Dienstag, 13. August 2019

Die Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“

Die Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“


Die „relative“ Wahrheit — Küchenphilosophie

In der Küchenphilosophie, der man weithin frönt, scheint man sich darüber einig zu sein, dass Wahrheit ein relativer, eigentlich sogar überflüssiger und anwendungsunsicherer Begriff sei: Niemand kennt sie, niemand hat sie je gesehen, viele Dinge sind undurchsichtig, und jeder hat schon erlebt, dass er Dinge für wahr hielt, die dann doch ganz anders waren.
Wir pochen jedoch alle plötzlich auf die Wahrheit, sobald es ans Eingemachte geht. Jemand unterstellt uns etwas, jemand behauptet etwas, das anders war, jemand sagt vor Gericht unter die Eid nicht die Wahrheit — plötzlich wissen wir sehr gut, was Wahrheit in einem praktischen Sinn ist, wo wir zuvor aus einem bequemen Pragmatismus heraus großzügig die Wahrheit an die Relativität jeglicher Tatsächlichkeit verkaufen wollten.
Die erbitterte Propaganda über angebliche oder wirkliche Fake News und die Lügenpresse beweisen einmal mehr, dass wir uns etwas in die Tasche lügen und sehr wohl allesamt einen scharfen, wenn auch unbewussten und unreflektierten Wahrheitsbegriff haben.
Vor allem, wenn wir die Wahrheit nicht anerkennen wollen, obwohl wir sie erkennen, flüchten wir in die Ausflucht, Wahrheit könne ja niemand „absolut“ wissen — dabei ist Wahrheit in sich selbst ein absoluter Begriff, ebenso wie „Lüge“, „Reinheit“, „Falschheit, „Tugend“, „Licht“ oder „Gott“. Wahrheit kann ebenso wenig nur ein bisschen wahr sein wie Reinheit ein bisschen unrein sein könnte. Und Gott ist niemals nur halb Gott, sondern immer ganz Gott, sonst ist  er nicht Gott. Und wer hätte je Licht gesehen, das nicht leuchtet („schwach leuchten“ ist dabei immer noch „leuchten“ und nichts anderes!).


Wahrheitstheorie: Logik und Erkenntnis

In der Philosophie hat man sich insbesondere in der Neuzeit den Kopf darüber zerbrochen, welche Wahrheitstheorie sich aufstellen lässt, ohne dabei in Nöte zu kommen und sich an Sätzen wie „Ich lüge“ abgearbeitet, weil der, der ihn sagt, folglich die Wahrheit sprechen müsste, indem er ihn sagt, durch die globale Reichweite seiner Aussage aber nicht im Sinne von „minus mal minus ist plus“ im Reich des Wahren landen kann, sondern weiterhin gelogen haben müsste, weil er, wenn er durch diesen Satz ausdrückt, dass er die Wahrheit sagt, eben wieder gelogen haben muss, weil er doch eben sagt, er lüge.
Tarski hat solche Sätze aus der formalen Sprache verbannt. Wenn wir so anfangen, können wir aufhören zu denken!
Ein Satz dieser Struktur ist ein hübsches Spiel mit dem Widersprüchlichen und den Antinomien, aber es ist fraglich, ob solche Sätze im Ernst überhaupt sinnvoll je gesagt werden können oder gesagt werden. Wer zugibt, dass er lügt, wird in aller Regel den Sachverhalt eingrenzen, über den er gelogen hat, etwa wenn einer bereut, seine Mutter belogen zu haben und ihr gesteht „Ich habe, als ich gestern p sagte, gelogen. Bitte verzeih mir“. Die Bitte um Verzeihung oder eine reuige Geste werden die Eingrenzung der Lüge noch befestigen. Es wäre nicht begründbar, dem Pönitenten deshalb zu unterstellen, dass er immer lügt. Und es ist logisch schlicht unmöglich, immer zu lügen. Darum wird der Satan zwar als „Vater der Lüge“ charakterisiert, aber ihm wird bescheinigt, dass er durchaus als „Engel des Lichts“ auftritt. Das heißt: Nicht alles, was er sagt, ist eine „axiomatische“ Lüge, sondern die Relationen, die er suggeriert, führen zur Lüge und Falschheit.

Wenn wir philosophisch über Wahrheit reden, meinen wir nicht, dass ein Sachverhalt als bloßes Axiom als wahr beurteilt werden kann, sondern wir analysieren, ob Schlussverfahren zu Wahrheit führen oder nicht, in welchen Relationen von Sätzen wir Wahrheit bestimmen können und wo nicht. Wir beurteilen im wesentlichen Schlussverfahren und gehen von dem aus, was nachvollziehbar der Fall ist. Das, was der Fall ist, drücken wir in den Sätzen p, q aus, in Existenz- und Allaussagen. Relationale Aspekte werden über Prädikatenlogik und weitere Verfahren bestimmt.
Wollten wir jeden Satz p oder q hinterfragen in dem Sinne, ob er überhaupt wahr sei, könnten wir nicht mehr miteinander kommunizieren. Wir setzen die Wahrheit von p und q voraus, wenn wir darüber reflektieren, in welchen Relationen wir von p und q wahr reden können. In aller Regel verlassen wir uns auf die Evidenz der Wahrheit bestimmter Prämissen. Manche Evidenzen sind ohnehin objektiv nicht hinterfragbar. Etwa der Satz einer menschlichen Person „Ich wurde geboren“. Wir können bezweifeln, dass er 1987 geboren ist oder in Heidelberg, aber wir können, solange er vor uns steht, nicht ohne weiteres bezweifeln, dass er geboren ist. Der Satz "Ich bin vom Himmel gefallen" oder "Mich hat der Klapperstorch gebracht" würden im Ergebnis den Begriff "Mensch" auflösen. Es gäbe nach einer solchen Logik keine Menschen mehr, weil sie von Engeln, Geistern oder Meteoriten begrifflich nicht mehr unterscheidbar wären.
Zugrunde liegt dem Satz "Ich wurde geboren" die Existenzaussage, dass es den Menschen gibt. Darauf fußt die Allaussage "Alle Menschen werden geboren". Wenn wir bezweifeln wollten, dass der Satz "Ich bin geboren" wahr ist, müssten wir bestreiten, dass alle Menschen geboren werden oder, dass X ein Mensch ist. Und wir können nicht bezweifeln, dass er, wenn er Mensch ist und alle Menschen geboren werden, an einem Ort zu einer bestimmten Zeit geboren ist. Die Aspekte von Ort und Zeit gehören zum Geborenwerden hinzu. Zur Sicherung der Aspekte konkretes Geburtsjahr oder konkreter Geburtsort haben wir ein System der Zeugnisse und Quellen erschaffen, die uns einigermaßen darüber versichern sollen, was der Fall ist (etwa durch Geburtsurkunden, Taufregister etc.). Die bloße Angewiesenheit auf das Zeugnis anderer hinsichtlich vieler Tatsachen kann nicht dazu berechtigen, nun alles als fraglich oder "relativ" anzusehen. Nur wenn in den Relationen der kommunizierten Dinge und Zeugnisse über die Dinge untereinander Unstimmigkeiten auftauchen, haben wir einen hinreichenden Grund zum Zweifel an der Wahrheit einer Behauptung. Vorher nicht.
Der alte Rechtsgrundsatz „In dubio pro reo“ zeigt auf, dass wir ins Barbarische und Paranoide abrutschen, wenn wir außerhalb triftiger Gründe Wahrheit bezweifeln, wo sie evident scheint.
Mit diesem Satz wird oft umgekehrt unredlich jongliert, wenn man notwendige Revisionen eines geglaubten Faktums verhindern will.
Hier ist Vorsicht in mehrere Richtungen nötig.
In jedem Fall sollten sich alle Küchenphilosophen, die Leuten mit guten Argumenten und einem Vorsprung an Wissen vorwerfen, sie seien "arrogant" oder hielten sich für "unfehlbar", zurückhalten:
Überheblich und arrogant ist stets die Ignoranz, die sich nicht die Mühe zur Wahrheitsfindung machen will und mit einem oberflächlichen "Es gibt eh keine absolute Wahrheit" jede ernsthafte Gedankenarbeit diffamiert.
Dass natürlich die Entlarvung der Ignoranz und der Fehlschlüsse schmerzlich für den ist, der mit ihnen aufgetrumpft hat, ist ein psychologischer Aspekt, der für die Wahrheit der Dinge und Beziehungen der Dinge untereinander irrelevant ist. 

