Dienstag, 24. Dezember 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: „Etsi Deus non daretur“ oder "Deus sive natura"? Oder beides nicht?

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: „Etsi Deus non daretur“ oder "Deus sive natura"? Oder beides nicht?

„Der Rückgriff auf die Formel: Einerlei, ob es Gott gibt oder nicht, ob die
(christliche) Religion Ausdruck göttlicher Offenbarung oder menschlicher Erfindung ist usf., [es] gilt jedenfalls dies und das, ist im Grunde versperrt, weil diese Formel die Offenheit der Gottesfrage wieder aufhebt.“
[Anmerkung des Autors an dieser Stelle in der Fußnote: „Die Formel zeigt eine auffallende Parallelität zu der berühmten, schon in der Spätscholastik aufgetretenen Formel des Hugo Grotius, daß die vernunftbegründeten Gebote des Naturrechts auch dann Geltung haben würden, wenn es — was zu denken schrecklich sei — Gott nicht gebe. Diese Formel diente als Vehikel für die Ablösung des Naturrechts von seiner theologisch-metaphysischen Grundlage und den Übergang zum rein immanent, von leitenden menschlichen Zweckideen her begründeten Vernunftrecht.]
Dieser Rückgriff liegt zwar nahe, eben weil die Existenz Gottes und einer göttlichen Offenbarung kein Gegenstand […]wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern des Glaubens sei. Man folgt dabei aber, ohne sich dessen vielleicht bewußt zu werden, einem virtuellen Atheismus. Es kommt dann nämlich, […]wissenschaftlich gesehen, auf die Existenz Gottes und einer göttlichen Offenbarung nicht an; sie bleiben — wissenschaftlich — folgenlos, weshalb man sie auch vernachlässigen kann.“[1]

Spätestens seit dem frühneuzeitlichen Gelehrten Hugo Grotius (1583-1645) kam der Gedanke in den wissenschaftlichen Diskurs, dass man Dinge denken können müsse, ohne Gott dabei als feste und objektive Größe anzunehmen.[2] Er mag in Form subjektiv angenommener religiöser Überzeugungen und Annahmen zwar selbst „Forschungsobjekt“ sein, etwa in der Religionswissenschaft, Volkskunde oder Soziologie, aber als objektiver Referenzpunkt wurde er ausgeschlossen.
Es wäre ein Missverständnis, solche „Objektivität“, einen solchen Referenzpunkt zu verwechseln mit einem bekannten und „erfassbaren“ Faktum. Wenn mittelalterliche und auch noch neuzeitliche Forschung Gott als objektives Faktum andererseits einbezog in ihre Überlegungen, ihn überhaupt als verborgenes Maß aller Objektivität ansah, dann ähnlich einem „Äther“-Element, das alles trägt und zusammenhält, aber nicht (erschöpfend) gesehen werden kann, ohne dessen Annahme aber nichts Bestand haben könne. Solche Forschung kommt per definitionem nie an ein Ende und kann auch keine endgültigen, „abschließenden“ Erkenntnisse festlegen. In dieser positiven Formulierung konnte Gott als „absconditus“ und „revelatus“ tragend bleiben. Insofern er sich offenbart hat, kann er diskursiv einbezogen werden, insofern er verborgen bleibt, wird er intuitiv mitgedacht, aber nicht angerührt oder gar missbraucht für menschliche Gedanken und Ideen. Dass der „absconditus“ aber in keinem voluntaristischen Gegensatz zum „revelatus“ steht und mit seiner Verborgenheit nicht unterläuft, was er offenbart hat, wurde ebenfalls selbstverständlich angenommen.

Diese schlichte positive Einbeziehung Gottes konnte mit dem ausgehenden Mittelalter nicht fortgesetzt werden.
Der Bruch in der positiven Bezugnahme auf den großen Gott in der Wissenschaft geschah aus verschiedenen Gründen:

