Montag, 10. Juni 2019

Neuerscheinung: Das Schillern der Dinge. Zeitgeschichtliche Essays

Neuerscheinung: JETZT LIEFERBAR!

Das Schillern der Dinge
Zeitgeschichtliche Essays
von Hanna Jüngling
HOROLOGIUM MUSICUM ET PHILOSOPHICUM Band 2
Zeitschnur Verlag Karlsruhe 2019
mit zwei Zeichungen der Autorin
388 Seiten
Format 13,5 x 20,5cm
ISBN 978-3-940764-21-8
Ladenpreis 18,00 €

Bei Booklooker zu erwerben oder im normalen Buchhandel!





Mag sein
dass wir morgen 
oder übermorgen
die Dinge in einem helleren
Licht sehen werden
Ein Anfang 
ist gemacht

Insgesamt drei Essays zur Zeitgeschichte, ein langer und zwei kurze, mit einem ausführlichen, umfangreichen Literatur- und Anmerkungsapparat und einem Personenregister versehen:

1. Manipulation. Trauma. Gesetzlosigkeit
Eine kurze, unvollständige Reflexion über die Herkunft, Entwicklung und Teleologie der Herrschaftstechniken westlicher Oligarchien

2. Krieg den Selbstdenkern!

3. Thilo Sarrazin oder Ein wirksames Element postmoderner Politik seit 100 Jahren
_____________________________________

Leseprobe aus "Manipulation. Trauma. Gesetzlosigkeit":


"(Die Herrschenden) sorgen für eine gründliche Verwirrung über Tatsachen und Wahrheiten und führen sinnlose Debatten über „alternative Fakten“, die angebliche „Faktenresistenz“ der Andersdenkenden, „Fake News“, über „Verschwörungstheorien“ immer dann, wenn Menschen versuchen, sich die Zusammenhänge zu erklären, die doch ganz zweifellos bestehen müssen. 
Was wir erleben, sind keine zusammenhanglosen, singulären Zufallserlebnisse, sondern groß angelegte Szenarien, in denen sich langfristiger Plan, Unwägbares und eine zielgerichtete Improvisationskunst für den Augenblick zu einer undurchdringlichen Übermacht verdichtet haben. Es sind Kettenreaktionen, Vernetzungseffekte und zynisch schöngeredete Kollateralschäden. 
Die sachlich angemessene Frage ist nicht, ob überhaupt Zusammenhänge bestehen (dürfen), sondern die, ob die Rekonstruktion der Zusammenhänge richtig oder falsch ist. 
Auf eine rationale Ebene kommen wir zunehmend gar nicht mehr. Durch die supranationale Vernetzung und Verstrickung, das Durcheinander der Motivlinien, die sich wie asymmetrische Längen- und Breitengrade über die ganze Welt schlingen, ist die Beurteilung der Zusammenhänge nicht leichter geworden, aber dass multilineare Zusammenhänge bestehen, kann nicht ernsthaft geleugnet werden.
Oder aber, man unterstellt dem Andersdenkenden und Zweifler an der Regierungspropaganda, er erläge „postfaktischen“ Überzeugungen, deren Urheber — welch vulgäres Mittel — „Rechts(Links)populisten“ oder „Neurechte“ seien, eine Diffamierung, die selbst schwer nach „Verschwörungstheorie“, noch mehr aber nach „Fake News“, Hass, Verleumdung und Hetze und einer diktatorischen Ambition riecht. (...)"

(...) Mit den neuen, verfeinerten und potenzierten Manipulationsmöglichkeiten, die die Digitalisierung neben vielen positiven Effekten und Erleichterungen bietet, wird ins Zentrum der Vernunft gegriffen und jegliche eigenständige Rationalität, jegliche Theoriebildung, jegliche abweichende Übereinkunft von Menschen im Denken und Handeln dämonisiert, verleumdet und schleichend kriminalisiert. Wahr ist nur das, was über einen Bildschirm, einen „screen“ oder ein „display“ empfangen wird. Jede abweichende Sicht der Dinge landet in der Ablage „rechte Verschwörungstheorien“. Ein eigenständiger Blick aus den eigenen Augen in die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeiten ohne  staatlich geprüften Screen dazwischen ist vielen Menschen nicht mehr geheuer: sie fühlen sich ohne diese Krücke des Bildschirms wie Leute, denen man den Gehgips abgenommen hat.

