Sonntag, 10. März 2024

Definitionswut und Tucholskys Traktat über den Hund von 1929

Der Traktat über den Hund (1929)  von Kurt Tucholsky führt uns die Definitionswut unserer Tage infolge einer unseligen abendländischen Tradition vor Augen:

Wir definieren alles, dies aber in höchstem Maße phantastisch und mithilfe falscher Zuordnungen, bornierter Annahmen und massenhafter Fehlschlüsse. Nur so konnten wir in einer Welt landen, in der Viren unser Intimfeind sein können, die von Mensch zu Mensch hüpfen wie Klabautermänner, und für alles Böse in der Welt ein einziger Mann dingfest gemacht werden kann, nämlich Herr P aus Russland, der auch dann schuld ist, wenn das Verschuldete natürlichen oder anderen Ursprungs ist wie der Tod eines weit entfernt von ihm lebenden unbedeutenden Mannes wie Herr N.

Im letzten Ende wirft die Definition auf den, der definiert, ein schräges Licht und offenbart ihn uns in seiner ganzen erbärmlichen Bemächtigungswut gegenüber der Wirklichkeit, die sich ihm - beständig wirkend und lebendig - entzieht wie ein Eichhörnchen. Und das größte Ärgernis in diesem Spiel sind all jene, die in seliger Unschuld umherwandeln zwischen den Viren und Herren und ein lebendiger Beweis der wirklichen wirkenden Wirklichkeit sind, in der weder Viren noch Herren etwas vermögen. Man kann sie nur als Ketzer ("Leugner") brandmarken, ohne weiteres Argument und blindwütig, mehr bleibt nicht.

Übrigens: Woher kommt eigentlich das Wort "Definition"?

Es kommt von lat. "definire". De-finire. Man sagt, das hieße "abgrenzen". Es ist ein bisschen eigentümlich mit diesem Präfix "de-". Mal kann es dies, mal das Gegenteil bedeuten. Also: eine De-floration ist die Ent-jungferung. Die Intaktheit der Jungfrau wird entfernt sozusagen. Aber die De-pression meint, dass man die Bedrücktheit - ja was eigentlich? Dass man sie verstärkt? Oder überhaupt erst herabbringt auf den Aufrechten und Freien?

Dieses verteufelte Präfix hat also zwei Richtungen:

1. dass man etwas wegnimmt von etw/jdm wie bei der Ent-Jungferung, oder bei der De-Konstruktion, da nimmt man dem Konstrukt seine Ordnungen, man entzieht etwas, zerstört etwas.

2. dass man etwas dazugibt wie bei der De-Pression. Es wird ein Druck dazugegeben.

ad 2.

Aber stimmt das etymologisch denn wirklich? Geben wir einem mit einer de-pressio wirklich einen Druck hinzu, der vorher nicht da war? Setzen wir mit einer de-finitio eine Grenze, die vorher nicht da war?

Ich empfinde in diesen Begriffen durchaus auch eine Ent-Gestalt, dass etwas genommen wird, nicht nur (dazu-)gegeben.

Ein gesunder, ausgeglichener Druck iS der Druckverhältnisse wird genommen, und dadurch entsteht ein Überdruck für den Deprimierten.
Die natürlichen und ausgewogenen Unterscheidungen, die wir leicht erkennen können sollten, wenn wir in hoher Sprache wären, werden entfernt und ersetzt durch künstliche Grenzziehungen. Ein Mann ist keine Frau und eine Frau ist kein Mann. Das ergibt sich ausgewogen von selbst, genau festzurren kann man es bekanntlich nicht. Nun fangen wir an zu definieren, zu ent-grenzen. Um damit zu leben, müssen wir neue Grenzen setzen, die enger sein müssen, weil sie ständig "umzingelt werden von Wirklichkeit". Unser Habeck hat ungewollt ausgesprochen, was dem Definiteur geschieht, unweigerlich geschieht. Er verstrickt sich in seinen eigenen Truggespinsten, und die Wirklichkeit rückt ihm täglich, stündlich auf den Leib wie ein Feind. So einer glaubt, man könne den Bankrott einer Firma dadurch vermeiden, dass man einfach aufhört zu produzieren.

Warum definieren wir unentwegt und schaffen damit verengte Dogmen in einer Wirklichkeit, die doch lebendig und bewegt ist und jede Definition immer schon überholt hat, bevor sie ausgesprochen wurde?

Aber wohlgemerkt: ich rede nicht der Vagheit das Wort, sondern der Intuition für die gesetzten, gegebenen Grenzen, die man leicht erkennt, wenn man ihnen gelassen begegnet. Durch Ent-Grenzung der gegebenen Unterscheidungen (de-finitio) werde ich es niemals schaffen, irgendetwas einzufangen oder ab-zu-grenzen. Ich schaffe nur Trugwelten, die dem Herzen ewig fremdbleiben müssen.

Daher ist immer wieder zu fragen, wieso die Kirche glaubte, den lebendigen Geist Gottes definieren zu müssen und Lehrsätze aufstellen zu müssen (Dogmen), die sich wie eiserne Höllentore vor das wirkliche Wirken Gottes schoben, wie der Stein vor das Grab Jesu. Man hat die Gläubigen in diesem Grab eingesperrt und lässt sie dort bei Popanz und Kerzenschein Rosenkränze beten und bläst ihnen ein, das seien halt "Mysterien", die der Verstand nun mal nicht erkennen könne. Glauben tut von den so Inhaftierten keiner auch nur, was unter den Fingernagel geht. Sie treten geistlich auf der Stelle. Nicht besser sieht es mit con-fessiones und anderen De-Finitionen aus, Entgrenzungen hinein in die Sklaverei überbordender Re-finitionen (Wieder-Begrenzungen), die als Trugbild der Wirklichkeit entgegengesetzt werden.

Aus dieser kirchlichen Tradition stammt das gesamte abendländische Dilemma, hat die Wissenschaft besetzt und den Geist getötet. Die freie Geisteswissenschaft ist verunmöglicht worden, dafür alles, was mit starren Apparaten, Mechanik und Funktionalismus zu tun hat, als idealistisch aufgefasstes Dogma in die Köpfe gesetzt worden.

