich in ‚seiner’ Wahrheit. Diskussionen haben allenfalls Spaßcharakter. Sie sollen und wollen angesichts der postulierten Relativität aller Dinge keinen gemeinsamen Erkenntnisgewinn anstreben. Der pointierte Satz Schön dass wir mal darüber geredet haben! nimmt dies humorvoll aufs Korn.
Die einsame Selbstinszenierung ist instabil. Man will sein Leben völlig autonom gestalten und sehnt doch das Wohlwollen, den Beifall und die Aufmerksamkeit der anderen herbei.
Eine maßlose, gesellschaftliche Toleranzmaxime schafft neben gelegentlich befreiender Koexistenz des Verschiedenartigen ganze Gebirge neuer Absurditäten. Wegen der verbreiteten Gedanken- und Sprachlosigkeit artet Toleranz in das altgediente Unter-den-Teppich-kehren, in Ignoranz aus.
Die Wahrheitsinflation bietet - wie angedeutet - keine Basis mehr fürs Gespräch. Das Drama der vielen Wahrheiten zieht die Freigabe aller gesagten Sätze zur lizenzfreien Verdrehung nach sich. Jeder hat das Gesagte eben so verstanden, wie er es verstanden hat. Oder: Es kam eben so rüber - auch wenn’s nicht so gesagt wurde. Es ist nahezu gleichgültig, was einer sagt. Es interessiert vielmehr, was ich verstehen will. Das genaue Hinhören, das Nachfragen, der Vorrang der Sachinhalte sind out. Und die Möglichkeit, dass ich unrecht habe, mein Leben aufgrund meiner Fiktionen verpfusche, darf nicht ausgesprochen werden. Es wäre der postmoderne Tabubruch. Meine Gefühle können sich nicht irren. Gefühle sind der zeitgenössische Kaffeesatz, aus dem bedenkenlos die persönliche Wahrheit abgelesen wird.
Viele Menschen retten sich in die These: Im Grunde meinen wir doch dasselbe. Leider meinen wir aber ganz und gar nicht dasselbe, nicht einmal das gleiche, nicht selten sogar das Gegenteil… Wieso sollte man zum Beispiel ohne weiteres unterstellen, alle Religionen meinten ‚im Grunde’ dasselbe? Ist dieses ‚Im Grunde’ womöglich die verfremdete, insgeheim ersehnte absolute Wahrheit? Es gibt keinerlei sachlichen Hinweis auf die Richtigkeit dieser These. Religionen kommen dem menschlichen Bedürfnis nach Halt angesichts der ‚letzten Dinge’ entgegen, aber deswegen meinen sie längst nicht dasselbe….
Im Spruch Im Grunde meinen wir doch dasselbe! drückt sich andererseits die Ahnung aus, dass man sich gegenseitig im Glauben an gemeinsam für wahr Gehaltenes erkennen, tief berühren kann, auch wenn man sich unterschiedlich ausdrückt. Es ist ein großes Glück, wenn sich solches Erkennen einstellt. Dieses Glück bleibt versagt, solange ich meine individuelle Wahrheit als das höchste Gut betrachte.