Wir erleben derzeit eine gigantische Manichäisierung, eine geradezu absurde Dualisierung des Denkens und Fühlens: gespalten werden die emotionalisierten und verwirrten Bildschirmkonformen von denen, die sich einen freien Geist nicht nehmen lassen wollen." 

"(...) er Mensch ist gehalten, Distanz zu den Dingen einzunehmen und mit seiner Vernunft und Urteilsfähigkeit zu verantworteten, aber auch korrigier- und entwickelbaren Überzeugungen zu kommen. Mit der Haltung des Prüfens wird jegliche Magie, jeder Versuch eines Seelenbanns in unverrückbaren „Meinungen“ durchbrochen, ohne den Einzelnen struktur- oder geistlos zu machen. Diese Aufgabe kann der Mensch aufgrund seiner „conditio humana“ nicht vollständig im einsamen, selbstreferentiellen Diskurs leisten. Er bedarf des anderen in der Auseinandersetzung. 
Die Tatsache dieser Angewiesenheit macht sich gezielte Manipulation und Propaganda zunutze und greift den Einzelmenschen an genau dieser Schnittstelle an. Weil nicht nur die Darstellungen der Wirklichkeit aus dem Munde des anderen einseitig, unvollständig oder sogar bewusst verzerrend sein können, sondern auch die je eigenen Wahrnehmungen und Begriffsbildungen, sind wir auf den anderen als Korrektiv angewiesen und er auf uns. Es gibt im Erkennen weder absolute Autonomie, noch — auf der Seinsebene — eine „Führerschaft“, und genau dies macht uns verletzbar, angreifbar und verführbar. 
Damit soll nicht gesagt sein, dass man sich über die Tatsachen überhaupt kein annähernd ausgewogenes Bild machen kann. Man kann — aber es kostet Mühe und Vorsicht.
Die Manipulation arbeitet zielgerichtet mit einer Elimination der Distanznahme zur eigenen und fremden Wahrnehmung und Realitäts(re)konstruktion und stürzt uns auf einer basalen Ebene in das Trauma schwerer „Strafen“, wenn wir es doch tun. Die Strafen können martialisch und grob wie in älteren Zeiten, oder psychotechnisch und verfeinert konzipiert sein. Die letztgenannte, „weichere“ Methodik der Brechung des Willens zur Reflexion ist schon älter, und ich werde gleich einen ausführlicheren, aber skizzenhaften, historischen Rückblick vornehmen. 
Inzwischen geht man die Sache anders an. Man baut ein ferngesteuertes „Selbstbewusstsein“ in den auf Rückhalt und Zuspruch angewiesenen Einzelmenschen auf, wenn sie sich unterwerfen und mitspielen und wieder absondern, was man ihnen zuvor als „Wahrheit“ oder postmoderne Sicht auf die Dinge eingeträufelt hat. Fürs brave Mitmachen erhalten sie ein „Token“, und der antiquierte Mensch hält dies für eine Auszeichnung. Nicht zuletzt sind die vielen Preise, die von staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen vergeben werden, solche Belohnungen konformer oder — utilitaristisch verstanden — systemimmanent „konstruktiver“ Leistungen. Es ist eine interessante Frage, seit wann man in der westlichen Gesellschaft öffentlich Preise für „Kulturleistungen“ verleiht.(...)"