Auch die neueren Hoffnungsträger wie die Quantenphysik, die Morphogenetik und fast alles esoterische Denken folgen dieser Entgrenzung mit anschließender Re-Grenzung. Das "Spirituelle" ist einfach nur die paranormale Fortsetzung der empirischen Magie und Technik.

Und so sehen wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, weder im geistlichen noch im weltlichen Bereich, und beides kann man sowieso nicht trennen. Wir irren in unserem vorwiegend medial erschaffenen und wahrgenommenen Wirklichkeitsmuckefuck herum und beugen das Knie vor lächerlichen Mysterien, denen wir das Opfer unseres gesunden Verstandes darbringen und glauben, dafür beim lieben Gott oder den "Eliten" einen Erlösungsbonus zu erhalten. Die Befreiung von Gottes  guten Gaben zugunsten der Lügen und Truggespinste, die wir der kritischen Überprüfung entziehen, indem wir sie mit Unantastbarkeit, Unbedenkbarkeit und Gloriole versehen, also einem klassischen Tabu, hat uns in ewige, sprachlose Sklaverei gestürzt, und das bei inflationärem, klassisch predigendem, (post-)modern digitalisiertem Gequatsche in rudimentären "Sätzen" von Experten mit missio idiotica, Checkern und Besserwissern, die sich sprachlich auf dem Niveau von Primaten bewegen und jeden Text, der länger ist als eine halbe Seite, nicht mehr verstehen, das Problem aber notorisch bei dem sehen, der längere Gedankengänge unbegleitet und souverän denkt ...

Kommen die Gedanken erst einmal in Fluss, könnten sie der wirkenden Wirklichkeit begegnen, und das war und ist der Feind der Trugwelten, auf denen alle Macht und Herrschaft fußt: ein haltloses Gemisch aus Ton und Eisen, von dem wir im Buch Daniel lesen.


Tucholskys Traktat: https://de.wikisource.org/wiki/Traktat_%C3%BCber_den_Hund,_sowie_%C3%BCber_Lerm_und_Ger%C3%A4usch

Montag, 26. Februar 2024

Sprachverhunzung als Selbstmordaktion

 

Sprachverhunzung als Selbstmordaktion


Der von vielen für unseren Zustand konstatierte "Wahnsinn" hängt wesentlich an einem degenerativen Prozess der Sprache in der westlich geprägten Sprechergemeinschaft.


Viele derer, die sich für kritisch halten, beachten das nicht und setzen lieber im Wolkenkuckucksheim an als auf der handfesten sprachlichen Ebene.

Im Gegenteil, man setzt den degenerativen sprachlichen Prozess "spirituell" fort und faselt sich in alternative Wahnwelten hinein, in denen am Ende keiner mehr weiß, wovon überhaupt gesprochen wird. Es ist ein Orwellismus zweiter Güte, ganz nah am Orwellismus erster Art, in dem mit plumper Gegenteils-Rhetorik gearbeitet wird ("Lüge ist Wahrheit", "Krieg ist Frieden", Ignoranz ist Wissen"). Dass Männer keine Frauen sind, kann man noch relativ leicht erkennen, auch wenn es ständig von vielen aus verschiedenen Gründen und in verschiedenen Kontexten behauptet wird.


Auch im sogenannten Alternativbereich wird in teilweise himmelschreiender Art und Weise jedes wahrhaftige Sprechen ausgehebelt und einer hohlen, destruktiven Rhetorik unterworfen.


Etwa wenn Leute sich gegenseitig "für ihr Sein danken". Diesen Satz hört man - meist mit albern-pathetischem Tremolo vorgetragen - als Abschiedsformel neuer Art: "Danke für dein Sein".

Das soll spirituell und philosophisch klingen, viele plappern es, gedankenlos-euphorisiert und bereits sprachlich erheblich geschwächt, einfach nach, weil sie vielleicht wirklich den aufrichtigen Wunsch haben, dem anderen etwas Respektvolles zu sagen. Dahinter steht, dass sie so verwirrt sind, dass sie nicht mehr wissen, wie sich Respekt sprachlich wahrhaftig und dem sprachlichen Spiel und Regelwerk entsprechend ausdrücken kann und wie eben nicht. Auch hier ist Lüge Wahrheit geworden und produziert wie in einer Kettenreaktion verkehrte Aussagen um verkehrte Aussagen.


Jeder sprachsensible und vor allem sprachfähige Mensch weiß, dass man niemandem für sein Sein danken kann, außer vielleicht Gott alleine, der aus sich selbst heraus ist und nicht geboren wurde.

Ich kann sagen: "Wie schön, dass es dich gibt." Oder: "Gott, ich danke dir, dass du den X geschaffen und in mein Leben geführt hast." Oder: "Ich bin so froh, dass es dich gibt!" Ich kann auch ähnlich sagen: "Ich liebe dich gerade so, wie du bist." Oder: "So, wie du bist, bist du für mich wunderschön, wunderlieb, wunderbar ..."

Aber einem, der sich nicht selbst gebären kann, für sein "Sein" zu danken, offenbart, in welcher geistigen Verwirrung und Hybris wir uns allesamt befinden!


Der nächste Punkt ist, dass es schwierig ist, rein philosophisch gesehen, einem Einzelwesen "Sein" zuzuschreiben. Jedenfalls als Allgemeinaussage, die wir mit unserer Wahrnehmung dieses Einzelwesens verknüpfen. Immerhin - wenn man bescheiden und sprachmächtig wäre - müsste man erkennen, dass man nicht über das "Sein" des anderen reden kann. Man erlebt ihn im "Dasein" oder als "Seienden", aber von seinem "Sein" weiß man nichts.