1. Einerseits tradierte man im römisch geprägten Abendland von Anbeginn an eine arkanische Linie, die das „eigentliche Wissen“ über Gott in eine hermetische Lehre verlegte, die das Volk ausschloss und mit sinnlich fassbaren „kleinen“ Mysterien versorgte. Diese Konstellation war schon in den Mysterienkulten der Spätantike vorhanden und setzte sich im Staatskirchentum fort. Glaube hieß für das Volk: Teilhabe an Ritualen, die es nicht im Kern verstehen konnte und sollte, aber passiv empfangen durfte, die Verlagerung des Göttlichen auf mehrere Personen bzw mächtige Heilige (Schutzheilige), die den alten polytheistischen Göttern nachgeformt waren. Durch die Mystifizierung der Ordinierung in ein „Amt“ als „Sakrament“ bzw Weihe-Mysterium wurde eine Priesterkaste ausgebildet, die ein Wesensmerkmal — das des Christus — eingeprägt bekam, das ihr Anteil an „höherem“ Sein zugestand. Der Teilhaber der arkanischen Disziplin kann „objektiv“, auch dann, wenn er subjektiv ein Schwein war, „in persona Christi“ agieren. Er wird in ein rigides, pyramidales, hierarchisches Konstrukt eingespannt. Ihm kommt eine magisch gedachte göttliche Vollmacht gegenüber den Ungeweihten zu. Christus aber, den man zugleich für „homoousios“ (wesensgleich) mit Gott definierte, vergöttlicht den Priester in einer Weise, die dem restlichen Volk nicht zukommt und nicht zukommen kann. Es wurde damit der Weg in eine solch schlichte, oben skizzierte Wissenschaftsmethode versperrt, eben weil dem nicht-geweihten bzw in der Hierarchie nicht sehr weit oben stehenden und in die Welt hinein wirkenden Gelehrten nicht mehr zukam, das, was offenbart war, als objektives Gut zu interpretieren oder gar direkt, „occulte“ (im Verborgenen und persönlich) zu erfahren.

2. Verheerend hatte sich die Wendung zu einer „negativen“ Theologie ausgewirkt, die durch die dogmatische Entwicklung der (West-)Kirche provoziert worden war:

Die negative Theologie des Spätmittelalters wurde einerseits durch Mystiker formuliert, blieb dort aber poetisch und darum in ihrem „Mysterium“, das persönlich und intuitiv erfasst wurde, immer noch positiv wirksam,  konnte (musste aber nicht) zu einem radikalen Monismus führen, der an die hellenistische „hen to pan“-Philosophie (Alles ist eins) anknüpfte und in der Formel Spinozas, „deus sive natura“ dann im Abendland endgültig und offen Fuß fasste, die allerdings so im antiken und spätantiken Kontext wiederum nur „Eingeweihten“ zugänglich war.
Aus anderen Gründen hatte die Kirche selbst solche negative Theologie definiert — auf dem Laterankonzil 1215 (s.u.) und nun „rational“ und diskursiv. Im wesentlichen ging ein Mystiker mit Unsagbarem um, das er in Metaphern und künstlerische Bilder fließen ließ. Das unterschied ihn vom gelehrten „Weisheitsinhaber“ und „Eingeweihten“ der Mysterienkulte. Die Kirche kam mit ihren Definitionen dagegen dem alten Bild des Initiierten wieder nah. Die negativen Formulierungen des Meisters Eckhart etwa wurden von Papst Johannes XXII. 1329 mit einer erschütternden Schärfe verurteilt. Er brandmarkte Eckhart tatsächlich als vom Satan inspiriert, weil er Sätze wie folgende formuliert habe:

„Omnes creature sunt unum purum nichil. Non dico, quod sint quid modicum vel aliquid, sed quod sint unum purum nichil.“
(Alle Geschöpfe sind reines Nichts. Ich sage nicht, dass sie wenig oder irgendetwas seien, sondern dass sie ein einziges, reines Nichts seien.)

Ebenfalls ein Prüfstein für die Trinitätslehre waren Sätze wie:
„Deus est unus omnibus modis et secundum omnem rationem, ita ut in ipso non sit invenire aliquam multitudinem in intellectu vel extra intellectum; qui enim duo videt vel distinctionem videt, Deum non videt. Deus enim unus est extra numerum et supra numerum, nec ponit in unum cum aliquo. Sequitur: Nulla igitur distinctio in ipso Deo esse potest aut intelligi.“
(Gott ist auf alle Weisen und in jedem Betracht nur Einer, so daß in ihm selber keinerlei Vielheit zu finden ist, weder in der Vernunft noch außerhalb der Vernunft; wer nämlich Zweiheit oder Unterschiedenheit sieht, der sieht Gott nicht, denn Gott ist Einer außerhalb aller Zahl und über aller Zahl und fällt mit nichts in Eins zusammen. Daraus folgt: In Gott selbst kann demnach keinerlei Unterschied sein oder erkannt werden.).

Oder gar: „Pater generat me suum filium et eundem filium. Quicquid Deus operatur, hoc est unum; propter hoc generat ipse me suum filium sine omni distinctione.“
(Der Vater zeugt mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Was immer Gott wirkt, das ist Eines; darum zeugt er mich als seinen Sohn ohne allen Unterschied.)

