Mittwoch, 11. Dezember 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Die Hypotenuse des Mondes

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Die Hypotenuse des Mondes

„Das ist die Hypotenuse.“
„Wie?“
„Die Hy-po-te-nu-se“
„Und was war noch mal eine Tangente?“
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Hypotenuse. Ein Wort geformt im Mund des betagten Charmeurs. Hingeneigt zu einer kaum weniger betagten alten Dame mit Pagenschnitt und Habachtaugen. Man hatte sich gerade auf dem Weihnachtsmarkt kennengelernt. Letzte Rose. Vielleicht einen Glühwein getrunken. Er hatte ein großes Hörgerät hinterm linken Ohr. Hypotenuse. Ein Lodenmantel, gepflegt, schnurrig, Spiegelgesicht. Sie rechnet bereits. Tangente.
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Die Dame sammelte altes Wissen zusammen. Wie war das alles noch mal? Er ein … sagen wir: Mathematiklehrer i.R.
Die Hypotenuse. Sie setzt dagegen: die Tangente. Er ist am Zug.
Ich muss weiter.
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Später der Mond inmitten der LED-Lichter an Kränen und Straßenbeleuchtung. Er stinkt ab dagegen, keine Frage. Dieser fast runde Schweizerkäse da oben blendet nicht mal. Wie gesittet er immer noch so tut, als müsse er die Nacht  hell machen. Die Tram rumpelt ein, fährt ihre Schiebetritterrungenschaft aus, gleißt. Es ist saukalt, und ich war erst krank. Drinnen Alkoholdunst. Mit Gewürzen.
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Ich treffe meinen Sohn in Durlach, wir gehen nach Hause. Im Wald empfängt uns der Silberschein des Mondes. Hier ist er die Chefleuchte, in der alle Dinge glänzen. Nichts blendet. Bäume werfen glitzernde Schatten in seinem Licht. Gruselig, sagt der junge Mann, findst du nicht. Nein, sage ich. Es ist schön.
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Die Hypotenuse.
Die Tangente.
Glanz. Silberschein.
Stinkt ab gegen LED.
Im Wald nicht.
Gib den Augen die Chance, im Dunkeln zu sehen.
Den Ohren, im Alter die Nachrichten der Tangente zu hören.
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Ich fresse einen Besen, wenn der Alte kein Orgelspieler ist.
Louis Couperin: Carillon de Notre Dame.

Tagebuchfolge bisher:

30.11.2019  Wo ist die Natur? – Tagebuch einer Suche: Dieblaue Kuppel