Die gesamte Sprache mit ihrer Lebendigkeit und ihrem komplexen Regelwerk wird tagtäglich sowohl massenmedial als auch alternativ-medial nicht nur auf den Kopf gestellt, sondern auch zurückgeschnitten auf idiotisches Blabla, Schein-Sprache und in letzter Konsequenz wird eine solche Sprache nicht einmal mehr die Verständigungsqualität von Tierlauten erreichen können. Wer so unüberlegt daherfaselt und alles verkehrt, wird sich selbst ins Verstummen, in die Kommunikationsunfähigkeit bringen. Denn machen wir uns nichts vor: Wer anderen für ihr Sein dankt und wer so ein Lob auch noch schmeichelhaft findet, der weiß nicht mehr, wovon er überhaupt spricht. Es ist die totale Entleerung jeglicher Sprachfunktion, außer der, Fiktionen zu erschaffen, in sich Absurdes, Lügenhaftes und Bodenloses. Orwellsche Sprache wird schnurgerade in den Tod führen.


zeitschnur, [25.02.2024 13:24]

Es nützt auch nichts, dass nun alle "in Resonanz" mit diesem Gefasel gehen, denn sie fragen sich ja nicht ehrlich, was da wo genau eigentlich resoniert und ob sie nicht einfach nur einer fremden Steuerung erliegen, die weiß, auf welcher psychologischen Tastatur man spielen muss, um in Menschen irgendetwas resonieren zu lassen, das den Unterbauch kitzelt und den feinen Geist plump überschreit. Den feinen Teegeschmack kann man nicht mehr entfaltet genießen, sobald Kaffee in der Kanne serviert worden ist ...

Sie geben der inflationären Manipulationskunst auch noch eine schein-spirituelle Dimension, wozu sich die verbrecherische Propaganda des Mainstreams noch gar nicht verstiegen hat. Die Alternativen bieten das auch noch gratis dazu an.


Die alternative Geschwätzigkeit, die das tägliche Geschehen durchhechelt, ist auch abgerückt davon, dass sie etwas "wahrnimmt" oder "Wahrnehmungen" hat. Nein: heute ist alles eine "Gewahrnahme". Und was bitte soll nun der Unterschied im realen Gebrauch dieser beiden Worte sein? Da diese Leute die "Gewahrnahme" ja vorher nicht kannten und gebrauchten, wissen sie ja nicht, wie man dieses Wort gebraucht. Irgendeiner hat sie drauf gebracht, o, und schon stürzen sie sich drauf, es klingt wie "mit mir in Resonanz gehen", also nichts wie hin und ausgeweidet dieses Wort!


Auch hier: Unüberlegter Sprachgebrauch!


"Wahrnehmen" heißt, dass man etwas sinnlich erfasst und benennt. Also ich sehe, höre, rieche oder ertaste etwas, vorausgesetzt ist eine gewisse Passivität und Affektionsbereitschaft, und ich sage "Ich habe vorhin ein Rudel Rehe über das Feld rennen sehen". Man beschreibt auch Akte der Einfühlung mit dem Wort "Wahrnehmung": "Ich nahm wahr, dass er zwar schwieg, aber nicht einverstanden schien".

"Gewahrnahme" heißt ... ja was eigentlich?

Ich meine: Ohne dass wir etwas hineingeheimnissen?

Es geht schon damit los, dass die guten Leute nicht wissen, wie man "etwas gewahr werden" grammatisch korrekt gebraucht. In schöner Regelmäßigkeit wenden sie es im Dativ an (Erinnern wir uns: "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod"). Nun wird "gewahr werden" primär mit Genitiv gebraucht, zB so: "Ich wurde seiner gewahr." NICHT: "Ich wurde ihm gewahr"! Als Variante gibt es die Anwendung im Akkusativ: "Ich werde ihn gewahr."


Und letzteres zeigt uns, dass die Falschsprecher keinerlei Verständnis und Fühlung mehr für die Regeln und die Logik der Sprache haben!

Gewahrnahme wird nicht jemandem zugefügt (daher MUSS der Dativ ausgeschlossen sein!), sondern ich werde affiziert von der Erscheinung dessen, was ich wahrnehme und vollziehe dies aktiv. Das kann im Bezug auf den wahrgenommenen Gegenstand nur die Haltung der Distanz ausdrücken, also Genitiv oder Akkusativ, denn die Gewahrnahme ist nach innen gerichtet: Von außen geht etwas nach innen: In der Außenwelt ist etwas, das mich affiziert und das ich nach innen transportiere und erfasse. DAS ist Gewahrnahme, übrigens sachlich kaum etwas anderes als Wahrnehmung, nur etwas stärker als Wahrnehmung im Sinne vielleicht nur zufälliger, beiläufiger Affektion ohne weitere Mühe, sich damit innerlich zu befassen. Aber die semantischen Felder beider Worte fließen ineinander.

Ein Dativ würde sich auf das wahrgenommene Ding beziehen, das irgendwie behandelt wird. Man kann sagen "Ich werde ihm gerecht". Eine Gewahrwerdung in diesem Sinne ist unmöglich. Gewahrwerdung und Gewahrnahme liegen ausschließlich bei mir selbst und formen etwas in mir selbst, nicht beim anderen.


Mir ist klar, dass dieses hochtrabende Reden, in älterer Literatur kennzeichnet es den Dorftrampel, der nun auch mal gehoben sprechen will, der verzweifelte Versuch ist, sich aus dem sprachlichen Sumpf am eigenen Schopf herauszuziehen. Aber es geschieht tumb und arrogant, denn man ist - vor allem die bereits größeren alternativen Kanäle - erstaunlich beratungsresistent und redet nicht mit denen, die viel von Sprache verstehen. Man kocht im eigenen Sud und umgibt sich mit Gesellen auf gleichem Niveau.


zeitschnur, [25.02.2024 13:24]

Ich würde davon nicht so ausführlich schreiben, wenn ich nicht besorgt wäre darum, dass durch diese Dominanz im alternativen Bereich das angelaufene Unglück noch beschleunigt wird.

Die eigentliche Problematik liegt in einer Sprache, die sämtliche Funktionen der Sprache aufhebt.

Es sind dies die kommunikativen Funktionen, das Mittel einer präzisen und lebendigen Verständigung ebenso wie die Möglichkeit, zu Erkenntnis und Wissen zu kommen und darüber verständlich und substanziell zu sprechen. Und es sind die logischen Funktionen der Sprache, ohne die Sprache ihren gesamten Sinn verliert. An diesem letzten Punkt sind wir bereits angekommen! Kein Kommentarstrang, in dem nicht geradezu massenhafte Rechtschreibfehler sich häufen - nach Meinung derer, die da Unsinn verzapfen alles egal, man muss ja nur "irgendwie" "fühlen", was sie meinen. Ausgerechnet alle logischen Funktionen der Sprache werden in der Rechtschreibung regelmäßig nicht mehr erfasst und verkehrt geschrieben, zB die berühmte Konjunktion "dass". Man ist wirklich inzwischen so heruntergekommen, dass (!!!) man das nicht mehr verstehen kann. Ja, ich weiß: manchmal ist es nur ein Versehen, kein Verständnisfehler, es kann auch mal ein Vertipper sein, bei mir ja auch, aber grundsätzlich sollte so ein Fehler niemandem unterlaufen, der glaubt, er müsse Kommentare schreiben! Wer eine logische Funktion wie eine Konjunktion nicht versteht, weiß schlicht nicht, wovon er überhaupt spricht und sollte den Mund halten und erst einmal in sich gehen und lernen.