Es ist von Interesse, wie Johannes XXII. diese Verurteilung begründete: Eckhart habe „mehr wissen wollen, als ihm zukam (plura quam oportuit)“.[3] Diese Aussage ist einigermaßen entlarvend, denn selbstverständlich gesteht der Papst sich selbst und den Gelehrten, die er Eckharts Sätze hat überprüfen lassen, zu, darüber zu urteilen, was ein einfacher Dominikaner wie Eckhart wissen darf und was nicht. Die „mensura fidei“, das Maß des Glaubens, konnte Eckhart keinesfalls aufgrund persönlicher Gotteserfahrung geschenkt bekommen. Er stand nicht an der Spitze der Initiierten, auch wenn er geweihter Priester war, sollte sich daher nicht zu weit vorwagen und erst recht nicht seine Gedanken den „corda simplicium“, den Herzen der einfachen Menschen — also der Nichtgeweihten —  mitteilen.
Der mittelalterliche Mystiker behauptete von sich nicht, in irgendetwas Objektives oder gar diskursiv Sagbares „eingeweiht“ worden zu sein. Seine „unio mystica“ blieb persönlich und im Kern Bestandteil der „absconditas“, oder besser gesagt des „occultum“, das alles Offenbarte umgab. Die okkulte bzw mystische Teilhabe an arkanischen Weisheiten wurde durch Mystiker subversiv in deren persönlichen Bereich verlagert und dem Zugriff der Hierarchie und der magischen Aufbereitung entzogen: wem sich Gott direkt zuwandte, der war erhaben über das Urteil der Kirche, aber auch die rationalisierten Weisheits- und Zauberlehren der antiken Mysterienkulte. Im Gegenteil, nach Meister Eckhart gehörte er zu jenen, die „nichts mehr wissen“. Jesu Seligpreisung der „Armen“ interpretiert er in einem “höheren Sinn“:
„Bischof Albrecht sagt, der sei ein armer Mensch, dem alle Dinge, die Gott je schuf, nicht Genüge tun, und das ist gut gesagt. Aber wir sagen es noch besser und nehmen Armut in einem höheren Sinne. Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiss und nichts hat.“[4] 
Genau diese Idee rüttelte an den Festen der mittelalterlichen Welt, bis sie sich in der Reformation entlud. Die Reformation allerdings war längst durch die Intentionen der Renaissance, durch einen Wust an Erstarrung und Verfälschung der Dinge zurück zu den Quellen der Weisheit zu finden, auf gelehrte Weise also, in den schriftlichen Quellen forschend, „ad fontes“ zurückzukommen, umgedeutet worden und verschärfte den Trend, der der Kirche zuvor so schwer zu schaffen gemacht hatte, noch. Einerseits wird sie geradezu messianisch bis heute gefeiert von ihren Anhängern, als sei mit ihr eine Korrektur in Richtung „Königreich Gottes auf Erden“ geschehen. Solche reformatorischen Gottesstaaten oder Gottesgesellschaften gab es mehrere, etwa den Genfer Gottesstaat, als Vorläufer bereits das florentinische Experiment Savonarolas, verschiedene prä-kommunistische Gemeinschaften wie die Hutterer oder die Amishen, oder das Täuferreich von Münster. All diese Phänomene basierten keineswegs auf der "Wiederentdeckung der Heiligen Schrift", einem braven „sola scriptura“, wie es heutige Reformationsenthusiasten glauben. Die Traditionen, auf die sich diese Bewegungen bezogen, sind bei genauerem Hinsehen noch ungeschminkter heidnischen Ursprungs als die kirchliche Tradition, die sich immerhin dagegen abgrenzen musste gegenüber interner Kritik, die mit der Reformation ausgelagert wurde und darum auch den hemmungsloseren Einbruch älterer heidnischer Tradition in der römischen Kirche ermöglichte. Es ist reichlich naiv zu glauben, einfache, ungebildete Männer hätten plötzlich mit dem 16. Jh einfach so solche Ideen gehabt, quasi aus dem Nichts. Die nüchterne Vernunft muss uns sagen, dass das nicht vorstellbar ist: Im Protestantismus wucherte eine Gelehrsamkeit, die häufig auch mit Alchemie und alten Weisheitslehren umging und eine spezifisch, wirksame Denkweise auf dieser Basis entwickelte (so zB Newton oder Kepler, die beide Alchemisten, Hermetiker und Okkultisten waren) und an alte hermetische Traditionen anknüpfte Mystiker (wie zB der in Pietistenkreisen beliebte Jacob Böhme), andererseits beweinen die Kinder der Reformation heute den angeblichen oder wirklichen Zusammenbruch des "Festhaltens am Wort", das sie der Reformation zuschreiben, in der Postmoderne. Genauso verfehlt ist die Klage der Konzilskritiker im katholischen Bereich: auch sie verkennen, dass das, was sie für "urkatholisch" halten, bereits eine Degeneration des 16. Jh war und ist. Das Geschichtsbild, das man uns bezüglich der Entwicklungen des 16. Jh nahegelegt hat, erscheint mir reichlich verzerrt und unrealistisch.