In allen Konflikten zwischen Menschen liegt unbereute und unverziehene Schuld begraben, die immer wieder spukt. Gelegentlich werden angesichts des Dilemmas Dialog, Vergebung und Frieden politisch voraussetzungslos verordnet, scheinen jahrzehntelang sogar zu funktionieren. Brechen aber die Unterdrückungsmechanismen solcher Politik im geschichtlichen Verlauf ab, kommt das Gespenst des alten Zerwürfnisses wieder hoch wie der Geist, dessen Flasche endlich entkorkt wird. In der Regel ist der Hass in der Zeit der Unterdrückung gewachsen und gibt erstklassiges Material her für ambitionierte neue Machthaber. Umso grausamer wird alte Schuld aufgerollt und immer wieder aufs Neue gerächt. Dafür gab uns Jugoslawien ein schreckliches Beispiel.
Die eigene Schuld ist im (post-)modernen Gespräch ein Reizthema. Das kirchliche Mea culpa ruft in uns große Abwehr hervor. Wir vermeiden es, unsere Taten als Schuld zu bewerten. Es geht mir nicht um die Verklärung einseitiger, leichtfertiger Schuldzuweisungen früherer Zeiten. Aber Schuld ist und bleibt das größte Hindernis zwischen den Menschen. Es sind nicht einfach nur Positionen, die aufeinander prallen. Wir empfinden tief und schmerzlich das Unrecht, die Verletzung der eigenen Würde, den Hass, wenn wir Opfer werden. Ohne Auseinandersetzung, ohne Reue kann nicht verziehen werden. Mag ich als Geschädigter meinen inneren Frieden machen mit dem Unrecht, das mir widerfahren ist - Versöhnung mit dem anderen, Vergebung, sind solange nicht möglich, solange der Täter nicht bereut und sich meine Vergebung nicht wünscht. Es erscheint mir daher irrig, sich einen christlichen Gott vorzustellen, der nach dem Gießkannenprinzip ‚vergibt’. Ich hatte immer den Eindruck, dass der christliche Gott mit jedem einzelnen ins Gespräch kommen will. ‚Wo bist du?’ ruft Gott schon in der Genesis den Adam, der sich vor ihm verbirgt, weil er schuldig wurde. Adam kommt aus seinem Versteck und schiebt die Schuld für sein Versagen auf Eva. Christliche Tradition spricht von einem ‚Jüngsten Gericht’, in dem am Ende der Zeit Recht geschaffen wird. So sehr wir uns wünschen, dass Recht da geschaffen wird, wo wir ins Unrecht gesetzt wurden, so sehr fürchten wir, dass unser eigenes Unrecht ans Tageslicht kommen, dass das, was wir hinter unserer vorgeblichen ‚persönlichen Wahrheit’ verborgen haben, als Illusion oder sogar Lüge entlarvt werden könnte… Also hat man das Jüngste Gericht aus dem kirchlichen Leben eliminiert. Um es pointiert zu sagen: Nicht Gott - ich muss recht behalten!
Die neuzeitliche Theologie und Psychologie fördert die Sprachlosigkeit zwischen Gott und Mensch. Während in den alten Kirchen der Priester in persona Christi der Gemeinde so zuspricht, wie Gott nach christlicher Überlieferung zum Menschen spricht (im Beichtgespräch bzw. dem Sakrament der Versöhnung geschieht solcher Zuspruch individuell), ist mit zunehmender Entfernung von der Tradition sowohl diese liturgische Gestaltung als auch das Beichtgespräch geschwächt oder ganz abgeschafft worden. In den modernen protestantisch orientierten Kirchen und Freikirchen redet vor allem der Mensch. Wem in der Kirche etwas nicht passt, der macht eben seine eigene auf, Wahrheitsanspruch übrigens inklusive. Ein Heer entwurzelter, nomadisierter Christen nippt krittelnd und mäkelnd mal bei der, mal bei jener ‚Kirche’. Ich interpretiere selbständig die Bibel, wie es mir gerade passt, was die Kirche glaubt(e), geht mich nichts an, interessiert mich nicht einmal. Ich bin der Souverän über mein Verhältnis zu Gott. Ich bete, was ich will. Ich  schreie Halleluja und ‚Preiset den Herrn’, ich gebe mir Ausdruck in Liedern und Tänzen. Ich entscheide, was ich verstehen und glauben will. Mit der Vorstellung, dass Dinge über mein momentanes Verstehen gehen könnten, gehe ich nicht (mehr) um. Der kirchenfreie Christ hat sich selbst zum Maß der Dinge des Glaubens gemacht. Seine Gottesdienste sind Weihehandlungen des inszenierten Selbst. Gott wird dem schon wohlgefällig zusehen und zustimmen…. Ein Gott, der in seiner Größe immer einen Schritt hinter mir herhinken darf, ist genaugenommen überflüssig! Ich muss ehrlich zugeben, dass mir da ein gestandener Agnostiker glaubwürdiger erscheint!
