Wo ist die Natur? — Tagebuch einer
Suche
Morgendämmerung,
später November
Der Blick vom
Berg aus landet weich im Nebel. Äste fließen aus. Die beiden Flutlichter im
Landwirtschaftlichen Versuchszentrum sind kalt leuchtende Wattekerne,
irrlichternde Ahnungen von Ferne. Warum empfinden wir diese widerstandslose,
kantenfreie Weichheit als unheimlich?
Wenn ich es
nicht wüsste, dass es ein ‚Da unten’ gibt, die Rheinebene mit ihren Städten,
der ‚Hardt’, dem breiten Fluss mit seinen langen, flachen Frachtschiffen und die
Kette der Berge gegenüber, sechzig Kilometer entfernt …
Wenn ich es
nicht wüsste, wäre der Nebel mir unsichtbar. Ich wäre im Nebel, ohne zu
erkennen, dass da Nebel ist. Hätte ich niemals klare Luft erlebt, wäre der
Nebel ein Element, in dem ich mich selbstverständlich und ohne Kenntnis
bewegte. Oder sagen wir es schärfer: Ich würde den Nebel wahrnehmen, aber nicht
wissen, dass ich ihn wahrnehme.
Die Folgen
wären immens. Man sieht nicht nur anders und weniger. Man hört auch weniger.
Gerüche würden sich schwerer zu mir hinbewegen, aber sie verflögen auch
langsamer. Unter ‚Weitblick’ verstünden wir eine Spanne von wenigen Metern.
Unser ganzes Denken würde sich verlagern.
Eine großartige
Nebelkosmologie könnte der Naturwissenschaftler sich ausdenken, Mess- und
Beobachtungsgeräte würden nebulöse Theorie bestätigen. Und wer weiß, was er, im
Nebel tappend, als gäbe es keine Welt ohne Nebel, behaupten würde. Seiner
Fantasie wären kaum Grenzen gesetzt. Und prüfen könnte es niemand. Dem
Skeptiker, dem Ahnungsvollen, dass da mehr ist, könnte man immer
entgegenhalten, dass er doch erst einmal sagen solle, wie es denn dann anders
sein könnte als so, wie man es sieht. Und er müsste passen oder aber sehr
komplizierte Gedanken anstrengen, denen wiederum viele nicht folgen könnten,
verweichlicht durch die konturlose Nebelwelt.
Allein: Auch
in einer Nebelwelt tauchen immer wieder Gestalten auf, die uns an ein
„Dahinter“ gemahnen. Solange sie dezent bleiben, lassen sie sich verdrängen.
Die Alten mit
ihrer Vorstellung vom Äther, diesem unsichtbaren Element, das doch alles
zusammenhält, waren vielleicht näher an der Wahrheit als die materialistische Wissenschaft,
eine bis an die Zähne bewaffnete Trutzburg verbissener Theorien wider die kommende
Erkenntnis und Wahrheit.
Aber der
Morgen steigt unaufhaltsam herauf, das Licht jenseits des Nebels zieht in einer
feinen Erhabenheit ein in unser dämmriges Nebelreich, wie ein König, dessen
Kommen Erlösung bedeutet. Das kosmische Licht, nicht das Flutlicht im Versuchszentrum, löst diese unüberwindliche Schicht auf, die Dinge werden klar
und scharf. Fast lautlos trat es heran, mit ‚Macht und Herrlichkeit’, aber was
sage ich: Macht ohne Macht, mit graziöser Liebe und Hingabe und der Würde
seiner Erhabenheit, die nicht herrscht und den Nebelgläubigen weder zwingt noch
treibt, sondern Angebote unterbreitet, die abzulehnen töricht, aber dennoch
verbreitet ist.
Wer auf der
Nebelwelt besteht, darf zurückbleiben, nackt und bloß, benebelt nun ohne Nebel,
ein unvorstellbarer Zustand, aber es gibt ihn — auf eigenen Wunsch dessen, der
sich in der Versuchung häuslich eingerichtet hat, gebannt und erstarrt im
festgekrallten Augenblick der weichen Täuschung.
21. November 2019 (Zu Hause)
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