Dennoch: Es konnte der kirchlichen, arkanisch ausgerichteten Hierarchie nicht gefallen, dass jedermann freier Empfänger göttlicher Ansprache sein konnte, und sie tat alles, um es zu unterbinden.

Die Rationalisierungversuche des Lehramtes, das zu dieser persönlich gefärbten Gotteserfahrung, die ihr ein Dorn im Auge war, gewissermaßen seinen „objektiven“ Kommentar abgeben musste, sorgte so langfristig, aber folgerichtig selbst für die Ausstoßung Gottes aus dem Diskurs der Gelehrten. Auf dem IV. Laterankonzil 1215 hatte man schon den Satz definiert „Quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.“[5] (Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann keine so große Ähnlichkeit bemerkt werden, dass nicht zwischen ihnen eine noch größere Unähnlichkeit festgestellt werden muss.)
Alles, was ist, kann demnach nicht ohne den Schöpfer gedacht werden, aber dieser Schöpfer, der seine Chiffren in der Schöpfung hinterlässt, kann dennoch niemals mit ihnen identifiziert werden. Er ist der Schöpfung unähnlicher als ähnlich. Es ist logisch, dass dieser Gedanke dazu führen musste, Gott am Ende ganz „hinauszudenken“ aus seiner Schöpfung, wenn er sich dem forschenden Geschöpf in der Schöpfung als Schöpfer durch wachsende Unähnlichkeit entzog. Je mehr der homo investigans forscht, desto mehr verliert er seine Gewissheiten über die Chiffren Gottes in der Natur, die wir als „vorgefundene Schöpfung“ meinen. Je mehr er weiß, desto weniger kommt er Gott nahe. Das sind die Folgerungen aus der radikalen Feststellung des IV. Laterankonzils, das diesen Satz im Rahmen einer scharfen Ablehnung der Reflexionen Joachims von Fiore über die Dreifaltigkeit formulierte. Joachim hatte sich im Rahmen der Tradition, die auf das 4. Jahrhundert zurückgeht, in dem man begann, das Trinitätsdogma zu bilden, mit der Frage auseinandergesetzt, wie drei „Personen“ der Gottheit zugleich „einer“ bzw ein „Wesen“ sein könnten, ohne dass dieser „Eine“ als eigene Größe mitgerechnet werde, und eine Analogie zu menschlicher Gemeinschaft hergestellt, die als „eine“ aufgefasst wird, etwa „ein Volk“ oder „eine Kirche“ oder eine „Familie“, dieser Einheitsbegriff aber nicht iS eines Wesens verstanden werden könne, wenn man ihn nicht noch einmal extra setzt neben den Einheiten der einzelnen Mitglieder. Wolle man Gott dennoch — trotz der Trinitätsbehauptung — als „consubstantialis/homoousios“ (eines Wesens) verstehen, müsse man eine vierte Größe annehmen, nämlich die des einen Ganzen. Eben weil dies in der menschlichen Anschauung auch so sei, könne eine Trinität nicht ohne weitere Implikation einer Viereinigkeit angenommen werden.
Nun ist diese von Joachim formulierte Problematik des Konstruktes der Trinität als einer mehr oder weniger philosophischen Spekulation mehr als berechtigt. Und die dogmatische Reaktion der Kirche darauf offenbart, wie absurd und betriebsblind die Kirche argumentiert: Sie verkennt, dass die Ausfaltung der Trinitätslehre, die in diesem Konzil 1215 ihren Abschluss fand (mit der dogmatischen Definition des „Filioque“), ohne permanente Analogieannahmen überhaupt nicht formulierbar wäre. Alle Aussagen über Gott könnten — gelte tatsächlich, dass die Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf immer kleiner als die Unterschiedlichkeit sei — nicht für ernst genommen werden, da auch das Trinitätsdogma aufgrund logischer Analogieannahmen festgestellt wird. Tatsächlich entzieht sich die so definierte Gottheit durch die trinitarische Definition dem Geschöpf immer mehr.
Joachims Frage wurde verworfen, aber sie steht dennoch mindestens seither im Raum wie ein Elefant, den die Kirche durch Umgebungsgeplänkel „unsichtbar“ machen wollte. Die begabteren Denker aber sahen natürlich, dass sich Gott mit der Trinitätsdefinition faktisch für die wissenschaftliche Forschung erübrigte: Gott verlor seinen Charakter als absconditus nicht durch die Offenbarung, zu der er sich selbst herabließ, sondern durch eine menschliche Spekulation, die als „Offenbarung“ ausgegeben wurde. Dadurch war die Offenbarung der Tendenz nach korrumpiert: Gott erschien nicht mehr als der Über-Rationale, sondern als der Irrationale und passte damit nicht mehr in ein Wissenschaftskonzept, das wesentlich rational begründet ist — ein Problem, das im übrigen noch viel mehr der rabiat-unitarische Islam hat, der zwar mit dem radikalen Monotheismus vorgibt, "vernünftig" zu glauben, seinen Gott aber als vollkommen willkürlich und damit für den Blick des Menschen uneingestanden unvernünftig zeichnet. Die Unfähigkeit zu wissenschaftlicher Forschung im Islam hat hierin ihren Grund: der Gott ist hier nicht mehr nur teilweise, sondern überhaupt nicht analog zum Irdischen und Natürlichen verstehbar, er ist der unendlich ferne, dräuende Gipfel des Numinosen, andererseits doch wie Isis der Träger aller möglichen Namen und man kann den islamischen Rosenkranz kaum anders verstehen als in dieser Isistradition, die Isis im "Goldenen Esel" des Apuleius (123-170 n. Chr.) sagen lässt, sie sei die "Höchste der Gottheiten ... Erste der Himmlischen, die alle Götter und Göttinnen vereinigt, alleinige Gottheit ... welche ... unter vielerlei Namen der ganze Erdkreis verehrt ... (alle) ehren ... und nennen mich mit meinem wahren Namen Isis".[6] Die Zuordnung der 99 Namen für den islamischen Gott erinnert unzweifelhaft an diese Tradition.