Wer diese Funktionen so leichtfertig aufgibt, wie es derzeit auch seitens der unsäglichen Dauer-Hetz-und-Verwirr-Propaganda der Politik und Medien getan wird, schneidet den Weg zurück für immer ab. Auch die Hetzer und Propagandisten selbst werden an den Punkt kommen, wo sie keine Wahrheit mehr verkehren können, weil ihnen wirklich abhanden gekommen ist, dass sie überhaupt noch irgendetwas selbst wahrnehmen können, geschweige denn, eines Dings gewahr werden. Sie werden dann selbst nicht mehr wissen, was wahr ist und was nicht und wie Wahrheit alleine schon aufgrund logischer Schlussverfahren konstatiert werden könnte oder auch nicht. Sie werden in ihrer eigenen Idiotenlogik ersaufen, wie man es zuletzt ja bei Correctiv gespenstisch sehen konnte.


Man mag sich dann noch über den Bauch und Emoticons verständigen, bis auch das - ansatzweise ja jetzt schon durch Politschauspieler - verwirrt ist und Tränen nur noch herausgedrückt und Lachen am offenen Grab und auf dem Schlachtfeld den Abgründen totaler Bosheit der Nichtigkeit übergeben werden, der die, die so handeln und reden, niemals mehr entrinnen können.


Ein jeder bedenke dies, bevor er sich in irgendwelche aufgestellten Fallen begibt, die unsere Wirklichkeit überziehen wie Tretminen ein Feld. Die Zukunft gehört denen, die hier nicht mitmischen, beiseite treten und hoffen, als Sprachfähige zu überleben bzw von Gott selbst hindurchgeführt zu werden.

Dienstag, 16. Januar 2024

Der Kuss Jesu in der Legende vom Großinquisitor von Fjodor M. Dostojewski

Der Kuss Jesu in der Legende vom Großinquisitor von Fjodor M. Dostojewski


Die Frage, was es zu bedeuten hat, dass Jesus in Dostojewksis Legende vom Großinquisitor den alten und zynischen Hierarchen wortlos küsst, dass dies seine einzige, „tätige“ und materiell fassbare Antwort auf die seitenlange Anklage des alten Kardinals gegen den Erlöser ist, wird oft gestellt und niemals beantwortet.


Ich finde das so verständlich wie verwunderlich, denn das Kuss-Motiv in der Passion Christi ist wohlbekannt. Allerdings – jetzt, wo ich das schreibe, bemerke ich, dass dieser Judaskuss zwar allgemein als Akt des Verrates, als eine Verkehrung eines Zeichens der Liebe, Versöhnung und Freundschaft angesehen wird. Die Natur der Verkehrung dieses Kusses wird aber nicht ausreichend reflektiert und bleibt auf der Oberfläche des verabredeten Verräterzeichens stehen, auf der es nur darum geht, zum Zwecke der Verhaftung Jesu unter mehreren anwesenden Männern den „richtigen“ zu markieren.


Das Matthäus-Evangelium (Mt26) überliefert uns den Sachverhalt folgendermaßen:

Mitglieder des Sanhedrin und Älteste des Volkes beschließen nach mehreren starken, obrigkeitskritischen Auftritten Jesu in Jerusalem kurz vor dem Pesachfest, den Redner mit List zu ergreifen und zu töten.
Jesus befindet sich unmittelbar vor diesen Ereignissen im Hause „Simons des Aussätzigen“, eine Gestalt, die bisweilen mit Lazarus, den er auferweckt hatte, identifiziert wird.


Mitten hinein in diesen Aufenthalt tritt eine Frau. Eine Frau, die in der Runde nichts zu suchen gehabt hätte und einen unglaublichen Akt begeht:


Sie holt ein Alabasterfläschchen mit kostbarem Salböl hervor und salbt das Haupt Jesu.


Diese Handlung samt der Akzeptanz dieses Aktes, die Jesus zeigt, erregt den Unwillen der Jünger. Sie murren und moralisieren, sprechen von Verschwendung und davon, dass man anstatt so viel Geld für solchen Unfug aus dem Fenster zu werfen, einige Arme hätte unterstützen können.
Einem Bild Jesu als „Sozialrevolutionär“ wird hier ein Zahn gezogen. Allerdings wird uns gesagt, dass dieses Missverständnis bereits die Apostel geleitet haben muss. Alle nehmen sie daran Anstoß, ohne Ausnahme.


Jesus sagt daraufhin einen denkwürdigen Satz:


Denn als sie dieses Salböl über meinen Leib goss, tat sie es zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.“ (Mt26, 12f)


Eis mnemosynon autes, ihr zum Gedächtnis, werde dies erzählt werden, wenn es um seine Frohe Botschaft vom kommenden Reich gehe.


Schon an dieser Stelle sollte jeder aufmerksame Schriftleser stutzen:


Ist das so, wie Jesus es sagte? Wo wird denn diese Geschichte erzählt, stets zusammen mit seiner Frohen Botschaft?

Sie wird in der Tat nur selten miterzählt, überhaupt selten erwähnt und am besten von allen vergessen. Alleine schon das ist ein Hinweis darauf, dass die Botschaft, die die Kirche verkündet, nicht dieselbe sein kann, die Jesus verkündete.


Warum aber sollte diese Geschichte für Jesus und sein Reich so wichtig sein?


Er selbst sagt, diese Salbung sei zu seinem Begräbnis geschehen. Aber warum war es wichtig, dass er vor seinem Begräbnis, als noch Lebender, gesalbt wurde?