Die typischen Fragen philosophisch interessierter Jugendlicher wie etwa „Woher weiß ich, ob das, was du rot nennst, nicht das ist, was ich grün nenne“, in dem Falle also jede Rede von Farben als grundsätzlich wahrheitsunfähig annimmt, weil wir nicht wissen, ob wir alle denselben Sinneseindruck meinen, führt schnell ins Nichts. Niemand kann das lösen, und wir erkennen eines reiferen Tages, dass es hinsichtlich der Wahrheit gleich ist, ob wir dieselbe sinnliche Erfahrung haben. In diesem Sinne mag Wahrheit tatsächlich „relativ“ sein, dass X bei „rot“ etwas anderes wahrnimmt als Y, nur wissen es beide nicht voneinander, können es nicht wissen, aber dennoch reden sie jeweils von einer stabilen Relation zwischen sinnlicher Farbwahrnehmung und Begriff.
Relevant ist, dass wir einen Farbbegriff haben, den wir teilen und mit Hilfe dessen wir wahre oder falsche Aussagen machen können. Ob wir haargenau dieselben Empfindungen dabei haben, spielt hinsichtlich der Wahrheit keine Rolle.
Wir erkennen, dass Wahrheit nicht einfach nur ein abstrakter Begriff ist, sondern in einem gedanklichen (subjektiven) und sozialen (intersubjektiven) Akt aus der lichthellen objektiven Welt in die Mitte der Menschheit gestellt wird. Dass wir die vollständige Wahrheit aller Dinge nicht erfassen können, lässt natürlich nicht den größenwahnsinnigen Schuss des Küchenphilosophen zu, dass deshalb alle Dinge „relativ“ seien.
Die Wahrheit ist immer die Wahrheit. Auch wenn wir nur Teile von ihr erkennen, sind sie doch, wenn sie wahr sind, tatsächlich absolut wahr, ebenso wie das Licht, das wir von der Sonne erhalten, nicht für X ein anderes ist als für Y, sondern immer dasselbe, absolute Licht, auch wenn wir subjektiv nuancierte Wahrnehmungen davon haben sollten. Das Licht verliert dadurch nicht seinen objektiven Charakter! Sofern es sich um dasselbe Licht handelt, kann es im wesentlichen bei X nicht zu Erfahrungen führen, die denen bei Y widersprechen.

Die oft aufgeworfene Frage, ob diese Objektivität nur Ausdruck unseres Bewusstsein sein und an sich gar nicht einem „Außen“ an sich selbst existieren könnte, beantworte ich für mich abschlägig: Wenn wir dies annehmen wollten, müssten wir klären, inwiefern wir überhaupt dazu kommen, miteinander über etwas zu reden und dabei der hartnäckigen Illusion erliegen, wir wüssten, worüber wir gemeinsam reden. Wir können eines aufgrund der Tatsache schließen, dass wir uns überhaupt verständigen können, schon einmal eines schließen, nämlich dies, dass es neben dem Individualbewusstein auch ein Allbewusstsein (Intersubjektivität) der Menschheit gibt. Den Ausschluss eines Außen, das auf unser Bewusstsein zurückwirkt und auf das wir zurückwirken, kann man nicht problemfrei begründen. Vielmehr legt die Relation von Indivualbewusstein und Allbewusstsein nah, dass es auch ein menschheitsindividuelles Allbewusstsein in Relation zu einem menschheitsübersteigenden Allbewusstsein geben könnte. Dabei müsste gefragt werden, wo die Trennlinien der verschiedenen Bewusstseinsebenen liegen, die wir doch empirisch erfahren. Wenn Wittgenstein seinen Tractatus mit dem Satz begann "Die Welt ist alles, was der Fall ist", und ihn schloss mit dem Satz "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen", dann meint dies, dass die bloße Tatsache, dass wir sinnvoll von etwas reden, Faktizität bereits voraussetzt. Wittgenstein weist immer wieder darauf hin, dass wir Sätze verstehen, ohne dass uns einer erklärt hat, wie man einen Satz versteht. Man kann daher nur von Dingen reden, der der Fall sind. So ist der Schlusssatz nicht normativ aufzufassen, sondern analytisch: Man soll nicht, sondern man "muß" schweigen, kann also nicht anders, als zu schweigen über das, wovon man nicht sprechen kann. Ich verstehe Wittgenstein so, dass es ihm gleich ist, ob wir meinen, es gäbe ein Außen außerhalb unser oder ob alles Projektion unseres Bewusstseins sei. Darüber können wir spekulieren bis ans Ende der Tage, ohne hier zu einer Erkenntnis vorzudringen, die mehr als bloßes Spekulieren bliebe. Übertragen auf die Wahrheitsfrage bedeutet das, dass auch hier nicht die Dinge an sich selbst unwahr sein können, sondern die Relationen, in die wir sie sprechend stellen. Es ist vollkommen sinnlos, darüber zu streiten, ob es "den" Gott gibt, denn wir sprechen von ihm, seitdem es Menschen gibt. Von Bedeutung ist, ob wir in wahren oder falschen Relationen von ihm sprechen. Jemand kann sagen: "Aber du kannst doch eine Geschichte erfinden, also ist sie nicht wahr." Ich denke, das ist ein Fehlschluss: was erfunden wird, ist nicht unwahr, sondern erfunden. Allerdings würde die Diskussion über das Erfinden von Welten hier zu weit führen, hat aber schon Ansatzpunkte erhalten (s.o.). Nur soviel sei gesagt: Entweder einer kennzeichnet eine Geschichte als "erfunden", dann ist sie als erfundene Geschichte wahr. Oder er behauptet, sie sei genauso "wirklich" geschehen. Unwahr ist hier nur die Behauptung, sie sei wirklich so geschehen. Das berührt nicht die Tatsache, dass wir von Erfundenem sprechen können. Auch Erfundenes ist als solches wahr, solange es als erfunden gekennzeichnet ist. Mehr als dem Zeugnis der Apostel etwa müsste man hier mancher "Wissenschaft" vorwerfen, dass sie auf Erfindungen beruht. es ist nämlich auf einer logischen Ebene etwas erheblich anderes, ob jemand sagt "Ich bezeuge p oder q, weil ich es selbst gesehen/gehört etc. habe" oder ob jemand sagt "Ich stelle mir p oder q vor, weil es mir so gefällt". Wenn also Maria Magdalena bezeugt "Ich habe den Herrn (als Auferweckten) gesehen", dann ist das glaubwürdiger als wenn Kopernikus sagt "Die Erde ist rund, weil die Kugel die vollkommenste Gestalt ist. Ebenso alle anderen Himmelskörper.":
Maria hatte ein reales Erlebnis, von dem sie zeugt. Kopernikus dagegen legt theoretisch fest, welche geometrische Form vollkommen sei und zieht daraus den Schluss, deshalb müssten alle Himmelskörper diese Gestalt haben. Es ist evident, dass der kopernikanische Schluss unsinnig, unzulässig und unlogisch ist. All seine Prämissen, etwa was die "vollkommene Form" sei, sind willkürlich und nicht absolut begründbar, geschweige denn dass damit bewiesen wäre, dass Himmelskörper überhaupt materielle Körper sein müssen (wir sehen definitiv nur Lichtphänomene, die theoretisch auch körperlos sein könnten!). Wir sind in den letzten 500 Jahren aber so verblendet worden, dass wir diesen sehr einfachen Sachverhalt nicht mehr erkennen: Kopernikus erfindet etwas, das er als "Wirklichkeit an sich" ausgibt. Maria hat etwas erlebt und erfahren, das sie bezeugt. Die Wahrscheinlichkeit der wahren Aussage liegt objektiv mehr bei Maria als bei Kopernikus! Davon unberührt bleibt, dass man in der kopernikanischen Fiktion natürlich weiter erfinden kann - das sei unbenommen, aber "wahr" ist all das nicht außerhalb der Erfindung, die als Erfindung wahr ist, nicht als Wirklichkeit. Es ist interessant, dass die Verheißung Jesu nicht auf der Entfaltung von Lehrsätzen auf der Basis von Zeugnissen galt, sondern der lebendigen Erfahrung des Glaubens ("Heiliger Geist"), die jeder selbst machen kann. Die kirchliche Festlegung auf Dogmen sagt nur eines, dass man nämlich - wie Kopernikus und seine Nachfolger - im Rahmen einer Erfindung weiterfabuliert haben könnte.