"(...) Mit der neuesten Propagandaformel von der „diversity“ wird der Mensch getäuscht über den Hass gegen alles, was wirklich „divers“, also selbstverantwortet, unkontrolliert anders und frei ist und bleibt. Die zentrale Realität natürlicher und frei entstehender Diversität wird durch einen künstlichen Kontrollbegriff der „diversity“ ersetzt. Daher wird nicht nur die natürliche Familie angegriffen, die aus der Sicht Machtwilliger ein anarchisches und autonomes Element darstellt, sondern auch die Eigenart der Völker und ihrer freien Kulturen. Ein Hebel zur Gleichschaltung aller Bürger ist das staatlich vereinnahmte Schulwesen, das eine positive Seite haben kann oder könnte, wenn es nur darum ginge, jedem freie Bildung zugänglich zu machen. Genau dies ist aber nicht erwünscht. Deutschland spielt hier mit seiner aus dem Nationalsozialismus stammenden „Schulpflicht“ eine Vorreiterrolle. Staatliche Lehrer hat man in unserem Land verbeamtet, um sie der Staatsdoktrin loyal zu halten und zu verhindern, dass Bildungskonzepte eindringen, die von dieser Doktrin entscheidend abweichen. Freie, wirklich unabhängige  Bildungsträger müssen mit vielen Hindernissen kämpfen und erhalten, wenn sie wirklich keine Konzessionen an den Staat machen, keinerlei öffentliche Unterstützung. Der deutsche Staat kriminalisiert und verfolgt seit 1938 bis heute zusätzlich zu diesen Mechanismen alle Freilerner, also alle, die sich bewusst und mit anderen Konzepten seinem frühen Zugriff entwinden wollen, drückt dagegen bei Nichtlernern und Bildungsunwilligen alle Augen zu.1 Als manipulierte Vereinzelte, die man mit vorgezeichneten „individuellen“ Freiheiten, auf Postkartengröße eingedampft, über den Tisch zieht, sollen wir in dem verordneten „melting pot“ aufgehen, der weder echte Diversität noch Freiheit und erst recht keine freie Individualität mehr anerkannt. Die Zeit, in der sich jeder den asymmetrischen Raum zumindest dem demokratischen Ideal nach nehmen konnte, den er brauchte, solange er niemandem direkt schadete, ist vorbei. Man teilt uns ein Urnengrab zu, in dem wir „divers“ zurechtformatiert, man nennt das inzwischen „framed“, untergehen dürfen. „embedded diversity“ also: hurra! Es besteht eine innere Verwandtschaft zu Legehennenbatterien.(...)"

"(...) Woher kommt diese ausgebuffte Manipulationstechnik, die von den meisten Bürgern gar nicht durchschaut wird? Solche Techniken fallen nicht vom Himmel, sind weder von Goebbels noch von Bernays wundersamerweise erfunden worden. Es gab einen sehr langen Vorlauf:
Aus meiner Sicht hat diese Tradition der herrischen Manipulation des Denkens auf globaler Ebene einen weit zurückliegenden historischen Ausgangspunkt. Ich möchte auf ihn zurückkommen, weil es mich wundert, dass in der derzeitigen, vielfach sehr klugen Kritik an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zuständen, in die wir getrieben werden, der — aus meiner Sicht — mächtigste und gewiefteste Spieler, der Meister der Diplomatie und parasitären Unterwanderung aller Machtstrukturen für die Etablierung eigener Herrschaft unterschätzt, ausgespart, ignoriert wird: die katholische Kirche, die ihren globalen Herrschaftsanspruch seit fast tausend Jahren schon vor-dogmatisch formuliert, also als eine von Gott gewollte Ambition proklamiert hat. 1870 hat sie diesen Anspruch des Papsttums zu zwei verheerenden Dogmen, also „von Gott offenbarten“ und darum absolut wahren Lehrsätzen erhoben. Auf dem Vaticanum I wurde der „Universalprimat“ des Papstes über die ganze Welt und folglich alle Regierungen definiert und die „Unfehlbarkeit“ des Papstes, wenn er etwas unter Bezugnahme auf seine göttliche Autorität öffentlich als zu Glaubendes verkündet, festgeschrieben.1 Diese beiden Dogmen sind keine Spielerei gewesen. Die Auseinandersetzungen, die diesen Dogmen vorangingen, haben das gesamte 19. Jh angedauert und zu heftigen Verwerfungen innerhalb und außerhalb der Kirche geführt. Das Vaticanum II, die als „Reformkonzil“ verkaufte ökumenische Synode, hat ein Jahrhundert später genau diese beiden Dogmen ausdrücklich und in aller Schärfe wiederholt und bestätigt.2 Niemand sollte glauben, dass die Kirche einen solchen Anspruch je wieder zurücknehmen würde. Zu hart und verbissen war er erkämpft, mit zuviel Intriganz war er schließlich als angeblich von Gott offenbarte Lehre durchgesetzt worden. Die Kirche hat bei zeitweiliger Defensivität ein sichtbares Schattenreich in allen Reichen der Welt errichtet: den ganze Erdkreis hat sie nach „Diözesen“ oder „Missionen sui juris“ eingeteilt, in denen sie einen Herrscher installiert hat, den Bischof oder in den Missionen den Papst selbst. Die Diözesanordnungen setzen die alten weltlich-römischen Verwaltungseinheiten fort.3 Im Investitutstreit (11. Jh) ging es um die Auseinandersetzung darüber, ob weltliche Herrscher das Recht haben, diese Bischöfe als nicht nur geistliche, sondern vor allem politische Amtsträger einzusetzen. Den Anspruch hatte Heinrich IV. erhoben: der weltliche Fürst stünde dann über dem geistlichen Diözesanfürsten. Wir wissen, dass sich das Papsttum durchgesetzt hat: der Papst ernennt Bischöfe, weltliche Vorschläge sind zwar, je nach regionalem Konkordat, möglich, aber nachrangig. Dies gilt bis zum heutigen Tag.4 