Wir wissen, dass in den Evangelien-Erzählungen die Frauen Jesus salben wollten, als er wirklich gestorben war, dazu aber nicht mehr kamen, weil er bereits auferstanden war. Zwar „wickelte ihn (Josef von Arimatäa) in ein reines Leinentuch“, als er ihm nach der Kreuzabnahme am Freitag eine Grabgruft gab, aber er salbte ihn nicht (Mt27,60).

Maria Magdalena und eine andere Maria hätten es beobachtet, heißt es in V61.

In Lk23,56 und 24,1 wird präziser berichtet, diese Frauen hätten das gesehen und anschließend Salböle bereitet, aber den Schabbat abgewartet, bis sie zur Tat schreiten wollten: Der Verstorbene musste unbedingt auch gesalbt werden. Warum hatte Josef das versäumt? Das Johannes-Evangelium erzählt, Nikodemus, der, der nachts einmal zu Jesus heimlich gekommen war, habe Salböle zu Josef gebracht, hundert Pfund Myrrhe und Aloe, und die beiden hätten die Leintücher mit diesen Ölen versetzt (Joh19,40). Diese Divergenz ist eigentümlich.


Das Thema der Salbung durchzieht also diese letzten Stunden Jesu in auffallender Weise.


Zugleich hängt die Frage seiner Salbung mit den Frauen zusammen, die sie wollen und vollziehen, und den Männern, die sie – weitgehend – vergessen oder sogar verweigern und ablehnen.


Warum ist das so denkwürdig?


Hier scheiden sich zwei Wege, die unscharf mit den Geschlechtern verbunden werden: Frauen erkennen den Christus als den Gesalbten an und wollen, dass er auch seitens des Menschen wirklich gesalbt wird, Männer nicht. Was bedeutet diese Beobachtung?


Sie bedeutet in der Logik der Evangelienberichte, dass seine Salbung, die ihn letztendlich als Gesalbten, König, als Christus, als maschiach, auszeichnet, eine Salbung zum Tode ist.


Um das zu verstehen, muss man die Auseinandersetzung Gottes mit den Israeliten bedenken, die ihn als ihren König verwerfen zugunsten eines menschlichen Königs. Wir finden diese Geschichte in 1Sam8: Sie wollen wie alle Welt beherrscht werden von einem Menschen und seinem Hof, weil sie glauben, dadurch stabiler und wehrfähiger zu werden, Vorteile gegenüber den Nachteilen der vorherigen Anarchie unter der alleinigen Führung von Richtern und Propheten zu erlangen. Gott stellt ihnen in einer langen Rede des Propheten Samuel vor Augen, dass die Staatsbildung und das Königtum sie zu Sklaven machen wird, aber sie beharren darauf, einen König zu wollen. Und Gott – gibt ihnen einen König, den er durch Salbung designieren lässt. Der erste König Israels wird Saul sein, den Gott später seinerseits verwerfen wird.


Die Salbung ist im israelitischen Kontext folglich eine ambivalente Sache, sie markiert ein Handeln Gottes, eine Designation wider Willen, aus pädagogischen Gründen womöglich, wie es in der jüdischen Reflexion bisweilen vermutet wird. Gott hätte es jedenfalls der Erzählung nach klar und eindeutig anders gewollt. Umso erstaunlicher, dass bis heute zahlreiche Theologen darüber fabulieren, dass Gott selbst das Königtum eingesetzt habe, dass es der Katechon sei, dass es seine Herrschaft über die Erde abbilde und dergleichen.

Definitiv verfehlt eine solche Theologie die tatsächliche literarische Anlage in der Heiligen Schrift, die konsequent durchgezogen wird bis zum Schluss: Das Königtum steht wider Gott, auch wenn der eine oder andere König tut, was dem Herrn wohlgefiel, als Institution widersteht es Gott und verstellt dem Menschen den Blick auf die göttliche Regierung. Aufgrund der Halsstarrigkeit seines Volkes gesteht er ihnen aber einen König zu.


Verwundert es angesichts dieses Hintergundes, dass der Christus, der Gesalbte und Menschensohn, der wirklich eins ist mit Gott, weder herrscht, noch regiert noch irgendwelche Anstalten dazu tut, ein Reich verkündet, das basileia tou Theou heißt, Reich Gottes, das Reich, dem sich die Israeliten widersetzt hatten und das ihnen dennoch, ihnen und damit der ganzen Menschheit, durch die Propheten verkündet wurde als die kommende malkhut?


Ein Reich, in dem Menschen nicht mehr übereinander und schon gar nicht über Gott herrschen können, in dem sich jede – durch das ehrlich empfundene Unbehagen an der Situation in diesem Weltsystem – gelehrte (platonische und gnostische) Debatte über die Frage, ob (untätige) „Regierung“ und (tätige) „Herrschaft“ in eins fallen oder nicht zusammen zu bringen sind, erübrigen wird, weil Gott nicht herrscht, wie Menschen sich Herrschaft vorstellen? Weil er, der Allerhöchste, eben nicht der unbewegte Beweger ist und der Christus nicht seine tätige Hypostase, beinahe zu verwechseln mit dem Demiurgen, der böse ist oder versagt?


All diese Überlegungen werden in diesen kurzen Szenen der Evangelien förmlich gesprengt. Akteure dieser Sprengung sind Frauen. Der konservative Bischof Rudolf Graber wies in einer kleinen Schrift „Maria im Gottgeheimnis der Schöpfung“ auf diese auffallende Zeichnung der Evangelien hin: Gott übergeht den Mann als Akteur und Herrscher, er lässt ihn wegen seines Unglaubens förmlich verstummen (wie Zacharias), er erteilt ihm Befehle (wie Josef von Nazareth) und lässt plötzlich in vermehrter Form Frauen prophetisch, erfüllt von seinem Geist, sprechen (Maria, Elisabeth, Hanna ...), ja, der angeblich müßige, unbewegte Beweger ist es, der sich als hypsistos (Allerhöchster) der Jungfrau Maria direkt zuwendet, wie Gabriel es ihr ansagt. Und Jungfrau ist sie, um zu klären, dass hier kein Mann als Vermittlungsinstanz zwischen Gott und Mensch gestellt ist! Nicht, weil Sexualität abgewertet oder verteufelt würde oder gar die Niedrigkeit der Jungfrau der Boden sei, auf dem Gott wirken wolle, wie man es kirchenhistorisch so gerne deuten wollte. Nicht deswegen, sondern weil eine Jungfrau ausgewiesenermaßen, wie Maria es ja selbst sagt, von keinem Mann weiß (Lk1,34), bislang leibhaftig unberührt ist von den handfesten, materiellen Herrschaftsansprüchen dieses Weltsystems. Wir erfahren hier, dass der vermeintliche, unbewegte Beweger, der hypsistos, sogar sehr bewegt ist angesichts des Menschen, nicht nur Mariens, und selbst tätig wird und tätig ist im Menschen und bei den Menschen.