Immer werden Schulddefinitionen dadurch umgangen, dass man dem Opfer eine Mitschuld zuschreibt. Schuld wird so gegen Schuld aufgerechnet, quasi weggekürzt. Und schon scheint Schuld keine Rolle mehr zu spielen. Die tragische Situation der Notwehr wird als Verstehensmuster für alle Situationen des Lebens angenommen.
Ich bin nicht selbst schuld an dem Unrecht, das mir widerfährt. Auch dann nicht, wenn ich selbst Schuld auf mich geladen habe. Unrecht ist Unrecht. Meines und das des anderen. Da hebt sich nichts einfach auf! Die Notwehrsituation zwingt den Täter, gegen seine Absichten, um des eigenen Überlebens willen, schuldig zu werden. Um es noch einmal zu sagen: es ist infantil, jede unbequeme Herausforderung des Lebens als Notwehrsituation zu interpretieren und sich selbst damit einen Freispruch für das Unrechttun auszustellen. Diese selbstmitleidige Haltung ist eine kollektive Neurose des deutschen Volkes. Das hitlersche ‚Ab heute wird zurückgeschossen!’ am Vorabend des Einmarsches in Polen meinte, dass das geprellte, beschissene, gedemütigte deutsche Volk nun endlich zeige, ‚wo der Bartel den Most holt’, ‚zurückschießt’, sich wehrt, weil es so tief ins Unrecht gesetzt wurde. Über das Ins-Unrecht-gesetzt-worden-sein hätte im politischen Gespräch und auf lange Sicht gekämpft werden können und müssen. Das Unrecht aber, das Deutschland aus der Haltung verzweifelter Infantilität über die Welt brachte, ist und bleibt tiefe, tiefe Schuld. Sie verschwindet auch nicht dadurch, dass man einfach nicht mehr darüber redet…
Wir erziehen unsere Kinder nicht (mehr) zu dem Bewusstsein, dass sie verantwortlich für ihr Verhalten sind. Wir entlasten sie unentwegt. Wir haben ein sentimentales Verhältnis zu ihnen, missbrauchen sie als Projektionsfläche für unsere eigenen Entwicklungsdefizite. Alle Argumente werden herangezogen, die kleinen Übeltäter zu entlasten: er oder sie ist müde, hatte einen langen Tag, ist im Unterzucker und außerdem haben wir so wenig Zeit für ihn oder sie und überhaupt sind die Kleinen heute ja so belastet…! Dem Kind wird ein Koffer voller Ausreden und Argumente für seine Selbstsucht mit auf den Weg gegeben. Benimmt es sich vor aller Augen daneben, entschuldigen sich meist die Eltern dafür, anstatt ihr Kind dazu zu ermutigen, sein Verhalten einzusehen und den, den er geschädigt hat, um Verzeihung zu bitten. Ob so erzogene bzw. unerzogene Menschen je beziehungsfähig sein werden? Sie hängen am Tropf elterlicher Absolution gegen den Rest der genervten Welt und bleiben auf diese Weise unselbständig. Man kann den Verdacht haben, dass die gestiegene Gewaltbereitschaft der Jugend mit dieser anerzogenen herabgesetzten Frustrationstoleranz zu tun hat. Ohne Erkenntnis über die konkrete eigene Verantwortung und Schuld kann kein Frieden werden, wird kein einziges Gespräch möglich sein. Solange wir für uns selbst immer eine Entschuldigung parat haben, die der andere gefälligst anzunehmen hat - wie soll da Versöhnung, Frieden, echte Zwiesprache möglich sein? Ich bitte darum, mich hier nicht misszuverstehen: es geht nicht darum, wie vielleicht vor Jahrzehnten noch üblich, Kindern abzuverlangen, dass sie sich regelmäßig neue Sünden zuschreiben, um im Beichtstuhl auch etwas erzählen zu können!