Die maßgebliche Rolle der Kirche in allen politischen Krisen wird mE nicht ernsthaft wahrgenommen, weil sie bewusst damit spielt, dass der postmoderne westliche Mensch Religion für eine vernachlässigbare Größe halte und sie doch eigentlich ein Tiger mit stumpfen Zähnen geworden sei. Geschickter kann man sich auf dem Weg zur absoluten Weltmacht kaum vermarkten. Wenn das so wäre, wie die Kirche selbst uns suggeriert, müsste sie auch räumlich und ökonomisch verschwinden. Genau das tut sie aber nicht, sondern ihr tatsächlicher politischer Einfluss wächst. Ich denke, dass das der größte Irrtum der ansonsten sehr klugen Analytiker aufseiten der „Alternativmedien“ ist. Sie sind fixiert und beschränkt auf Kapitalismuskritik, als sei der Kapitalismus auf keinerlei spirituelle Grundlagen gebettet und entspringe ausschließlich reiner privater Gier. Einige, die die spirituellen Grundlagen der Ereignisse nicht unterschätzen, sehen in pervertiertem Judentum den auslösenden Faktor, verkennen aber die Rolle der Kirche.5 Tatsächlich hat sich das Papsttum immer näher in die globalen politischen Institutionen geschoben. Mit dem Schachzug des Vaticanum II und der Suggestion, sie habe sich nun im „aggiornamento“ „verheutigt“, modernisiert, einem Tross an fanatischen und enttäuschten Erzkatholiken, die lautstark und medienwirksam seit Jahrzehnten skandieren, die Kirche habe sich „protestantisiert“, entsteht der Eindruck, sie sei nicht mehr das Monstrum, das so viele Jahrhunderte lang mit seiner Macht- und Habgier Not und Elend über Länder und einzelne Menschen gebracht hat. Auch hier kann man nur sagen: „Chapeau bas!“ vor dieser schlauen und wirksamen Strategie. Geändert hat sie an ihrem Machtanspruch gar nichts — und sie macht daraus keinen Hehl, aber aus geheimnisvollen, aber keineswegs zufälligen Gründen sehen die Zeitgenossen vor lauter Bäumen den Wald nicht.6
Erst in der dem Anschein nach „liberalen Zeit“ der Kirche, nach dem Vaticanum II, konnte sie ihren Fuß offen und ungeschminkt in Parlamente (Johannes Paul II. im polnischen Parlament 1999, im Europa-Parlament 1988 und 2002 im italienischen Parlament, Benedikt XVI. 2011 im Deutschen Bundestag, Franziskus 2014 im EU-Parlament und 2015 im US-Kongress) oder gar die UNO setzen (Paul VI. 1965, Johannes Paul II. 1979 und 1995, Benedikt XVI. 2008 und Franziskus 2015).7 
Vor der angeblichen Liberalisierung aber vollzog man 1957/58 auf dem Kapitol in Rom im Konservatorenpalast die Gründung der Europäischen Gemeinschaft in den „Römischen Verträgen“ unter dem riesigen Bildnis Papst Innozenz X.. (...)"







Dienstag, 4. Juni 2019

Trinitätslehre auf dem Prüfstand: Brief XII an Unitarier und Trinitarier - Was ist der Mensch?

Trinitätslehre auf dem Prüfstand: Brief XII an Unitarier und Trinitarier — Was ist der Mensch?