Der Gesalbte Gottes muss sich als ein nach irdischem Verständnis Anti-Gesalbter erweisen, ein Gesalbter, der im Weltsystem mit seinen verkehrenden Salbungen als solcher sterben muss, weil er sich als wirklicher Gottessohn, der mit dem Vater eins ist als Menschensohn (!), zwar als König erweisen wird, aber eben nicht von dieser Welt, wie er es selbst vor Pilatus sagt, he basileia he eme ouk estin ek tou kosmou toutou, mein Reich ist nicht von diesem kosmos (Weltsystem) (Joh18,36).


Wir treffen in den Handlungen der Frauen eine Tor-Öffnung an hin zu einem Verständnsi des Reiches Gottes: Ja, dieser ist der Christus, der Gesalbte, und wir erkennen es an, wir salben ihn, aber – und das hält Jesus der Frau im Hause Simons des Aussätzigen entgegen: Diese Salbung ist eine Salbung zum Tode. Ein Königtum der Verkehrung wird es künftig nicht mehr geben, künftig, in diesem kommenden Reich. Und doch setzt der Christus, der Gesalbte Gottes, mit dieser Salbung durch den Menschen, durch die Frau, schon jetzt allem irdischen Königtum ein Ende, eine Verfallszeit.

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Nach diesem langen Vorlauf komme ich zurück auf Judas, den Verräter, den, der das Zeichen der Liebe und Übereinstimmung, das Zeichen der Belebung und des Hauches des Mundes, des Atems, den Kuss, als Zeichen der Verkehrung anwandte.


Er kommt erst ins Spiel, als Jesus die Salbung durch die Frau lobte und festsetzte, dass sie miterzählt werde, wenn sein Reich verkündet würde. Offenbar brennen nach dieser Szene bei den Jüngern die Sicherungen durch.


Direkt nach Jesu Aussage „Wo dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis“ hören wir in V14, einer der Zwölf sei hingegangen zu den Hohenpriestern und habe ihn ausgeliefert. Für 30 Silberlinge empfing Judas den Auftrag, eine Gelegenheit zur Gefangennahme herzustellen. "(Er) hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Wen ich küssen werde, der ist es, den ergreift!" (V48)

Es fragen sich alle, ob sie es womöglich sind, die ihn überliefern werden, und anschließend, bizarrer könnte die Szene nicht gestaltet werden, „entstand aber auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen für den Größten zu halten sei“ (Lk22,24).


Jesus hält anschließend eine „systemkritische“ Ansprache zu den Fürsten und Königen dieser Welt, die sich „Wohltäter“ nennen lassen, euergetai.

Wer dächte da nicht sofort an die superreichen Männer unserer Tage, die sich als „Philanthopen“ huldigen lassen und doch „üben sie (nur) Gewalt“ über uns? (Lk22,25)

Trotz der Haltung des Verrates unter den Jüngern verheißt Jesus ihnen das zukünftige Reich, in dem sie über die zwölf Stämme Israels richten werden, aber zuvor würden sie vom Satan „gesichtet (gesiebt) wie Weizen“. Sie werden das nur überstehen wegen des Gebetes Jesu für sie …


Sagt nicht auch der Großinquisitor, er und die kirchlichen Hierarchen handelten aus reiner Menschenliebe („Philanthropie“) gegen die Menschen so, wie sie es täten?


Sie werden uns als ihre Wohltäter vergöttern“, lässt Dostojewksi seinen Großinquisitor sagen, und in der bekannten selbstmitleidigen Weinerlichkeit, die wir so oft von Herrschern hören müssen, stilisiert er sich als Opfer seiner guten Tat: „Oh, wir werden ihnen auch die Sünde erlauben, denn sie sind ja schwach und ohnmächtig, und sie werden uns wie Kinder dafür lieben, daß wir ihnen erlauben zu sündigen. Wir werden ihnen sagen, daß jede Sünde getilgt werde, wenn sie mit unserer Erlaubnis begangen worden sei, daß wir ihnen erlaubten zu sündigen, weil wir sie liebten, und daß wir die Strafe für solche Sünden auf uns nehmen wollten. Und wir werden sie auch auf uns nehmen (). Und alle werden glücklich sein, all die Millionen Geschöpfe; nur die hunderttausend nicht, die über sie herrschen. Denn wir allein, die wir das Geheimnis bewahren, wir allein werden unglücklich sein.“1

Ich sagte oben: Man hat aber in der Kirchengeschichte diese Geschichte von der Salbung nicht immer dann erzählt, wenn man das Evangelium verkündete! Sie steht wie ein unerkannter Schatz, wie ein belächelter, für bedeutungslos gehaltener Schlüssel zur Erkenntnis der Dinge mitten in den Evangelien.

Und wie schon damals der „systemische“ Mann verweigerte, diese Handlung anzuerkennen, so tat er es weiterhin und verkündete ein Evangelium ohne diese Frau und ihre Salbung Jesu. Dieser Typus weist uns direkt auf Judas, aber nicht nur auf ihn, denn alle Jünger fragen Jesus nach seiner Ankündigung, dass einer von ihnen ihn verraten würde, ob sie es seien (!). Er selbst sagt in Mt26,31, dass „in dieser Nacht alle (der Jünger) an ihm Anstoß nehmen werden“. Der Typus verweist als der, der Anstoß nimmt daran, wie Jesus auftrat und wirkte, ebenso direkt auf den Großinquisitor, der Jesus vorwirft, er habe alles verkehrt gemacht, er habe seine Mission verraten, er überfordere die Menschen und nehme sie in ihrer Schwäche nicht ernst, und dann lasse er sich auch noch kreuzigen, ohne sich zu wehren …, er helfe den Armen nicht, sondern verlange ihnen etwas ab, das sie nicht leisten könnten als Sünder.