Wahrheit und Unfehlbarkeit

Unser Weltbild ist hinsichtlich der eigenen Kultur einfach: Erst war da die Kirche, die behauptete, sie sei „im Besitz“ der Wahrheit und machte die Untertanen, die Herde unmündig. Man begann schon hier, Unfehlbarkeitsanspruch mit Wahrheitsfähigkeit notorisch zu verwechseln.
Dann kamen schubweise die Reformation und dann die Aufklärung und befreiten die Menschen von der erzwungenen, verlogenen oder verzerrten "Wahrheit". Zunächst setzten die Reformatoren der verdorbenen "Wahrheit" des päpstlichen Lehramtes das gereinigte wahre Gotteswort des „sola scriptura“ entgegen und die Freiheit des Christenmenschen, diese Wahrheit eigenständig zu erkennen. Später kamen die Aufklärer und verlegten die Wahrheitserkenntnis in die Vernunft des mündigen Bürgers: Sapere aude! Wage zu wissen/zu erkennen! Ein solcher Leitspruch setzt voraus, dass es etwas zu erkennen und zu wissen gibt, das sich nicht pauschal einem geführten Allbewusstsein unfehlbar mitteilt, sondern dem Individualbewusstsein als Baustein des Allbewusstseins, das aber im Extremfall — wie im reformatorischen Denken — unabhängig sein kann. Hierbei geht es immer ausschließlich um die Relationen zwischen den Dingen, nicht um die Wahrheit der Dinge an sich selbst.

Wenn jemand mit festen Überzeugungen auftritt, wird er der „Arroganz“ geziehen und der „Intoleranz“ und des Hochmuts, denn der Mainstream hat festgelegt, dass es keine Wahrheit geben kann und daher jeder, der doch an sie glaubt, nur mit spitzen Fingern angefasst werden kann. Man unterstellt einem, der klare Überzeugungen hat und sie auch sehr gut begründen kann, er halte sich für unfehlbar.
Das ist einer der fatalsten Fehlschlüsse, die man sich denken kann! Wer von etwas überzeugt ist, hält nicht sich selbst für unfehlbar, sondern das, was er glaubt, für gewiss wahr. Wer sich selbst für unfehlbar hält, fragt logischerweise nicht danach, ob etwas wahr ist! Man muss daher der Kirche vorwerfen, dass sie im tiefsten Grunde an der Wahrheit nicht interessiert ist. Aber wir erleben in unseren Tagen etwas, das der Arroganz der Kirche (und nur einem, der nicht nach der Wahrheit der Dinge fragt, sondern sich selbst Unfehlbarkeit attestiert, kann man berechtigt "Arroganz" vorwerfen!) ähnelt:

In der propagandistischen Verkürzung der realen Fragen und Probleme in unserem Gemeinwesen auf die Frage, ob der, der sich dazu äußert, womöglich „rechts“ sei, sobald er noch halbwegs vernünftige, logische, eigenständige und konkrete Gedanken äußert, und vor allem anderen der „Kampf gegen rechts“ das aller-aller-aller-Wichtigste sei — in dieser propagandistischen Verkürzung hängen die verwirrten Zeitgenossen intellektuell sehr schnell ab und ziehen sich zurück in die ihnen verbliebenen Schneckenhäuser und sondern brav ab, wovon sie glauben, es sei in der Grauzone dessen, was andere leicht „annehmen“ können. Es geht nur noch ums Überleben in der Meute derer, die Meinungen kreieren und sich zum Anführer des Meinens aufschwingen.
Aber herrje — flugs hat ein primitiver und diktatorischer Wahrheitsbegriff im Windschatten geleugneter Wahrheit Einzug erhalten: Wahr ist alles, was keinen abweichenden Wahrheitsanspruch formuliert, also: willfährig gegenüber der Macht ist.
Der, der dem die Stirn bietet und nach Wahrheit sucht, wird als „arrogant“ diffamiert. Es ist wie in alten Zeiten, in denen niemand das Recht hatte, selber zu denken…

Dass eine solche Tendenz zu einer erschütternden Entpersönlichung und Degradierung der Individuen zu Sprechpuppen der Angst führt, erfassen sie selbst nicht mehr. Ihre Verwirrtheiten, Aggressionen und Frustrationen wachsen (denn sie sind nicht dazu geschaffen, solche Puppen zu sein und spüren das wenigstens noch dem Instinkt nach!), und die Massenmedien liefern ihnen täglich immer wieder neu und penetranter den „Feind“, an dem sie sich dann entladen können: den „Rechten“, diesen bösen Kerl, der verantwortlich für den Klimawandel, Rassenhass, Tierquälerei und alle Morde und Gewalttaten ist, die gerade er eben nicht begangen hat. Logisch?

Man hat mit ein bisschen Abständigkeit und Selbstbewusstsein den Eindruck, auf einem Narrenschiff zu fahren. Deutschland im Wahn. Wieder mal. "Wer nicht hüpft, ist ein Nazi", skandierte eine Einpeitscherin in Chemnitz 2018, nachdem Flüchtlinge einen Einheimischen auf offener Straße ermordet hatten. "Wer nicht hüpft, ist für Kohle", brüllen nun die kindlichen Klimahysteriker 2019. Das Weltbild könnte kaum infantiler sein. Für was man wohl 2020 hüpfen muss, um zu beweisen, dass man weder Nazi noch Kohlefreund ist?
Das Ausmaß an Irrsinn ist kaum zu überbieten, aber genau dies wird aus allen Rohren in die Öffentlichkeit geschossen, und der brave Bürger, auch viele mit Magister- und Doktortiteln und Diplomen, weichen vor diesem offenkundigen Unfug zurück und stellen ihre insgeheimen Zweifel eher in Frage als dieses närrische Treiben. "Wer nicht hüpft und springt" - die Botschaft ist klar: Wer nicht nach der Pfeife derer tanzt, die nun die "Wahrheit" befehlen, darf geschmäht werden.

Jaja, wer weiß schon, was „wahr“ ist? Gibt es überhaupt eine „Wahrheit“? Und wer hat das Recht, sie auf welche Weise zu sagen? Der Fall ist klar: was uns die Medien sagen und die „Elite“, das ist absolut wahr bzw unfehlbar. Wehe dem, der widerspricht, der „Nazi“, der Ketzer, der „Leugner“ (ein Begriff, der Bände spricht!).


Truther und Wahrheitsbewegung

Kommen wir auf den Teppich: Die Wahrheit ist nun mal die Wahrheit, und das Sprichwort weiß seit Jahrhunderten, wer sie leugnet und vor allem wann:

„Sage dem Narren die Wahrheit, und er wird dich hassen!“

Und:

„Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst.“

Dem verzweifelten Kampf um die Wahrheit, der v.a. im Internet durch eine wachsende Trutherszene ausgefochten wird, geht voraus, dass wir seit Ewigkeiten belogen wurden und dieses Faktum immer leichter nachweisbar ist eben durch die Digitalisierung und die neueste Forschung. Die gefälschten Geschichtsbilder lassen sich aufgrund der erschlagenden Quellen nicht mehr als „Revisionismus“ abschmettern. Der Blödsinn vom menschengemachten Klimawandel wird von Heerscharen hochdotierter Professoren mit mehr als gravierenden Gründen bezweifelt, auch wenn das PIK in Potsdam behauptet, die Debatte darüber „sei beendet“. Wer immer noch glaubt, es seien sich aber 97% über die angeblich beendete Debatte darüber „einig“, lügt entweder oder er ist unsäglich dumm — auch hier ist Quellenlage erschlagend groß. Man kommt heute so viel schneller an Informationen und Quellen — drei Mausklicks, und wir sind da, wo wir früher über mühsame Fernleihe wochenlang auf einen einzigen Artikel in einem Sammelband warten mussten. Die Eliten kontern damit, das seien eben alles Fake News — klar, was ihnen widerspricht, muss gelogen sein … „der Chef hat immer recht“. Oder „Der Papst ist unfehlbar“. Wir sahen vor der Sommerpause, dass unsere Kaiserin zittert, als würde sie von einem Geist geschüttelt, aber ihr Sprecher sagt, es gehe ihr bestens — was auch sonst: wers nicht glaubt, ist für Fake News. Und vor allem: was wir sehen, kann nicht wahr sein. Wahr ist ausschließlich, was man uns sagt und was wir nicht überprüfen können. Auch logisch — wer nicht hüpft, ist der Feind.