Diese Entwicklung hatte eine wiederum verheerende Folge für die Wissenschaft selbst: sie nahm den Charakter eines Glaubenskonkurrenten an, der das, was der Glaube nur „andeutete“, endlich ins rechte Licht der Wahrheit rückte. Man glaubte den Irrsinn zu „entdecken“, das „Opium“, das „Wahnhafte“ des Glaubens: dass die Erde nicht so alt ist, wie es aus den Religionsmythen hervorgeht, sondern „Milliarden Jahre“. Nicht Gott habe die Welt geschaffen, sondern aus einem Urknall sei eine Evolution hervorgegangen, die auch ohne Gott „funktioniert“ habe (Ideen, die übrigens aus dem Jesuitenorden stammten — v.a. Georges Lemaître SJ, auch Teilhard de Chardin SJ). Jungfrau Maria? Geht gar nicht — die „Wissenschaft“ hat schließlich festgestellt, dass die alte irre Vorstellung, nur der Mann zeuge, falsch ist. Eine Frau, die schwanger wird, muss vorher mit einem Mann zusammengekommen sein, damit ihre Samenzellen mit denen eines Mannes zu einer erfolgreichen Zeugung kommen können. (Hierbei ist allerdings die Meinung, die Frau habe keine Samen, eher eine spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Frauendiskriminierung gewesen als tatsächlich altes Wissen, das sehr wohl längst erkannt hatte, dass Frauen Keimzellen haben, wovon schon Gen 3, 15 zeugt!). Und weiter: Die Welt habe nicht die Gestalt, die in Genesis 1 beschrieben wird, sondern die, die Kopernikus nach Ptolemäus erfand. Davon abgesehen: Engel kann es nicht geben, jedenfalls nicht als „Männer mit Flügeln“. Und die Auferweckung Jesu geschah nur im Gedächtnis der frühen „Gemeinde“. Derselbe kann auch nicht übers Wasser gelaufen sein: technisch unmöglich!
Die Alten, die aber notorisch solche Dinge selbstverständlich und entspannt berichteten, hielt man für solche, die dies und jenes eben „noch nicht wussten“. „Heute weiß man, dass…“ ist eine beliebte Einleitung typischer, wissenschaftsreligiöser Sätze. Es hat eine Offenbarung stattgefunden, die der Menschheit klarmachte, dass nur das, was nach der „Methode“ der modernen Wissenschaft betrachtet wird, „wahr“ sein kann. Nur, was vor ihr standhält, ist ernstzunehmen. Beweis war vordergründig die Technik. Sie „funktionierte“, also mussten die zugrunde liegenden Prämissen gelten. Poppers berühmte Rede von der Wissenschaft, die immer falsifizierbar sein muss, um als solche gelten zu können, war nur ein hübsches Feigenblatt. In Wirklichkeit denken wir seit Jahrzehnten schon, dass die Wissenschaft objektive Wahrheit hervorbringe.