Vielfach und hartnäckig schallt uns diese Meinung bis heute entgegen, die das Erbarmen mit der Sündhaftigkeit verkehrt in eine förmliche Rechtfertigung des Sünders als Sünder, ihn festfriert in seinem Zustand und verneint, dass sich an diesem Zustand je etwas ändern könnte, bevor der Christus wiederkehrt, der ja sowieso nicht so bald oder gar nicht oder nur in einem „übertragenen“ Sinn wiederkomme, obwohl wir in der ganzen Schrift von Anfang an bis zu ihrem Ende immer wieder Sätze hören, die uns sagen, dass dieser Zustand der Gefrorenheit in diesem kosmos sich ab sofort auflösen wirdaber nicht mit einem Schlag, sondern in einer Entwicklung gedrängter Zeit, die auf ihre Erfüllung zustrebt.


Das große Thema der Christus-Nachahmer wird es sein, in dieser Schmelze des Eises das Krachen, das Brechen, das Sich-Auflösen der scheinbar so fest geordneten, starren Dinge und die immer noch bleibende Kälte, nun in der Tauphase als noch stärker empfundene Kälte, zu ertragen. Johannes lässt Jesus sagen, aus dem Inneren dessen, der an ihn glaube, würden „Ströme lebendigen Wassers ausgehen“. Es ist eine andere Herausforderung für jeden, nicht zu wissen, wohin das gelöste Wasser seinen Weg nehmen wird, welche Ordnungen sich daraus ergeben werden.


Man will diese Auflösung dann lieber gar nicht, besser ganz steif und fühllos, als frierend, man agiert gegen die Christus-Schmelze mit allen Mitteln, vor allem denen der totalen Verkehrung der Dinge, ganz so wie der cold genius in Purcells Oper King Arthur, der in der Liebe beginnt zu tauen und darum fleht, wieder zum Tode eingefroren zu werden, weil er nun, im Auftauen, erst spürt, dass ihm unerträglich kalt ist:


COLD GENIUS

What power art thou, who from below

Hast made me rise unwillingly and slow

From beds of everlasting snow?

See'st thou not how stiff and wondrous old,

Far unfit to bear the bitter cold,

I can scarcely move or draw my breath?

Let me, let me freeze again to death.


(Welche Macht bist du,

die du mich von unten

unwillig und langsam

aufkommen ließest,

aus Betten ewigen Schnees?

Siehst du nicht,

wie steif und wunderlich alt,

weithin unfähig,

bittre Kälte zu ertragen,

ich kaum zu regen mich,

kaum den Atem noch

zu schöpfen weiß?

Lass mich,

lass mich

wieder einfriern

hin zum Tode.)


Judas, so heißt es, sei mit einer ganzen Soldateneinheit gekommen und habe Jesus, wie verabredet, geküsst.

Jesus fragt ihn: „Judas, überlieferst du den Sohn des Menschen mit einem Kuss?“ (Lk22,48)

Damit tust du das, könnte man diese Frage oder Aussage verstehen, damit, ausgerechnet ein Kuss ist dein Zeichen des Verrates, ein Kuss, der doch das Zeichen der Freundschaft, der Liebe, der Einigkeit, des Vertrauens und der Besiegelung von Übereinkünften ist?!

Der Kuss wird zum Zeichen der Feindschaft, des Hasses, der Zwietracht, des Misstrauens und der Aufhebung aller vorherigen Übereinkünfte in einer Art „Orwellscher Umkehrung“:


Im Zeichen der Liebe wird der größtmögliche, denkbare und praktikable Verrat begangen!


Damit wird auch die gesamte Haltung des Großinquisitors beschrieben, der dem Menschensohn, der Sohn Gottes genannt wird, vorwirft, die Menschen verraten zu haben in Gottes Namen.


Unter dem Banner Christi bekennt der Großinquisitor Jesus, der für einen Besuch vor seiner Wiederkehr die Welt besucht und von dem greisen Kardinal festgenommen worden war, nachdem er in der Stadt Sevilla Kranke geheilt hat, dass seine Macht satanischer Herkunft sei. Man könnte den langen Monolog des Großinquisitors als eine Beichte verstehen, die nur gesagt wird, um jede Reue und Absolution auszuschließen:


Warum bist Du jetzt gekommen, uns zu stören? Und was blickst Du mich stumm und durchdringend an mit Deinen sanften Augen? Zürne mir doch, ich will Deine Liebe nicht, weil ich selber Dich nicht liebe (…) Könnte ich denn vor Dir unser Geheimnis verbergen? Vielleicht willst es gerade aus meinem Munde vernehmen. So höre denn: wir sind nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser Geheimnis! Wir sind schon längst nicht mehr mit Dir, sondern mit ihm, schon seit acht Jahrhunderten (…) Wir nahmen von ihm Rom und das Schwert des Kaisers und erklärten uns selbst zu irdischen Königen, zu den einzigen Königen, wenn es uns auch bis heute nicht gelungen ist, unser Werk zu vollenden.“2


Der Kardinal sagt, woher die Kirche ihre Macht erhalten hat: Vom Satan. Und dass die Verbesserung des Werkes Jesu, die sie sich zum Ziel gesetzt hat, eine satanische Verkehrung ist.


Von Judas hatte es im Johannes-Evangelium beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern geheißen: Und nach dem Bissen fuhr dann der Satan in ihn“ (Joh13,27). Judas vollzieht in einer zusammengeschobenen Zeit, was die Kirche über Jahrhunderte weg tat. Am Ende erhängt er sich, weil es ihn reute, was er getan hatte, bevor Jesus hingerichtet worden war. Der Hohe Rat blieb hart und nahm trotz der Intervention des Judas seine Pläne zur Tötung Jesu nicht zurück (Mt27,3). Ob er vielleicht eine letzte Hoffnung hatte, dass Jesus sich nun, nun endlich als der Mächtige und Starke erweisen würde und seine Häscher überwinden und bloßstellen würde? Ob er ihn überliefert hatte, um ihn erneut zu versuchen wie der Satan in der Wüste?