Der verzweifelte Kampf einiger „Aufgewachter“ offenbart uns eines sehr genau: wir leben seit Jahrhunderten in einer grandiosen Lüge, wurden verheizt in verlogenen Kriegen und Glaubens- und Grabenkämpfen. Man teilte uns „Wahrheit“ mit, die Lüge war und schwor eine ganze Kultur auf ein Gebäude ein, das auf dem schlüpfrigen Grund der Lüge aufgebaut wurde.

Vielleicht kann es nicht anders sein, vielleicht gibt es Kultur nur auf Sand gebaut? Wäre es anders, müsste eine Kultur ewig bestehen. Tut aber keine — bisher sind noch alle grandios untergegangen. Der Untergang wurde stets eingeläutet durch eine Wahrheitsbewegung, das Ausmaß der Lüge war zu groß geworden, hat die Kultur selbst an den Abgrund geführt. Der Hass gegen die „Truther“ entspringt dem Wissen, dass genau sie es sind, die den Laden noch schneller abstürzen lassen, denn er ist in seiner Verlogenheit nicht haltbar und in der Entlarvung natürlich erst recht nicht.


Das Wahrheitsopfer des Pilatus und die messianische Königsherrschaft der Wahrheit

Die Frage nach der Wahrheit spielt in einer alten Geschichte eine besondere Rolle:

Der römische Statthalter Pontius Pilatus, der sich in Pälastina ein schönes Machtviertel aufgebaut hat, in die kaiserliche Blutlinie eingeheiratet hat (seine Frau ist Tochter des Kaisers Tiberius) und eigentlich nicht einmal so verkehrt zu sein scheint, hat einen Dialog mit dem von der wütenden Meute der religiösen Machthaber der Juden angeklagten Jesus, auf den ich gleich zu sprechen kommen werde.
Die jüdischen Jerusalemer Ratsleute hatten kein Recht, selbst Todesurteile zu fällen und zu vollstrecken, und lieferten Jesus deshalb der römischen Besatzungsmacht in Judäa aus. Pilatus, dem die Hetzjagd gegen den politisch vollkommen bedeutungslosen Jesus völlig schnuppe ist, schickt den Angeklagten zu Herodes, dem Tetrarchen u.a. über Galiläa, der Region, aus der Jesus stammt. Pilatus und Herodes waren Konkurrenten und Feinde (Lk 23,12).
Die politische Lage kann man als „Feinddreieck“ bezeichnen:

Die drei Machtzentren bilden ein instabiles, sensibles Machtgefüge und spielen sich unentwegt gegeneinander aus und instrumentalisieren sich gegenseitig. Es ist ein gespannter politischer Zustand, in dem sowohl Herodes als auch Pilatus ständig befürchten müssen, dass Volksaufstände ausbrechen. Die Juden brüten Aufstände aus, die später, nach der Sache mit Jesus, ungebremst ausbrechen. Keiner der Beteiligten kann sich eine geradlinige Haltung leisten und jongliert hin und her zwischen den Fronten. Es ist ein Kriegszustand im Frieden, und alle drei buhlen strategisch um die Gunst des fernen Kaisers in Rom.

Die Erscheinung dieses Jesus erregt zuerst die jüdische Oberschicht, ihre Gelehrten und die Priesterschaft. Schon mit 12 Jahren war der Knabe im Jerusalemer Tempel aufgefallen durch überragende Intelligenz. Danach hielt er sich still und tauchte als 30jähriger plötzlich auf und scharte Menschen um sich, die ihn als Wundertäter, Rabbi, Messias, Sohn Gottes und Gerechten verehrten. Obwohl er ein soziales Nichts war und ist und blieb, strahlt er königliche oder sogar göttliche Autorität aus. Das treibt die jüdischen Gelehrten auf die Palme und sie beginnen ihn auf eine niederträchtige Weise, die mit Lug und Trug, falschen Zeugen und Verleumdungen operiert, zu verfolgen. Neben zahlreichen nur für Juden relevanten Anklagen (zB der Gotteslästerung) bringen die Juden das Gerücht auf, er sei ein politischer Aufrührer gegen Kaiser und Reich. Die römische und galiläische Macht sah bis darin keinerlei Problem in dem geistvollen und vollmächtigen Heiler und Rabbi. Jesus war ihnen so hoch wie breit. Er reicht nicht im entferntesten in ihre Höhen. Denken sie.
Doch nun sind sie provoziert, denn angeblich zielt die Strahlkraft Jesu gegen ihre Macht.
Pontius Pilatus schickt den Gefangengenommenen zu Herodes, der zufällig gerade in Jerusalem weilt. Herodes hat von Jesus gehört und war neugierig, ihn einmal ein Wunder tun zu sehen oder intelligente Dispute mit ihm zu führen. Doch Jesus schweigt und bleibt untätig vor ihm. Herodes zeigt ihm daraufhin die Verachtung dessen, der glaubt, einen Scharlatan entlarvt zu haben, hängt ihm ein Prunkgewand um und schickt ihn an Pilatus zurück. Seither, heißt es, waren Pilatus und Herodes keine Konkurrenten mehr…

Pilatus ist ein nüchterner Mann, der sehr wohl einen klaren Blick für die Wahrheit hat, die in diesem Fall lautet: es ist ein Komplott gegen Jesus seitens des Sanhedrin, und alle Anklagen gegen ihn, die Pilatus oder das Reich betreffen könnten, sind Lüge. Genau das sagt er dem Sanhedrin ins Gesicht (Lk 23,13ff). Doch die Meute, die — aus Sanhedrinleuten und ihren Claqueuren zusammengestoppelt — vor Pilatus steht, fordert hartnäckig die Todesstrafe am Kreuz für ihn. Sie fordern die Herausgabe eines wirklichen Mörders und Aufrührers (Bar Abbas) und den Tod dessen, an dem weder Herodes noch Pilatus eine Schuld finden konnten.

Im Johannes-Evangelium (Joh 18) wird uns nun der berühmte Dialog zwischen Pilatus und Jesus überliefert, in dem Pilatus die Wahrheit strategisch opfert für seinen Scheinfrieden. Auf Jesu Aussage, er sei gekommen, Zeugnis für die Wahrheit abzulegen, reagiert Pilatus mit der kurzen Frage, was Wahrheit sein soll, deren Antwort er nicht hören will:

33 Da ging Pilatus wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden? 
34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt? 
35 Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan? 
36 Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier. 
37 Da sagte Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. 
38 Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? 
Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus.

Der Dialog der beiden ist surreal. Sie reden grandios aneinander vorbei. Pilatus spricht von einem weltlichen Königtum, von Macht und Vorrang. Jesus von etwas Überweltlichem, das sich in die Welt hinein durch ihn manifestieren kann. Pilatus weicht zurück, er kann es nicht hören, will es nicht hören, hat vielleicht sogar resigniert.
Aus dem verwirrten Gespräch leuchtet aber doch etwas hervor, das meist übersehen wird:

Das Königtum Jesu wird assoziiert mit der Wahrheit. Dieses Königtum stammt nicht aus dieser Welt. Logisch wird damit ausgesprochen, dass es aus dieser Welt keine Herrschaft der Wahrheit gibt. Jesus sieht sich als Zeuge der ganzen Wahrheit, und genau darin besteht auch sein Königtum. Es erhebt ihn über all die eifernden Gestalten, die für ihre Macht faktisch die Lüge zum Lebenselixier erhoben haben und sich täglich mehr damit dopen und vergiften.