Die „objektive Wahrheit“ hat selbstverständlich viele wertvolle neue Erkenntnisse gebracht — das soll hier nicht einfach negiert werden.
Es handelt sich um ein heilloses Knäuel an Wertvollem, Falschem und vor allem: erneut Mythischem. Gewiss sind manche Erkenntnisse der Biologie kaum von der Hand zu weisen. Manche. Und manches, was die Archäologie zutage brachte, dürfte in jedem Fall eine Bereicherung und Vertiefung vorherigen Wissens sein. Ebenso ist die Bibelwissenschaft ein Korrektiv für vorschnellen, frühneuzeitlichen Biblizismus (den es zuvor so nicht gab). Die Technisierung hat Vorteile gebracht. Das alles soll nicht in Frage gestellt werden. Neben diesen eher nüchternen und sachorientierten Wissenschaften, kamen aber Dinge auf, die man nur als den Versuch werten kann, alte durch neue Mythen zu ersetzen, ohne deshalb den Charakter der alten Mythen wirklich zu überschreiten, wie man vorgab:
Die Evolutionstheorie, ebenso wie die moderne Astronomie und Kosmologie, ebenso gewisse Sozialwissenschaften, beruhen auf reinen Mythen bzw philosophischen Annahmen, die auf keinerlei empirischer Realität fußen. Sie entziehen sich einer empirischen Überprüfung, lassen sich nicht in Experimenten nachvollziehen und nehmen so gigantische Zeiten und Räume an, dass sie alleine deswegen nicht wirklich nachvollziehbar sind außer in Rechenmodellen, die aber auch blanker Wahn sein können und allenfalls eine Eigenrealität als bloßes Rechenmodell haben. Nur weil Dinge sich in kleinem Rahmen überschaubar entwickeln können, muss sich deshalb nicht die ganze Welt in Jahrmillionen gottlos entwickelt haben — der Schluss vom einen auf das andere ist unsinnig und logisch komplett abwegig. Eine Annahme, man müsse alles, was in der Natur ist, auch ohne Gott erklären können, „etsi Deus non daretur“ (als ob es keinen Gott gäbe), führte notwendig dazu, für die „letzten Dinge“ eine Erklärung zu finden. Man kann sie nicht offenlassen, weil man sonst immer mit der Erklärung der religiösen Offenbarung konfrontiert wäre. Wie soll man sich also eine Erschaffung der Welt vorstellen „etsi Deus non daretur“? Und wie das „All“, wenn man es nicht, wie bei den Alten, als himmlische Gefilde der Götter bzw eines einzigen Gottes und seiner Heerscharen vorstellen will, zu denen wir keinen sinnlichen Zugang haben? Im Thomas-Evangelium, das wahrscheinlich zeitgleich mit den anderen Evangelien entstand und ihnen in vielem ähnelt, sagt Jesus: „Dieser Himmel wird vergehen, und der (Himmel) oberhalb von ihm wird vergehen.“ (Logion 11,(1)).[7] Das, was darüber ist aber, gehört nicht mehr dieser Schöpfung an. Dies stimmt überein mit der Aussage Pauli, er sei entrückt worden bis in den „dritten Himmel“, also die Zone, die nicht mehr dieser Schöpfung und Natur angehört, und fragt sich darum auch, ob er in seinem natürlichen Leib dort war oder außerhalb seines Leibes.[8]
Es ist einigermaßen eigentümlich, wenn evangelikale Christen („Kreationisten“) heute versuchen, die biblischen Beschreibungen der Natur ebenfalls methodisch „etsi Deus non daretur“ zu rekonstruieren, um zu „beweisen“, dass die Bibel doch „recht hat“. Das Anliegen, die Schriftaussagen nicht einfach unbesehen und arrogant aufgrund vermeintlichen Besserwissens vom Tisch zu fegen, kann ich zwar unterstreichen. Aber wenn „die Bibel recht hat“, hat sie recht, aber ganz gewiss nicht methodisch durch Ausklammerung des „Vielleicht“ aller wissenschaftlichen Erkenntnis, die sich vor Gott weiß. Die Schöpfungserzählungen sind literarische Berichte über ein unsagbares Geschehen und ähneln eher den Texten der Mystiker als einem modernen Wissenschaftsprotokoll. Dabei überrascht es mich immer wieder aufs Neue, dass solche Christen mit schweren Geschützen gegen die Evolutionstheorie angehen, sich aber gleichzeitig für einen militanten Kopernikanismus starkmachen, der den Schöpfungserzählungen und zahlreichen anderen Schriftstellen im AT und NT objektiv noch fremder ist als der Darwinismus. Neulich las ich gar in einem evangelikalen Blatt, diejenigen, die das kopernikanische Weltbild bezweifelten, seien Opfer satanischer Verblendung — das erinnert an den Duktus Johannes XXII. gegen Meister Eckhart! Das ist schizophren und sollte aufseiten der Betroffenen aufrichtig überprüft werden.