Eine Fähigkeit zu Reue und Umkehrwillen scheint bei der Figur des Großinquisitors indes völlig erloschen zu sein. Er kündigt Jesus an, ihn am nächsten Tag ebenso verbrennen zu lassen, wie er tags zuvor an die hundert Häretiker auf dem Scheiterhaufen ausgelöscht hat: „Denn wenn jemand den Scheiterhaufen verdient, dann bist Du es. Morgen werde ich Dich verbrennen. Dixi.“3 Ausdrücklich erkennt er, dass Jesu Weigerung, sich auf die satanischen Versuchungen in der Wüste, auf irdische Macht und Herrschaft einzulassen, bestehen bleiben würde – er kennt ja die Geschichte um Judas und die Passion Christi.


Das größte Ärgernis ist für den Inquisitor, dass Jesus gekommen ist, vor seiner Wiederkunft einmal eine kleine Zwischenstation gemacht hat, um zu stören.


Die Parallelität der Ereignisse kann nicht übersehen werden:
Wieder erregt Jesus den Zorn der religiösen Obrigkeit, diesmal der Kirchenoberen, damals des Sanhedrin. Wieder trachtet man danach, ihn zu töten, weil er ein Aufrührer und Gotteslästerer bzw Häretiker sei. Und mehr noch als bei ersten Mal wählt Jesus diesmal das Schweigen. Heißt es in den Evangelien erst nach einigen knappen Wortwechseln zwischen ihm und den Obrigkeiten, als man ihn Herodes vorführte „er jedoch antwortete ihm nichts“ (Lk23,9), so schweigt der gekommene Jesus bei Dostojewksis Poem durchweg. Der Großinquisitor spricht das Todesurteil aus.


Er aber nähert sich schweigend dem Greis und küßt ihn still auf seine blutleeren, neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort. Der Greis fährt zusammen. Seine Mundwinkel zucken; er geht zur Tür, öffnet sie und sagt zu Ihm: ‚Geh und komm nicht wieder!‘ Und er läßt Ihn hinaus auf die dunklen Straßen und Plätze der Stadt. Der Gefangene geht.“
Aljoscha, der diese Sätze von seinem Bruder Iwan erzählt bekommt, fragt:
„Und der Greis?“

Und Iwan antwortet:
„Der Kuß brennt in seinem Herzen, doch der Greis bleibt seiner Idee treu.“


Jesus wählt das Mittel des Verrates durch Judas. Damals wurde er geküsst und damit verraten. Er holt das Zeichen aus seiner ganzen Verkehrung zurück in seine eigentliche Bedeutung und küsst den Greis, den blutleeren, schon halbtoten Alten oder in einem geistigen Sinne Ganztoten.


Der Kuss erhält seine Bedeutung zurück als Zeichen der Liebe und Freundschaft und Verlässlichkeit. Und der Gelegenheit zur Wiederbelebung und Auferweckung.


Immerhin erreicht dieses Zeichen das Herz des Alten – er hat noch ein Herz, und es brennt. Aber er ergibt sich nicht dem Herzen, sondern beharrt auf der sturen Idee, ganz wie der Cold Genius, der lieber wieder vereist, als den Schmerz des Auftauens zu spüren.


Dostojewksi unterstreicht den Kuss in seiner zentralen Bedeutung: Als die beiden Brüder Iwan und Aljoscha sich trennen, fordert Iwan Aljoscha, der Mönch geworden ist, heraus mit den Worten:


„‘Alles ist erlaubt‘ werde ich nicht widerrufen; wirst du dich deswegen von mir lossagen – wirst du es?“

Aljoscha stand auf, trat zu ihm und küßte ihn still auf die Lippen.

Das ist literarischer Diebstahl!“ rief Iwan, den plötzlich eine Art Begeisterung überkam. „Das hast du aus meinem Poem gestohlen! Aber dennoch, habe Dank! (...)“4

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Aber was soll das alles? könnte jemand rufen. Das ist doch überspannter Unfug! Was folgt denn daraus, wo die Welt sich doch nicht geändert hat und immer eisiger wird vor lauter Menschenliebe der Großen …


Was daraus folgt ist, dass nicht die perversteste Umkehrung der Dinge je ihr Ziel erreichen wird, auch wenn die Großinquisitoren und selbsternannten Wohltäter der Menschheit besessen ihr Ziel verfolgen, das der alte Kardinal nennt und von dem er durch den zurechtgerückten Versöhnungskuss nicht ablässt:


Was ich Dir sage, wird in Erfüllung gehen, und unser Reich wird errichtet werden.“5


Dostojewski lässt dies unaufgelöst so stehen. Er weiß als überzeugter Christ, dass dieses Reich tatsächlich in Erfüllung gehen wird, aber seine Erfüllung wird bedeuten, dass es unerfüllbar ist. Warum sonst sollte er Jesus anweisen, nie mehr wieder zu kommen, nie mehr!?

Die Erzählung ist subtil, denn der vermeintlich nie mehr wiederkommende Jesus kommt auch in der Legende sehr wohl wieder, und dies nicht einmal final, sondern nur einmal „zwischendurch“. Er wird kommen und stören, so wie er jetzt kam und störte, aber eines wird nie mehr geschehen: Niemand wird ihn mehr je hinrichten können. Das war dem Kardinal verwehrt, und es wird allen Inquisitoren der Welt für immer verwehrt bleiben.

Jederzeit muss man mit ihm rechnen und damit, dass er nicht nur die Verkehrung des Kusses, sondern die viel größere, so heillose, eiskalte Verkehrung der Macht und Herrschaft mit einem Wort aus seinem Mund – wie einen Kuss – zurechtrücken wird und niemand ihm widersprechen kann, auch die nicht, die ihren kalten Ideen treu bleiben werden. Die Salbung zum Begräbnis des Königtums dieses Weltsystems gilt, und die Salbung mit einem Geist des kommenden Reiches ist seitens Gottes längst geschehen:


...und dann wird der Gesetzlose („ho anomos“, der, der alles verkehrt) offenbart werden, den der Herr Jesus beseitigen wird, mit dem Hauch seines Mundes ...“ (2Thess2,8)



Hanna Jüngling

Walzbachtal am 15.1.2024


1Dostojewksi, Fjodor M.: Die Brüder Karamasow. München 1984 (6. Auflage): dtv klassik. S. 349f

2a.a.O., S. 347

3a.a.O., S. 351

4a.a.O., S. 355f

5a.a.O., S. 351