Wenn nun einer sofort einhaken will, um zu sagen „Na siehst du, Jesus sagt es also auch: In dieser Welt kann es keine absolute Wahrheit geben!“, so hat derjenige nicht genau zugehört. Jesus sagt gerade das nicht! Es gibt die Wahrheit, und er steht in dieser Welt für sie als Zeuge ein. Es gibt sie immer und ewig, aber die Frage ist, ob sie in dieser Welt durchdringt. Ob sie das tut, liegt trotz allem an den Menschen. Jesus sagt nicht, es könne hier keine „absolute Wahrheit“ geben — doch es kann, sonst wäre er nicht ihr Zeuge! Er sagt vielmehr, dass es keine Zeugen für die Wahrheit gibt, die ihm gleichkommen.
Fraglich ist also nicht die Wahrheit, sondern ob sie gehört werden will, denn eindeutig sagt Jesus, dass diejenigen, die „aus der Wahrheit“ seien, „seine Stimme hören“. Wenn in dieser Welt Menschen „aus der Wahrheit“ sein können, ist es ein Fehlschluss, aus den Worten Jesu ableiten zu wollen, es könne hier keinen „absoluten“ Zugang zur Wahrheit geben.
Jesus trennt hier wie in einem Vorschein auf das Gericht diejenigen, die der Wahrheit nachgejagt sind, mit aller Kraft nach ihr gesucht haben („aus der W. sind“) wie dem höchsten und heiligsten Gut und denen, die für ihren Vorteil in dieser Welt die Lüge zum Normalfall erklärt haben, über den angeblich nur Arrogante meinen urteilen zu dürfen.
Der in Bedrängnis geratene Pilatus sagt daher, ganz in der Logik der gekrönten Wahrheitsabstinenz (wie immer man seine Aussage weiter auffassen will): „Was ist Wahrheit?“

Doch immer noch wirkt die Wahrheit in Pilatus. Er lässt Jesus danach zwar geißeln, will ihn aber nicht verurteilen. Die Juden machen vor seinem Palast einen Aufstand, weil sie den arroganten Wahrheitsmann tot sehen wollen. Pilatus bricht zusammen, als sie ihm mit folgendem Satz (Joh 19,12) drohen:

„Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf.“

Pilatus setzt sich auf seinen Richterstuhl und hält den Juden ein letztes Mal vor, seltsam hellsichtig, als habe er begriffen, dass dies wirklich der Messias der Juden ist (V14+15):

„Da ist euer König.(…) Euren König soll ich kreuzigen?“

Und nun sagen die Hohenpriester den verhängnisvollen Satz, der vordergründig das Ende Jesu, langfristig aber ihr eigenes bedeutete:

„Wir haben keinen König außer dem Kaiser.“

Das Feinddreieck hat sich wieder zusammengefunden: alle sind Freunde des Kaisers und schütteln sich gegenseitig die Hände: prima, dass wir uns einigen konnten, denn was eine Mehrheit richtig findet, muss ja schließlich irgendwie wahr und gut sein. Und der Tod des einzigen, der von Wahrheit spricht, schweißt die Lügner zu einer scheinbaren Einheit zusammen.

Aber wir wissen, dass dies nur Vordergrund war: Keiner dieser Lügner überlebte noch lange. Pilatus war ein gebrochener Mann, zumal die Tochter des Kaisers Tiberius, die seine Frau war, ihm, während er auf dem Richterstuhl saß, eine Nachricht hatte senden lassen, er solle Jesus nicht verurteilen, weil er „unschuldig“ sei. Sie hatte einen Alptraum, in dem ihr dies offenbart worden war. (Mt 27,19)

Es ist übrigens auch Matthäus (Mt 27,18), der uns überliefert, dass Pilatus die Wahrheit sogar extrem gut kannte:

„Er wusste nämlich, dass man Jesus nur aus Neid an ihn ausgeliefert hatte.“

Die weltliche Geschichtsschreibung berichtet, dass Pilatus nur wenige Jahre nach Jesu Hinrichtung im Jahr 36 von Tiberius durch einen Legaten abgesetzt und nach Rom beordert worden sei. Tiberius starb aber, bevor er in Rom ankam. In den kirchlichen Legenden wird gelegentlich gesagt, dies sei u.a. wegen des ungerechtfertigten Todesurteils über Jesus geschehen. Es gibt nur wenige Quellen zu den Vorwürfen, die gegen ihn erhoben worden waren, aber im Vordergrund stand der Vorwurf der Selbstbereicherung. Pilatus soll im Jahr 39 Selbstmord aufgrund kaiserlichen Drucks begangen haben. Am bekanntesten ist die Geschichte in der Goldenen Legende, Pilatus habe sich, verbannt durch Caligula nach Vienne, das Leben genommen und ruhe am Grund des dortigen Pilatus-Sees.

Nicht länger überlebte Herodes Antipas. Auf Drängen seiner unrechtmäßigen Gattin Herodias, um deretwillen Johannes der Täufer ermordet worden war, reiste er im Jahr 39 nach Rom, um sich bei Caligula für den Königstitel zu bewerben, stolperte dort aber über verschiedene schwerwiegende Anklagen, wurde nach Lugdunum in Südgallien verbannt und starb dort nicht lange danach.

Wie es dem jüdischen Volk erging, ist bekannt: um das Jahr 70 herum wurde Jerusalem von den Flaviern erobert, der Tempel zerstört, das Volk zerstreut. Einen Hohen Rat gab es nicht mehr, das Priestertum wurde überflüssig, weil es keine Tempelopfer mehr geben konnte, die Stammtafeln wurden vernichtet. Einige noch folgende jüdische Aufstände konnten nichts mehr erreichen, und das Heilige Land war verloren. Was danach vom jüdischen Volk übrigblieb, hat mit dem alten kaum mehr etwas zu tun, sowohl genetisch als auch religiös. Die meisten heutigen Juden sind Aschkenasim, die genetisch Europäer sind. Ein großer Teil der Thora war nicht mehr realisierbar, ist ohne Opferstätte und geistliches Zentrum. Das rabbinische Judentum, das sich angeblich um 100 n. Chr. in Jabne sammelte, leistete im wesentlichen eine Umdeutung der Thora zu einer opferlosen Religion. Der Mythos vom rein gebliebenen Judentum, das sich angeblich so bruchlos habe halten und behaupten können, ist nicht sehr überzeugend, wenn man etwas genauer hinsieht. Das heutige Judentum st eine andere Religion als das bis zur Zerstörung des Tempels, das aber auch damals schon durch das Diasporajudentum und babylonische Einflüsse sehr verfremdet und vermischt worden war.

Die zentrale Frage des Pilatus nach der Wahrheit, die er sehr wohl kannte, wie uns bezeugt ist, aber nicht anerkannte, ist Signum des Untergangs.

Gesellschaften und Kulturen, die auf Lug und Trug fußen, haben keine Überlebenschance.
Sie überziehen sich selbst mit Krieg, denn der Tod der Wahrheit ist der Beginn des Krieges und Untergangs.
Natürlich vergehen immer wieder mal ein paar Jahre, bis die Folgen spürbar werden, aber sie werden spürbar. Niemand soll sich da etwas vormachen.

Und es steht die Frage im Raum, was man als Gut, das in einer solchen Kultur noch zukunftsfähig ist, herausdestillieren kann. Es kann sein, dass es nichts oder fast nichts ist.
Ausgenommen sind ausschließlich geistige Güter einzelner Menschen der Geschichte, wenn sie die Wahrheit anerkannt und gesucht haben.

