Wo ist die Natur? —
Tagebuch einer Suche
Die blaue Kuppel
Gegen fünf Uhr
ging ich noch kurz einkaufen. Fuhr mit dem Fahrrad durch den Wald hinaus in eisklare
Luft. Spürte, wie sie mich mit jedem Atemzug durchfloss.
Im Supermarkt
empfing mich Einkaufkonzentration. Familien, die Grünzeug, Kerzen und
Kinderpunsch kauften. Ein Geschäftsmann, der auf der Suche nach
Diabetikerschokolade war. Fremde Männer aus Osteuropa, die an jedem Arm einen
Bierkasten in ihr Wohnheim um die Ecke trugen. Und solche wie ich, die einfach
noch Saft, Eier, Sonntagsfleisch, Wintergemüse, Trockenfrüchte, Klopapier, Milchprodukte,
Waschpulver und Katzenfutter für die nächsten Tage brauchten.
Mit meinem
voll beladenen Bundeswehr-Gebirgsjägerrucksack kam ich wieder aus dem Laden.
Die Eisenbahngleise
von Karlsruhe nach Pforzheim, Bretten und Stuttgart können an dieser Stelle nur
über eine große Fußgängerbrücke überquert werden. Ich schob mein Fahrrad in den
Aufzug und fuhr aufwärts. Empor ...
… ich sah ich
mich entrückt in einen blauen Dom:
Es ist eine
Bläue, die keinen Namen hat. Es ist die marianische Bläue, die man nach dem
Konzil von Trient als liturgische Farbe verboten hat. Wen ich auch gefragt
hatte — niemand konnte mir je schlüssig erklären, warum Rom diese Farbe
vor 500 Jahren tabuisiert hat.
Ich drehte
mich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse: Im Südosten stand die
Mondsichel im noch lichten, bereits meerdunkel schimmernden Himmel, der sich
nach Süden mit silbrigen Schaumkronen zierte. Im Westen glänzte es rosighellblau,
nur manche Hortensienblüte kommt dem nah. Der himmlische Blumengruß sank nach
Norden jäh in ein tiefes Samtblau hinab, das sich im Osten in das Urbild aller
smaragdfarbenen Gebirgsseen verwandelte. Hoch oben in der Kuppel funkelten
immer mehr der goldenen Sterne, die in unseren Abendliedern besungen werden.
Lebendige Lichtreflexe, manche rotgolden, manche grüngolden, manche gelbgolden
und manche fast silbern, dem Glitzern des Lichtes auf Schneeflächen
vergleichbar.
Unterhalb
dieser Zauberwelt schnitten Oberleitungen durch die Luft, eine Drohne stand am
Himmel über der Autobahn. Auf dem Berg im Norden rotieren die Säbelblätter eines gigantischen Windrades, mit 148 m Höhe knapp niedriger als der höchste
Kirchturm Europas, das Ulmer Münster mit 161 m, die Rotorspitzen senden rote
Warnsignale aus. Die mittelalterliche Kirche hier am Hang des Turmberges, 48 m
hoch, lag in orangewarmer Illumination, ein goldener Hahn krönt die Turmspitze.
Sonst überall kaltes, stechendes Licht der LED-Beleuchtungen. Eine Dame ging
Gassi, ihr Liebling trug ein grasgrünes Sneakerbug Hundeleuchthalsband.
Im letzten
Moment hatte ich mich doch dazu entschieden, einen Adventskalender zu kaufen.
Im Wald zurück, freut mich der Nachtmantel, der mich einhüllt. Ich kenne blind
den Weg. Ich schiebe das Fahrrad und lege den Kopf in den Nacken. Zahllose
Flugobjekte ahmen die Sterne nach — erfolglos, dem geübten Auge erfolglos.
30.11.2019 (Am
Spätnachmittag unterwegs in Grötzingen)
Tagebuchfolge bisher:
21.11.2019: Wo ist die
Natur? – Tagebuch einer Suche: Morgendämmerung, später November
24.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.
24.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.
27.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer
Suche: Schuhwerk, Urbane Schönheit und der Wahnland-Code
30.11.2019: Wo
ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Kolorierter Holzschnitt
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