Je größer die Lüge, desto schöner der Mantel, sagt das Sprichwort. Und wir lassen uns gerne von schönen Gewändern blenden. Besser gesagt von dem, was man uns als schön und prächtig vorgaukelt. Wir glauben dem Ansehen, der Macht und dem Sieg. Gesellschaftliche Macht und geistigen Sieg haben manchmal übrigens nicht die Funktionsträger, sondern deren medienwirksame, als Helden verehrte Kritiker. Die Wahrheit, das Gute, die Schönheit können wahr, gut oder schön sein wie sie wollen - wir werden sie mehrheitlich für falsch, böse und hässlich halten, wenn man uns im Appell an eine verschworene Gemeinschaft, ein Wir, sagt, dies sei so. Die meisten Menschen begreifen diese Mechanismen instinktiv und leben in ständiger Anpassung an das, was gerade angesagt ist. Die Tuchfühlung mit den Meinungsmachern - auch den subversiven Meinungsmachern! - gibt ihnen das Gefühl, Anteil an deren Möglichkeiten zu haben. Sie leben nicht im Dialog mit wem oder was auch immer, sondern im strategischen Kontakt mit der Macht
Der Kreis schließt sich hier. Die Idole, der Mainstream, besser die Mainstreams, der Zeitgeist werden zum Wahrheitsmuckefuck, auf den man sich einigt. Die Reflexion, die Mühe um Annäherung an Wahrheit und Schönheit hat man vollständig delegiert. Ist eben alles relativ. Fast ist man geneigt zu sagen, man einige sich leichter auf die Lüge als auf die Wahrheit.
Je größer die Lügen, je mehr sie sich schmiegen. Wer uns einwickeln will, wird uns vorspielen, mit uns im Einvernehmen sein zu wollen. Viele streben in politisch erwünschten Dialogen Vereinbarungen, gemeinsame Papiere und Verbindlichkeit an. Das ist zwischen Partnern, die eine große Schnittmenge an Gemeinsamkeiten aufweisen, möglich und zukunftsfähig. Gibt es aber diese Gemeinsamkeiten bei ehrlicher Sicht auf die Sachlage kaum, wird jede getroffene Abmachung, jeder Vertrag ohne Zögern gebrochen werden. Die meisten Menschen setzen sich lieber mit dem Schmeichler und Vertragsbrecher an den Tisch als mit dem, der ihnen offene Konfrontation auf Augenhöhe bietet. Die Verbindlichkeit hat unter der beschriebenen Umständen erheblich abgenommen. Das Individuum bleibt schutzlos und einsam mit seinen Kaffeesatzgefühlen im Gepäck zurück wie der verlorene Sohn, nachdem er sein Vermögen verprasst hatte.
Copyright by Hanna Jüngling 2010