Pilatus steht als mahnendes Beispiel vor unseren Augen, aber ich habe den Eindruck, dass er moralisch unzählige Etagen über den heutigen Lügnern und Taktierern steht, die, ohne mit der Wimper zu zucken, Millionen opfern, und danach ihre Krokodilstränen abdrücken. Verglichen mit den Schreckensgestalten, die uns regieren, hatte Pilatus wenigstens noch Hemmungen, bevor er wissentlich die Wahrheit leugnete und das Unrecht ebenso wissentlich tat. Immerhin: er log dem Volk nicht dreist ins Gesicht und beschimpfte es nicht hemmungslos, wie das heute üblich ist.

Jesus, so wird uns überliefert, sah prophetisch die Verwüstung seines Landes vor Augen. Niemand wollte das glauben — die Mauern schienen fest, die Lichter leuchteten, das Essen ging nie aus. Der Alltag funktionierte doch — was will man mehr?
Die wenigsten rechnen heute ernsthaft damit, dass in kürzester Zeit auch unser Land eine Wüste werden könnte. Die neue Justizministerin Lambrecht hetzt daher nun passgenau gegen all jene, die sich auf einen solchen Fall vorbereiten, dessen Wetterleuchten doch spürbar ist und von den Eliten selbst ausgesprochen wird, als „Rechte“: „Prepper, die einen Tag X herbeifantasieren.“ https://www.youtube.com/watch?v=0fz60HdUM5A (bei ca. min 1:58). Diese Dame ist offenbar so desorientiert oder desinformiert (was bei einer Ministerin dasselbe ist!), dass sie nicht mitbekommen hat, dass das Volk doch zum Preppen von der Regierung aufgefordert wurde: https://www.welt.de/politik/deutschland/article197510203/Blackout-und-Hitzewellen-Wie-die-Deutschen-sich-vorbereiten-sollten.html Wieso aber sollte eine Bundesbehörde zum preppen auffordern, wenn sie nicht an einen Tag X dächte? Und was will die logisch schwachbrüstige oder schlicht verlogene Ministerin eigentlich damit sagen? Dass auch die Bundesregierung „rechts“ sei?!
Frisst die absurde deutsche Revolution des 21. Jh allmählich ihre Kinder vor laufender Kamera?
Diese weitere katastrophale Besetzung eines Ministeriums wird an dem Tag, an dem der Laden zusammenbricht, womöglich behaupten, sie habe immer gewarnt vor dem Tag X… Und es wird dann sicher auch wieder die Narren geben, die meinen, man könnte hier nicht wissen, was die Wahrheit ist.
Ich denke unwillkürlich an 1934, als Goebbels eine große Aktion gegen „Miesmacher und Kritikaster“ startete, also jene, die spürten, was auf Deutschland zukommen würde und recht behalten haben.


Die Wahrheit ist der Antagonismus zum Gesetz

Die Juden erkannten den Zeugen der Wahrheit aufgrund ihrer Gesetzesverhaftetheit nicht. Das Gesetz verklagt den Menschen, aber es verhilft niemals zur Wahrheit als Lebenselixier!
„Auctoritas, non veritas facit legem“, schrieb Hobbes einst. Ich würde diesen zynischen Spruch korrigieren in „potestas, non veritas facit legem“. Denn, wie neulich hier im Blog dargelegt, hat echte „auctoritas“ keine „potestas“ bzw sie braucht sie nicht. Jesus hatte „auctoritas“, aber keine „potestas“. Und Gesetze machte er nicht, denn er war Zeuge der „veritas“, die tatsächlich keine Gesetze macht. Nur Ungerechtigkeit schafft Gesetze und letztere offenbaren allezeit immer nur eines: die Ungerechtigkeit, die Lüge, den bevorstehenden Untergang. Eine „Wahrheit“, die es nötig hat, sich mithilfe von Gewalt (also Gesetzen) Geltung zu verschaffen, ist schwerlich wahr.
Wir ersticken heute in Gesetzen, weil wir die Wahrheit nicht anerkennen und mit ihrer Hilfe austreiben.
Bis heute weiß niemand, nach welchem Gesetz die Richter Israels richteten. Es heißt etwa von Deborah, dass sie unter einem Baum Rechtssachen verhandelte. Es gab keinen Codex — außer einigen Thoragesetzen vielleicht, aber die regelten v.a. rituelle Gesetze und weniger die für den Alltag. Es heißt, die Frau sei Prophetin gewesen (Ri 4), und sie war erfolgreich und gottesfürchtig.
Auch die Art, wie im frühen Mittelalter Recht gesprochen wurde, ist nicht codifiziert. Erst im 13. Jh geschieht ein Codifizierungsprozess und damit die Einleitung übelster Zustände. Hexenjagden, Inquisition und grausame Folter sind erst dann massenhaft überliefert.

Wo Wahrheit herrscht, sind Gesetze überflüssig. Wo Wahrheit herrscht, sind Gewalt, ja letztlich sogar ein Staat oder Fürst überflüssig.

Jeder kann hier für sich alleine weiterdenken und sich fragen, wo wir stehen.
Ein bloßer politischer Aktionismus von rechts oder links greift zu kurz.

Es tut mir leid, wenn ich damit einige enttäusche, die ihre Hoffnung auf eine dieser Bewegungen setzen. Ich befürchte, dass sie ihre Kraft verschwenden, aufs falsche Pferd setzen, tiefschürfende Menschen im Panikmodus bezichtigen, sie würden „Scheindebatten“ führen, seien zu „theoretisch“, aber all diese Rhetorik wird nicht helfen, denn sie finden auf einem sinkenden Schiff statt, dem niemand mehr befehlen kann, dass es wieder auftaucht. Der beanstandeten "Scheindebatte" korrespondiert der Scheinpragmatismus.

Sonntag, 11. August 2019

Auctoritas und Potestas - Zur Frage des Metapolitischen in der philosophischen rechten Szene

Auctoritas und Potestas
Zur Frage des Metapolitischen in der philosophischen rechten Szene


Ich habe mich auf dem Blog der rechtskonservativen Zeitschrift „Sezession“ an einer Diskussion unter einem Artikel von Jonas Schick mit dem Titel „Netzfundstücke (22) – Formierung, Flaute, Europa“ vom 10. August 2019 beteiligt, der ausführlicher auf einen Artikel von Moritz Rudolph im „Merkur“ vom 5. August 2019 unter dem Titel „Eurofaschismus — wer gegen ihn ist, könnte für ihn sein“ eingeht Artikel Moritz Eurofaschismus und von einem Kommentator namens „Nath“ eine interessante Antwort erhalten. Man kann die Diskussion hier lesen Artikel Jonas Schick + Kommentare
Ich möchte @ Nath hier antworten, weil es im Kommentarbereich der Zeitschrift zu ausführlich würde, aber davon abgesehen auch viele Leser interessieren könnte, die eher keine „rechten“ Zeitschriften lesen:


@ Nath

Mit der an Kant angelehnten Identifizierung von „rechts“ mit einem Denken von der Notwendigkeit her und „links“ mit einem Denken von der Möglichkeit her, während im reflexiven Ich eine Realisation des Möglichen und Notwendigen geschieht, sind einige Fragen ungelöst, etwa die, wer denn dieses reflexive Ich auf praktischer politischer Ebene ist oder sein kann, und vor allem: wer die naturgemäß unendliche Vielfalt des Möglichen verwaltet und aus ihr das Grundlegende ausfiltert, das dem Notwendigen zugeordnet wird. Und: Gibt es ein Notwendiges überhaupt an sich, oder hängt es nicht immer mit einem Bein im Reich des Möglichen und daher nicht Zwingenden und umgekehrt? Sie weisen darauf hin, dass die Trennung zwischen beidem künstlich ist und letztendlich absurde Züge hat.