Eine Natur-Auffassung „etsi Deus non daretur“ muss am Ende das „reine Nichts“ offenbaren. Meister Eckhart hatte sehr wohl recht mit seinem Satz, wenn man ihn richtig einordnet: „etsi Deus non daretur“ gäbe es nichts, keine Natur, mich nicht, dich nicht, gar nichts. Man kann die Natur nicht ohne Gott als den denken, der sie geschaffen hat und sich von ihr unterscheidet, ohne damit in schwerste Irrtümer über die Natur abzustürzen. Die Vergötterung der Natur ist der Gipfel des Absturzes (s.u.). Wenn es aber Gott gibt und wir ihn mitdenken, ohne ihn rationalisieren zu können, weil er zwar einen Bereich des „revelatum“ gibt, zu dem auch die Natur gehört, dieses „revelatum“ aber mit einem „absconditum“ umgeben und durchwirkt ist, das wir hier in diesem Äon nicht aufdecken können, dann ist uns das Seiende auch mit Gewissheit (nicht „objektiver Sicherheit“) seiend.
Es ist wichtig, dieses Mysterium, dieses Verborgene abzugrenzen von dem, was man in der Antike unter einem Mysterium verstand:
Während in den Mysterienkulten eine Kaste „Eingeweihter“ existierte, die in der „ganzen Weisheit“ gelehrt waren, wie Mose etwa durch seine Erziehung am pharaonischen Hof[9], bleibt im NT das, was in diesem Leib noch nicht erfasst werden kann, allen verborgen, auch den Klügsten, ja: vor allem ihnen. Jesus betet nach dem Bericht des Matthäus-Evangeliums folgenden Lobpreis: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen.“[10]
Jesus wirft in diesen Worten das gesamte antike Bild von Weisheit und den Inhabern der Weisheit über den Haufen. Er kritisiert nichts schärfer als dieses alte Bild. Er setzt es eben nicht fort, wie manche meinen oder „vollendet es“ gar noch. Nein: er stürzt es um. Seine Worte bedeuten, dass alles, was die Weisen meinen zu wissen, worein sie „eingeweiht“ wurden, nichtig ist. Es kann im Grundsatz solche von den „Laien“ oder Niedrigen abgehobenen Weisen nicht geben und folglich auch keine so verstandene Weisheit.

Eine „hen to pan“ („Alles ist eins“)-Vorstellung, die etwa erhofft, durch akribische „Natur“-Wissenschaft Gott zu finden, weil Gott — platt ausgedrückt — „die Natur ist“, kann man aus der christlichen Überlieferung schwerlich ableiten, auch wenn sich diese hermetische Formel gerade im Abendland fortgesetzt und in Geheimgesellschaften überlebt hat und mächtig blieb. Eine solche Auffassung kann mit dem unbestreitbar Verborgenen nur so umgehen, wie es die alten Mysterienkulte taten: Sie beten Isis an, die Allmutter, die „alles“ ist, das kein Sterblicher je erblickt habe (Verschleiertes Bildnis zu Sais[11]), das Synonym für die Allnatur, und schaffen eine Kaste, die in deren Mysterium eingeweiht wird. Im allgemeinen ist hier das „absconditum“ verborgen, aber ein paar wenigen ist es bekannt. Diese wenigen sind identisch mit den Mächtigen, die eine Wissensmagie über alle anderen haben. Diese Konstellation ist heute mächtiger als je, wo nicht nur innerkatholisch eine solche Arkankaste existiert, sondern auch in zahlreichen Logen, die die Welt konkret über das elitäre Finanz-, Medien- und Regierungswesen beherrschen und doch ausschließen aus ihren innersten Zirkeln und Gedanken. Der Gott, auf den diese Leute vertrauen, ist nicht der, der sich den Unmündigen offenbart hat. Diese Eliten werden niemals damit fertig werden, dass der wahre Gott sie verlacht und sich denen offenbart, die von den Weisen und Eingeweihten, den Reichen und Mächtigen beherrscht werden. Diese Mächtigen können den Kleinen das nicht entreißen, was ihnen umsonst, gratis geschenkt wird. Nicht zuletzt davon zeugt auch die Weihnachtsgeschichte.