Mittwoch, 1. Mai 2013

Schloss Mondésir und das Himmlische Jerusalem - Eine ultramontane Streitschrift zum vielbeklagten Reformstau

(Leseprobe unten) 

Hanna Jüngling: Schloss Mondésir und das himmlische Jerusalem. Eine ultramontane Streitschrift zum vielbeklagten Reformstau. Zeitschnur Verlag Karlsruhe 2012
ISBN  978-3-940764-12-6

Bestellung im Buchhandel über ISBN oder über www.zeitschnur.de/verlag





3. Brauchen wir Sex?

Ich brauche nur einmal im Leben wirklich überlebensnotwendig Geschlechtsverkehr – nämlich den meiner Eltern, wenn sie mich zeugen. Geschlechtsverkehr, den ich vollziehe, brauchen nur die, die aus mir entstehen sollen und Gott, der sie ins Leben rufen will.

Ich brauche folglich den durch mich vollzogenen Geschlechtsverkehr nicht notwendigerweise. Wenn ich ihn für notwendig halten will, bezieht sich die Notwendigkeit ganz und gar nicht auf mich. Bliebe ich jungfräulich, würde es mein persönliches Überleben und mein Glück (was nicht mit Momenten der Lust gleichzusetzen ist) in keiner Weise einschränken. Ob Geschlechtsverkehr wirklich „gebraucht“ wird, um eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau innig zu gestalten, darf getrost bezweifelt werden. Grundsätzlich braucht niemand „Sex“, um zu lieben oder geliebt zu werden. Ungezählte jungfräuliche Menschen haben das bereits vorgelebt. Die große Freude einer Beziehung zwischen Mann und Frau ist nicht weniger erotisch, wenn sie keinen sexuellen Kontakt sucht. In einer normalen Ehe bleiben die Partner nicht aufeinander fixiert. Die Männer empfinden natürlich auch Zuneigung zu anderen Frauen – gerade weil sie ihre Frau kennen und lieben. Und die Frauen lieben natürlich auch andere Männer. Denn das Alleinstellungsmerkmal einer ehelichen Beziehung ist tatsächlich nicht die Liebe und Zuneigung, sondern ihre Öffentlichkeit und der Vollzug der Sexualität samt der Ankunft von Nachkommen und allem, was daraus im Alltag folgt. Die Setzung des Alleinstellungsmerkmales ist ein bewusster und willentlicher Akt. Dieser Akt tut sich nicht von allein. Wer sich nicht selbst immer wieder daran erinnert, dass er ein Versprechen gegeben hat, das vor Gott und mit Gottes Hilfe gilt, verliert leicht die Fassung im Umgang mit anderen Menschen. Wir erleben es tagtäglich in unserer Gesellschaft, die glaubt, auf Gottes Hilfe und Maß verzichten zu können und für das Einhalten von Versprechen zu infantil geworden ist. Die lebenslange christliche Ehe ist kein romantisches Gefühlsinstitut, sondern ein Bahnhofsbau: wer heiratet, will einen Ort schaffen, an dem Menschen ankommen können. Die Trauer der Paare, die keine Kinder bekommen, ist nicht anachronistisch. Es bleibt eine Katastrophe für die Betroffenen, wenn in der Bahnhofshalle immer Züge einfahren, aus denen keiner aussteigen mag! Kinderlose Eheleute sehnen sich nach einer Weitung ihrer Gemeinschaft und suchen nach einer Zeit der Krise fast immer andere Möglichkeiten, dies zu verwirklichen. 