Ich versuche die Frage einmal in einem anderen tradierten Rahmen zu betrachten:

Zunächst erschien in der Spätantike dieses reflexive Ich Mögliches und Notwendiges in der Gestalt des Kaisers zu binden. Das hielt sich aus verschiedenen Gründen nicht lange, wir finden einige dunkle Jahrhunderte der „Zwischenzeit“ zwischen dem zerfallenden christianisierten römischen Reich und dem frühen Mittelalter vor, über dessen Vorgänge wir kaum oder wie manche behaupten gar keine echten Quellen haben. Plötzlich taucht aus dem Schatten der grandiose Karl auf, und mit ihm — zumindest hat man es so tradiert — eine Rekonstruktion des römischen Reiches, nun aber in einer Dichotomie zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, die man begrifflich jeweils anders charakterisierte und die der kantischen in gewissem Sinne ähnelte:

Diese ins Absurde reichende Dichotomie des Möglichen und Notwendigen mündete später über die Auseinandersetzungen im Investiturstreit in der Konkurrenz der „zwei Schwerter“, der nun ausgeprägter die theoretische, v.a. von Augustinus ausgearbeitete Trennung von Heilsgeschichte und bloßem Saeculum zugrunde lag. Das Saeculum sollte aus dem unsichtbaren Regnum regiert werden, das „schon-und-noch-nicht“ war, alle Jahre waren bereits „Jahre des Herrn“, obwohl man andererseits nicht die Vaterunserbitte leugnen wollte, dass sein Reich erst noch komme. Die kirchliche Hierarchie war sichtbar-unsichtbares Zeichen des Regnum Dei.

Dabei setzte man das Regnum Dei als abstraktes Potenzial, das hinsichtlich der irdischen Verhältnisse eben doch nicht unendlich und frei war, voraus. Man verstand das praktische Recht im Staat als ein „göttliches Recht“, sein Vollstrecker, der Fürst, war „von Gottes Gnaden“, was er war. Das Gemeinwesen wurde zum definierten Rahmen des irdisch Möglichen, das nicht mit einem himmlisch Möglichen verwechselt werden sollte, seinem Wesen nach aber eben doch Göttliches im Nichtgöttlichen behauptete. Grundlage bot dafür alleine Röm 13, wo jegliche „potestas“ als „ministra Dei“ (griech. „diakonos theou“) behauptet wurde, was zu verheerenden Verkennungen in der Christenheit führte, die die antagonistischen Schriftstellen dazu entweder ignorierte oder nicht ernst genug nahm. Insbesondere die Behauptung, alle „potestas“ komme von Gott („Non est enim potestas nisi a Deo“ Röm 13,1), widerspricht offen der Aussage Jesu, die eine Sphäre Gottes und eine des Potentaten für den Christen scharf trennt und die „potestas“ der Fürsten überhaupt als in einem höheren Sinne wirksam geschweige denn gerecht in Frage stellt:

„Scitis quia hi, qui videntur principari gentibus, dominantur eis, et principes eorum potestatem habent ipsorum.
Non ita est autem in vobis, sed quicumque voluerit fieri maior inter vos, erit vester minister;
et, quicumque voluerit in vobis primus esse, erit omnium servus. (Mk 10,42)

«Qui videntur principari gentibus», «die als Fürsten angesehen werden von den Völkern» sind in der Aussage Jesu finstere Institutionen, Ausbeuter, herrschsüchtige Wesen, die den „gentes“ letztendlich „potestas“ gegen die Menschen ausüben, nicht für sie, ihnen förmlich „antun“. In dieser Formulierung steckt eine Differenzierung von „Autorität“ und „Macht“, zwischen „auctoritas“ und „potestas“, die in der Stelle im Römerbrief total verwischt wird. Auch der Satz Jesu „Reddite ergo, quae sunt Caesaris, Caesari et, quae sunt Dei, Deo“ (Mt 22,21) trennt die Sphäre des Kaisers von der Gottes scharf. Auf der Münze ist das Bild des Kaisers, zeigt Jesus auf, man kann ihm also „zurück“geben, was ihm gehört. Soll er seine Münzen doch behalten! Es ist gleichgültig.
Aber das, was Gottes ist und sein Abbild ist, gebührt niemals dem Kaiser, kann ihm nicht gebühren. Die Verwischung dieser Differenz im Römerbrief steht zu der klaren Position Jesu, die sich im übrigen aus dem gesamten Alten Testament ergibt, im krassen Gegensatz.
Interessanterweise klammern sich politisch konservative Christen meist an Röm 13, angereichert durch einen Schuss Thomismus, der den Aussagen Jesu noch mehr aus dem Wege ging, indem er aristotelische Gedanken hinzunahm. Thomas zeichnet im wesentlichen die Monarchie als die idealste Staatsform, den Monarchen als Abbild der mon-arche Gottes. Dabei blieb es fortan für die Christen weitgehend, auch die Protestanten, man orientierte sich, wenn es um die Position des Christen in der Welt ging, daran und ignorierte oder relativierte alle herrschaftskritischen Stellen, deren die ganze Bibel voll ist, und die in zahlreichen weiteren Aussagen Jesu eingeschlossen ist, deren genauere Auflistung und Interpretation hier aber zu weit führen würde.

Die Problematik für eine christliche Argumentation schien darin zu liegen, dass das Reich Jesu „nicht von dieser Welt“ ist, wie Jesus vor Pilatus im Verhör sagte, sich also für eine politische Realisation in diesem Saeculum nicht eignet. Daran nahmen nicht nur die Juden Anstoß, sondern auch der Verräter Judas und der Verleugner Petrus und mit ihnen vermutlich der Großteil der Christenheit und des Abendlandes. Sie haben genau diesen Aspekt des Lebens und der Lehre Jesu abgelehnt und verfremdet, ins Gegenteil verkehrt, eben aus der Not heraus, dass sie nicht wussten, wie sie die Zeit des Wartens auf ihn in einem ausdrücklich  „christlichen“ Gemeinwesen überbrücken sollen.

Tatsächlich trat Jesus im römisch besetzten Heiligen Land mit Autorität, aber ohne jede Gewalt auf: er hatte höchste „auctoritas“, die sofort von den Menschen ohne Unterschied erfasst wurde, der „potestas“ aber hatte er dem Satan in der Wüste ins Angesicht widerstanden. Er ist nicht der Fürst der Werktage, sondern des Ruhetages, des Schabbats (Mt 12,8). Der Schabbat steht für die „auctoritas“ der Ruhe Gottes, in der es keine Herrschaft und Gewalt gibt.
Das christliche Abendland hat säkular-römische Okkupation und Katholizität mit dem „Hinterweltlertum“ (Nietzsche) Jesu verbunden und dabei ein Monstrum erschaffen, das sich als Gott und Teufel zugleich gibt.

Die Frage kam dennoch im Abendland immer wieder und früh auf, ob man sich mit einem solchen — oben referierten — Modell nicht selbst belügt.
Das bei Bonifaz VIII. hierarchisch „höher“ gedachte „Schwert“ des Papstes repräsentierte das Mögliche bereits in einer Konkretisierung, und das hierarchisch „darunter“ befindliche „Schwert“ des Kaisers repräsentierte die Notwendigkeit, die sich etwa mit der Aussage, konkrete säkulare Rechtsordnungen müssten — im Auftrag des Papstes und damit Gottes — autoritär stabil gehalten werden, weil der Mensch ohne sie eine chaotische Schafherde bleibe, die in Krieg und Chaos versinke, niederschlägt. Bei diesem von Bonifaz VIII. ausdrücklich eingeforderten Modell werden zwar formal noch „auctoritas“ und „potestas“ unterschieden. Faktisch aber hat geistliche „auctoritas“ sich zur „potestas“ verwandelt und deren Vollstreckung an den Kaiser outgesourct.
„Auctoritas“ stürzte damit unwiederbringlich in die „potestas“ ab. Das Abendland hat sich damit schon lange selbst erledigt, und Ricarda Huch sprach in ihrem Buch über den Untergang des Heiligen Römischen Reiches davon, dass sich dieses Abendland mit seiner klassischen Musiktradition einen grandiosen Schwanengesang gegeben habe. Das meint: Es ist schon lange, seit Jahrhunderten sterbend und nun abgestorben, nur merken es die Konservativen nicht. Oder sie glauben, man könnte es zur Auferstehung bringen — eine Hybris.
Die Reformation, aber auch ganz basal die Bundschuhbewegung, waren nicht zuletzt Folge dieses selbst dem ungebildeten Bauern leicht erkennbaren Absturzes. Aber der Mensch braucht das Potenzielle, sonst sinkt er ins Animalische ab. Europa wird ohne konservativen Auferstehungsillusion nicht überleben, mit ihr aber auf Dauer auch nicht. Europa ist eine Art Zombie.

