Sonntag, 24. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Räume. Flächen. Strecken.

Wir bewegen uns physisch in drei Dimensionen. Zumindest erscheint es uns allgemein empirisch so. Der Raum ist eine besondere Form der Konzentration in die Tiefe. Wollte man alle Punkte in einem Raum auf einer Fläche anordnen, nähme sie an Oberflächenausbreitung enorm zu, hätte aber keine Tiefe? Erst recht auf einer Strecke untergebracht wäre diese Punkte-Strecke erheblich länger als die jeweiligen Raum- oder Flächenseitenmaße? Ein Rauminhalt umgerechnet in einen Flächeninhalt?
Ich stelle mir vor, ich gieße einen Liter Wasser aus einem Würfel, der genau diesen Liter enthalten kann, auf eine Ebene: die Ebene hätte erheblich längere Einzelkoordinaten als das Würfelmaß. Aber das Wasser verlöre seine spezifische Konsistenz auf der Ebene in dem Moment, in dem die Höhe h = 0 und damit eine Fläche erreicht wäre, wäre nur noch eine Ahnung, ein theoretischer „Abdruck“ des Wassers.
Oder: Ein großer, aber überschaubarer Tanker auf hoher See leckt und gibt das Öl frei, das fortan als riesiger, unüberschaubarer Teppich auf der Meeroberfläche schwimmt. Auch dieser Teppich, aller, auch der flachsten Räumlichkeit, die auch ein Teppich hat, beraubt, wäre kein Öl im strengen Sinn mehr.
Die Anzahl der Punkte in Räumen und Flächen ist ohnehin unendlich und darum gleich.
Der Übergang von einer in die andere Dimension ist eine Illusion.
Etwa so, wie es illusionär wäre, wenn in der alten Elementvorstellung etwas „nur“ im Feuer oder „nur“ im Wasser oder „nur“ in der Luft existierend vorgestellt wäre.
Alles befindet sich in jedem Element, auch in jeder Dimension, und eine momentane Standortbestimmung trifft immer nur als eine der unendlich vielen Möglichkeiten zu.
Natürlich bietet dies breiten Raum für Spekulationen. Für Alchemie. Esoterik und allerlei naturphilosophische Lehren.
Mein Interesse an den vorhandenen tradierten Spekulationen war stets mäßig.
Die Überzeugung aber, dass der Transformationsmöglichkeiten, um es einmal so modisch zu sagen, unendliche viele sind, ist auch in mir:
Wie anders sollten die Visionen der Propheten verständlich sein, in denen Gott aus einem Feld von Knochen, aus der Erde und dem Meer die Toten zurückruft und wieder sammelt in ihre Gestalt, ganz zu schweigen davon, dass er in der Auferweckung Jesu aus dessen irdischer Gestalt eine himmlische schuf und Paulus davon spricht, es würden nicht alle entschlafen, sondern, wenn der Herr käme, in einem Nu verwandelt werden?
Es ist aus diesem Grunde auch äußerst töricht, wenn wir es für lächerlich halten, dass Maria Jungfrau war und doch einen Sohn gebären konnte, weil die Kraft des Allerhöchsten über sie kam und aus ihrer Gestalt die Gestalt des Christus holte. Es ist mehr als töricht.
In einem gewissen Sinn hat sich das Denken unserer Tage aus der Tiefe in eine totale Verflachung ergossen, so sehr, dass es nicht mehr als echtes menschliches Denken bezeichnet werden sollte. Es ist, wie unser Liter Wasser oben, ohne Tiefenkoordinate seiner selbst beraubt und nur noch ein Abdruck verlorenen Denkens.

24. November 2019 (Sonntagabend, am Ofen)


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