Geschlechtsverkehr verweist immer auf Gott und immer auf Menschen, die entstehen können. Jedes Mal, wenn ein Mann und eine Frau miteinander schlafen, klingt der Ruf nach weiteren Menschen mit – auch wenn bei den meisten sexuellen Begegnungen natürlicherweise jetzt gerade kein Kind entstehen würde. Es ist ein Prinzip, kein Automatismus. Wer sich in dieser Weise mit dem anderen vereinigt, ist wie einer, der sich selbst ganz und gar aussäht, um Neues hervorzubringen. Dass wir das lustvoll erleben und in Gemeinschaft tun dürfen, dabei nicht einsam bleiben müssen, ist Geschenk. Auf Geschenke hat man keinen Anspruch. Wir haben aber den Spieß umgedreht: wir halten das Geschenk für unser Recht und verweigern dabei, uns selbst hinzugeben an die, deren Stimmen in der Tiefe unseres Leibes schon von ferne klingen. Wir verstopfen unsere Ohren, um sie nicht zu hören, machen uns gefühllos, unempfänglich, um ihre vitale Gegenwart in unserem Bewusstsein nicht mehr zu spüren. Unser „Sex“ verliert seinen Glanz, wird so taub wie unser Gehör und so stumpf wie unser paralysierter Leib. Wir beanspruchen „Sex“, um ihn denen, denen er gehörte, vor der Nase wegzuschnappen. Wir „machen Sex“, um vor der heiligen und göttlichen Geschlechtlichkeit zu fliehen, zu der wir berufen sind. Zur Geschlechtlichkeit berufen zu sein heißt, dass man sich vollkommen hingibt an Gott und Menschen, die hinzukommen sollen zu seinem Reich. Dieser Vorstellung liegt die Auffassung vom „Leib Christi“ zugrunde, der „aufwachsen“, zu seiner Reife kommen soll wie wir es von individuellen Lebewesen kennen: Ihrem genetischen Code ist eine bestimmte Gestalt, die sich entwickeln kann, „einprogrammiert“. Wir erleben dieses Erreichen der „vollen Zahl“1 in der Zeit-Dimension. Die spezifische Aufgabe der Eheleute ist es, in der Sexualität leibhaftig und geistig diese „volle Zahl“ zu „generieren“. Es gibt, in einem tiefen Verständnis, keinen Unterschied zwischen Zölibatären und Ehepaaren. Der eine wie der andere verdankt sich dem Geschlechtsverkehr seiner Eltern und Gottes Ruf in dieses Leben. Beide geben sich selbst ganz und gar hin, um das Reich Gottes mit den Menschen zu füllen, nach denen der Schöpfer sich sehnt. Die Aufgabe insbesondere des Priesterzölibats ist es, durch Verzicht auf eigene Nachkommen frei zu sein dafür, gewissermaßen „größere generische Einheiten“ zu überblicken und zu leiten. Dass hier zwei Berufungswege beschritten werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Zwillingswege sind. Eheleute hören zunächst ihre leiblichen Kinder in sich selbst klingen. Das ist notwendig, damit ihre konkreten Kinder auch von ihnen so ersehnt werden, wie der Schöpfer sie ersehnt. Bald weitet sich aber der Horizont – es kommen immer mehr hinzu zu einer solchen Ehe und Familie, nicht nur die leiblichen Kinder, sondern auch viele andere, die hier Resonanz finden. Zölibatäre gehen hier den „kurzen Weg“. Sie hören gleich von Anfang an die Stimmen aller, die von Gott ins Leben gerufen werden wollen, im eigenen Leib klingen und eilen an die Spitze des Trosses, um die, die direkt mit der leibhaftigen Sorge um die „volle Zahl“ beschäftigt sind, im Auftrag Jesu zu „hüten“. Manche leisten dieses Hüten weniger durch das Führen, Leiten und Lehren als durch tätige Nächstenliebe und immerwährendes Gebet. So wenden sich, wenn es recht steht, sowohl die Zölibatäre als auch die Eheleute immer mehr von sich selbst weg und den vielen anderen zu. Sie ahmen die Haltung Gottes zu uns nach. Sie tun es als Männer und als Frauen. Es ist der Antwortgesang auf Gottes Liebe. Und diese Liebe Gottes ist in sich so bewegt und lebendig, dass das ineinander verschlungene Mann- und Frausein vollkommener Ausdruck davon ist. Für Zölibatäre ist daher das Mann- oder Frausein genauso gewollt und schön wie für Eheleute. Sie sind wie alle anderen Menschen natürlicherweise mit dem anderen Geschlecht verwoben. Sie haben ja nur versprochen, auf Geschlechtsverkehr und all die tausend Bindungen, die daraus praktisch und alltäglich wachsen, zugunsten einer kontemplativen, karitativen oder priesterlichen Bindung an Jesus, die das Zeichen der Ehe „überspringt“, zu verzichten. Nicht mehr und nicht weniger. Damit ist weder die Verneinung der eigenen Geschlechtlichkeit noch eine Absage an die innige Verwobenheit mit dem anderen Geschlecht gemeint. Denn wie schon der heilige Paulus sagte, ist der Mann nichts ohne die Frau und die Frau nichts ohne den Mann.2 In jedem Fall drücken Personen in jedem Stand diese innergöttliche Lebendigkeit und Sehnsucht aus. Dass wir in jedem Stand Versuchungen, die uns in die Untreue treiben wollen, ausgesetzt sind, spricht nicht gegen das eben Gesagte.
Wir „brauchen“ keinen „Sex“ für uns selbst! Aber wir brauchen das erfüllte Bewusstsein, ein Mann oder eine Frau zu sein, von Gott so gewollt und geliebt zu sein und ihn, den lebendigen, bewegten und bewegenden Schöpfer im Humor und in der Zärtlichkeit für das andere Geschlecht auszudrücken.
Jesus hat zu der Frage, ob man seinen sexuellen Impulsen zwingend nachgeben müsse, eine erfrischend harte und unverklemmte Antwort: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Wenn dich dein rechtes Auge verführt, dann reiß es aus und wirf es weg!3  Das heißt: nein, man muss nicht seinen sexuellen Impulsen nachgeben! Jeder wird angefochten durch Impulse aller Art, die nicht am Platz sind. Jesus drückt dies deutlich aus. Aber er drückt auch aus, dass das keinesfalls richtungweisend sein darf für mein Handeln! Der Geschlechtsverkehr ist und bleibt für Christen in Übereinstimmung mit der ungebrochenen Überzeugung der Kirche seit 2000 Jahren eine exklusive Aufgabe eines Ehepaares. In allen anderen Beziehungen gibt es keinen solchen Vollzug, auch wenn er möglich wäre, reizvoll erscheint und uns möglicherweise eine Zeit lang hart anficht. Es ist eine absolut klare Aussage Jesu, die andererseits eine enorme Weitung menschlicher Liebesbeziehungen andeutet. Anstatt Liebe zwischen Menschen notorisch in einer sexuellen Lesart wahrzunehmen, haben Christen eine enorme Freiheit: wir können, dürfen und sollen sogar viele andere lieben, mit aller Tiefe, allem Respekt, mit Innigkeit, Leidenschaft, Zärtlichkeit und Hingabe, aber nicht im Geschlechtsverkehr, nicht durch die sinnleere Überbetonung der Sexualität, sondern durch all die anderen Möglichkeiten und Ausdrucksformen, die in jeder individuellen Konstellation zwischen zwei Menschen zur Verfügung stehen! Die aufgaben- und sinnzentrierte Begrenzung des Geschlechtsverkehrs ist die Voraussetzung für die besondere und tiefe Liebe zu all den Menschen, die Gott in unsere Biografien hineinfügt. Jesu „harte“ Worte bringen dolcezza, Süße und Milde ins Leben. Es ist wahrhaftig so, wie er selbst es gesagt hat: sein Joch ist zwar ein Joch, aber es drückt nicht, seine Last ist leicht!4 Christenleben weisen aus diesem Grunde eine große Leichtigkeit, einen spezifischen Swing auf.

1  Vgl. Röm. 11, 25 Der Begriff der „vollen Zahl“ ist hier zwar nur auf die Heiden bezogen, aber das widerspricht nicht der von mir hier entwickelten Lesart des Begriffes als generischem Gestaltbegriff.
2  1. Kor. 11,11
3  Mt. 5, 28f
4  Mt. 11,30