Hannah Ahrend schrieb in den 50ern einen Artikel über die Frage, was „Autorität“ sei und verwies darin auf den römischen Senat, dessen Autorität darin bestand, sie ohne Unterstützung durch Gewalt innezuhaben. „Auctoritas“ funktioniert diesem Ideal nach ohne „potestas“. Sie überzeugt im Gegensatz zur „potestas“ aus sich selbst und einer unhinterfragbaren geistigen Kraft heraus. Im Bild des frühen Mittelalters aber wurde deutlich, dass das Ideal sich selbst aufgegeben hat und selbst das Schwert dessen ergriffen hat, der in Wahrheit keine Autorität hat und der Gewalt zur Durchsetzung seines Willens bedarf. Schon in den Tagen Bonifaz VIII. war das Meta-Politische, wenn man einmal „rückwirkend“ sagen will, vom rein Politischen kaum mehr zu unterscheiden, gab sich aber den Anschein einer Unterscheidung.
Die Frage, ob damit das Kollektiv „befriedet“ wird, das ansonsten in ewiger Unordnung und Krieg versinken würde, erübrigt sich seither faktisch. „Frieden“ erscheint immer mehr als Kriegsvorbereitung, nach dem Motto „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg“. Der Sinn der Staatlichkeit erledigt sich zunehmend selbst, weil es der Staat und seine „Influencer“, die Strippenzieher und Geldmächte, die den Unfrieden aus den Sehnüschten nach Frieden und Befriedung zu einem „ewigen Krieg“ generieren, Lebenskräfte für die Macht des Todes brauchen, geschafft haben, ihr schändliches Handwerk als ungeschminkte "potestas", also "Gewalt", erst recht als Engagement für den „ewigen Frieden“ zu tarnen.

Wie Sie andeuten, ist eine „Rechte“, die in diesem Sinne der „potestas“ zugeordnet werden muss und daher immer pragmatisch autoritär konzipiert ist, nicht nur aus sich selbst heraus schwach und ohne Überzeugungskraft, sondern abgekoppelt von der „auctoritas“, die gewaltlos zu überzeugen vermag. Die Frage ist schlicht, wer hier der „auctor“ sein sollte?

Faktisch bedeuten rechte bzw reaktionäre Modelle für das Volk nach zum Untergang des Ancien Régime seit dem 19. Jh denselben Kollektivismus, der sie, so oder so ohne sichtbaren Apex an der Spitze der Pyramide in Gesellschaftsbildungen, die dem Anschein nach direkt aus dem Möglichen schöpfen, einspannt. Wir fassen die Modelle des Ancien Régime, die zugegebenermaßen ehrlicher waren und ungeschminkter zur Schau stellten, was sie waren, heute mit Wehmut und Folklorismus auf, weil vieles daran ästhetisch ansprechender war: Solange die Hierarchen sich als die Schöpfer  (Begriff der „mon-arche“) ihrer Untertanen ansahen, sollten diese Untertanen ihnen keine Unehre bereiten und einigermaßen aufgeputzt wirken. Der gleichförmige Untertan war Abbild des einen Fürsten. Der Monarch war persönlich verantwortlich, wenigstens formell. Man wusste im Volk noch, vor welchem Schlosstor man mit der Mistgabel aufmarschieren konnte, wenn der Fürst Mist baute. Heute weiß man das nicht mehr.

Unverfängliches Beispiel: Trachten. Heute ein Utensil der „guten alten Zeit“, gerne getragen von Konservativen als Symbol des „Eigenen“ und der „eigenen Tradition“, gediegen, wirklich schön und kunstvoll, kurz: schmuck. Die wenigsten wissen, dass diese Trachten vom Fürsten diktiert worden waren, ständischen Charakter hatten und kollektiv allen Untertanen aufgezwungen wurden. Trachten waren faktisch die Uniformierung der alten Untertanen-Gesellschaft, die man damals nicht „Kollektiv“, sondern „Herde“ nannte (der Vatikan tut es heute noch!). Die Illusion des Ständischen konnte über den kollektiven Charakter solcher Gemeinwesen nicht hinwegtäuschen: Ob man die Herde in einen Pferch mit mehreren Schlafzimmern oder mit einen großen Schlafraum zwingt, ändert nichts daran, dass sie alle unter Zwang und ohne große Abweichungsmöglichkeiten in diesem Pferch "geframed" wurden, wie man heute sagen würde.
Die „demokratische“ Suggestion des direkten Kollektivs, das angeblich ohne Apex ist, hat heute durch PR und Modediktat alle in die Kleidung der Sklaven und Lohnarbeiter getrieben, die als schick gilt: Jeans, Jeans, Jeans, eigentlich zu Deutsch der blaue Anton des ungelernten, ungebildeten Arbeiters und Bauern. Auch hier bleibt ein Rest ständischer Illusion erhalten: Ob Edeljeans oder löchriger Denim für Rapper - es sind doch immer die Kleider des Sklaven. Besonders absurd: Trachtenkleider aus Jeansstoff. Die Queen würde das wohl kaum tragen, nicht mal in der edelsten Variation. Auch heute fällt man auf, wenn man niemals „Jeans“ trägt. Man verweigert die „Tracht“ des Sklaven, auch wenn sich das Diktat etwas weicher gibt, und gilt als "extravagant" und jemand, der sich "für was Bessers hält". Kollektivistisch sind beide Modelle, nur ist das erste nicht unpersönlich gezeichnet.
Das Volk (als Konglomerat der Untertanen im ersten Modell verstanden) war immer noch irgendwie Abglanz seines Fürsten.
Das zweite Modell koppelt das Kollektiv der Untertanen von den Fürsten ab, die fortan unsichtbar bleiben und das Kollektiv als Konkursmasse ihrer Geschäfte ansehen, ohne dafür mit ihrem Gesicht einzustehen oder gar Verantwortung zu übernehmen. Das „Volk“ findet sich alleine vor und spürt doch, wie es an jedem Gelenk einen Faden in ein „Oben“ hat, den es selbst nicht abschneiden kann. Es tanzt einen Totentanz nach einem gespenstischen Diktat. Die Mistgabel kann es nicht einmal mehr ergreifen, geschweige denn erheben.

Hier stellt sich das Problem, inwiefern es überhaupt so etwas wie eine „Rechte“ im Gegensatz zum „Linken“ oder „Liberalen“ geben soll, die nicht anders als jene ohne sichtbare Monarchen auskommen will und die vorhandenen Fäden leider selten zum Thema macht. Es wäre jedenfalls absurd zu sagen, das Volk sei Abglanz seiner selbst.


Mit dieser schwerwiegenden Problematik hat sich bereits die völlig zu Unrecht (oder vielleicht gerade deswegen!) vergessene Ricarda Huch befasst, die zu Beginn der 20er Jahre ein geschichtsphilosophisches, modernen Staatsauffassungen kritisch gegenüber stehendes Werk mit dem Titel „Entpersönlichung“ veröffentlichte, daneben aber auch eine wertschätzende Monografie über den von Ihnen erwähnten Anarchisten Bakunin. Man kann vermuten, dass sie auf der Suche nach dem Ausweg aus dem modernen Dilemma versucht hat, etwas zusammenzudenken, das dem Anschein nach nicht zusammengeht, nämlich Anarchismus und Personalität im besten Sinne, die ohne Gesichter und die größtmögliche Konkretisierung des reflexiven, individuellen Ich naturgemäß nicht auskommen und das Gemeinschaftliche „Ich“ damit zum Leuchten brächten. Nur landet man hier - christlich gesprochen - wieder bei der Frage, ob in diesem Saeculum überhaupt Aspekte des künftigen Regnum politisch realisierbar sind. Dieses Problem drücken Sie in Ihrer Bemerkung aus, dass der anarchische (von: "an-arche") Libertarismus aus Ihrer Sicht das Maximum an sozialer Eiskälte bedeute.