Hanna Jüngling, 24.12.2019 (Heiliger Abend)


Tagebuchfolgen bisher:





[1] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Politische Theorie und politische Theologie. Bemerkungen zu ihrem gegenseitigen Verhältnis. In: Jacob Taubes (Hg.): Religionstheorie und politische Theologie. Band 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen. München, Paderborn, Wien, Zürich 1983: Wilhelm Fink / Ferdinand Schöningh. S. 17
[2] „…etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum aut non curari ab eo negotia humana… »
[3] „Auf dem Acker des Herrn, dessen Hüter und Arbeiter Wir nach himmlischer Verfügung, wenn auch unverdientermaßen, sind, müssen Wir die geistliche Pflege so wachsam und besonnen ausüben, daß, wenn irgendwann ein Feind auf ihm über den Samen der Wahrheit Unkräuter sät, sie im Entstehen erstickt werden, bevor sie zu Schößlingen verderblichen Keimens aufwachsen, damit, nachdem der Same der Laster abgetötet und die Dornen der Irrtümer herausgerissen sind, die Saat der katholischen Wahrheit fröhlich aufgehe.
Fürwahr, mit Schmerz tun Wir kund, daß in dieser Zeit einer aus deutschen Landen, Eckhart mit Namen, und, wie es heißt, Doktor und Professor der Heiligen Schrift, aus dem Orden der Predigerbrüder, mehr wissen wollte als nötig war und nicht entsprechend der Besonnenheit und nach der Richtschnur des Glaubens (plura voluit sapere quam oportuit et non ad sobrietatem neque secundum mensuram fidei), weil er sein Ohr von der Wahrheit abkehrte und sich Erdichtungen zuwandte. Verführt nämlich durch jenen Vater der Lüge, der sich oft in den Engel des Lichtes verwandelt, um das finstere und häßliche Dunkel der Sinne statt des Lichtes der Wahrheit zu verbreiten, hat dieser irregeleitete Mensch, gegen die helleuchtende Wahrheit des Glaubens auf dem Acker der Kirche Dornen und Unkraut hervorbringend und emsig beflissen, schädliche Disteln und giftige Dornsträucher zu erzeugen, zahlreiche Lehrsätze vorgetragen, die den wahren Glauben in vieler Herzen vernebeln, die er hauptsächlich vor dem einfachen Volke in seinen Predigten lehrte und die er auch in Schriften niedergelegt hat.“ (Bulle von Johannes XXII. von 1329)
Die oben zitierten Sätze Eckharts finden sich ebenfalls in dieser Quelle:

[4] Eckhart führt den Gedanken in jener berühmten 16. Predigt weiter aus:Nun ist die Frage, wovon allermeist die Seelheit abhänge? Etliche Meister haben gesagt, es komme auf das Begehren an. Andere sagen, es komme auf Erkenntnis und auf Begehren an. Aber wir sagen, sie hänge nicht von der Erkenntnis noch von dem Begehren ab, sondern es ist ein Etwas in der Seele, aus dem fliesst Erkenntnis und Begehren, das erkennt selbst nicht und begehrt nicht so wie die Kräfte der Seele. Wer dies erkennt, der erkennt, wovon die Seelheit abhänge. Dies Etwas hat weder vor noch nach und es wartet nicht auf etwas Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren. Darum ist ihm jegliche Möglichkeit ganz und gar benommen, in sich zu wirken, es ist vielmehr immer dasselbe Selbe, das sich selbst in der Weise Gottes verzehrt. So, meine ich, soll der Mensch quitt und ledig dastehen, dass er nicht weiss noch erkennt, was Gott in ihm wirkt, und dann kann der Mensch Armut sein eigen nennen. Die Meister sagen, Gott sei Wesen und zwar ein vernünftiges Wesen und erkenne alle Dinge. Aber ich sage: Gott ist weder Wesen, noch Vernunft, noch erkennt er etwas, nicht dies und nicht das. Darum ist Gott aller Dinge entledigt, und darum ist er alle Dinge. Wer nun des Geistes arm sein will, der muss alles seinen eigenen Wissens arm sein, als einer, der nichts weiss und kein Ding, weder Gott, noch Kreatur, noch sich selbst. Dagegen ist es nicht so, dass der Mensch begehren solle, den Weg Gottes zu wissen oder zu erkennen.“

[5] DH 806
[6] Zitiert nach Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a.M. 2007 (6. Auflage), S. 77
[8] 2 Kor 12, 2-4
[9] Apg 7, 22. Dazu auch die lesenswerte Studie von Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a. M. 2007, 6. Auflage.
[10] Mt 11, 25