Wer war Jesus? Er nannte sich selbst durchweg „Menschensohn“. Der ben Adam, das Menschenkind, ist im AT immer ein Nachfahre oder eine Nachfahrin Adams und Evas und ganz und gar Mensch. „Menschenkind“ ist kein „Titel“, sondern eine tiefe, sehr tiefe und göttliche Gattungsbezeichnung. Ich möchte dem nachspüren, um der Fragestellung nach bzw der Leugnung der Gottheit Jesu vielleicht etwas näherzukommen, die sowohl Trinitarier als auch Unitarier umtreibt und auf die sie eine eindeutige Antwort suchen:

„Was ist der enosch (der Sterbliche), dass du dich an ihn erinnerst, und der ben adam (das Menschenkind), dass du dich um ihn sorgst?“

So heißt es in Psalm 8,5. Später, in den Prophetenbüchern, wird der Prophet Ezechiel speziell als ben adam angesprochen (beginnend ab Ez 2,1 und insgesamt 87mal). Da er hineingenommen wird in die Verkündigung und das Erdulden der heilsgeschichtlichen Erwartung und das Endgericht, haben manche Theologen geglaubt, „Menschenkind“ wandle sich hier zum messianischen Titel.

Die Idee, ben adam sei ein messianischer Titel, wird von denselben Theologen auch darin als bewiesen angesehen, dass der Prophet Daniel einen bar enasch (aram. Menschensohn) sieht, der hoch zum Thron Gottes geführt wird (Übersetzung nach Buber/Rosenzweig):

„Da, mit den Wolken des Himmels kam einer wie ein Menschensohn (bar enasch), er gelangte bis zum Hochbetagten (atik jomia = „herrlich an Tagen“) und wurde vor ihn gebracht. Ihm ward Gewalt (aram. Schaltan/hebr. schilton — verwandt mit dem Wort „Sultan“, eigentlich bedeutet es „Ordnung“ oder „Regierung“) und Ehre (jekar = Glanz, Ehre) gegeben und Königschaft (aram. Malchu, hebr. malchut — Königtum), alle Völker, Stämme und Zungen dienten ihm: seine Gewalt ist in Weltzeit (hebr. olam), Gewalt, die nie vergeht, und seine Königschaft nie zu zerstören.“ (Dan 7, 13ff)

Der bar enasch (Sohn des Sterblichen) entspricht also dem ben adam (Sohn Adams), aber beides sind die gängigen Bezeichungen für den Menschen im allgemeinen. Es ist nicht ersichtlich, dass es sich um einen gesonderten Titel handele, der nun nur noch einem einzigen Mann zukommt.
Zuvor hatte in der Vision Daniels ein Gericht stattgefunden, in dem sich „das Tier“  und verschiedene weitere „Tiere“ („chaiot“ = Lebewesen) sich in ihrer Gewalt und Macht zugrundegerichtet hatten.
Es gibt also eine „Gewalt“, die ein Ende hat und eine andere Art, die kein Ende haben wird.

Aber auch Ezechiel schaut einen, der wie ein Menschenkind aussieht. Doch diesmal meint er den Allerhöchsten selbst (Übersetzung nach Buber/Rosenzweig, Jecheskel 1,1):

„Ich sah Gottgesichte (hebr. mar’ot elohim = Spiegel/Visionen Gottes)…“

Ezechiel sieht ein gleißendes Feuer, aus dessen Mitte vier Gestalten sichtbar werden. Sie alle haben Menschengestalt (hebr. dmut adam). Es bleibt unklar, ob sie zu viert als eine dmut adam erscheinen oder jeder der vier einer dmut adam gleicht. Es heißt aber zugleich von ihnen, sie hätten das Ansehen von chaiot, also Tieren oder allgemein Lebewesen. Das ist ausgesprochen eigentümlich. Buber/Rosenzweig übersetzen dies folgendermaßen:

„Aus jenes (des Feuers) Mitte vier Lebendiger Gestalt. Und dies ihr Ansehn: Menschgestalt (hebr. dmut adam) an ihnen…“ (V 5)

Die genauere Beschreibung dieser Lebewesen mit Flügeln, Menschenhänden, Kalbsfüßen, aneinandergeheftet gehen sie je in die Richtung, in die ihre Gesichter zeigen — ein paradoxes Bild unendlicher Ausdehnung. Und das Gesicht?

„Die Gestalt ihrer Antlitze aber: ein Menschenantlitz, zur Rechten ein Löwenantlitz, den Vier, von links her ein Stierantlitz, den Vier, und ein Adlerantlitz, den Vier. Ihre Antlitze das, ihre Flügel aber drüberhin ausgespannt.“ (V 10)

Es handelt sich in jedem Fall um eine eigentümliche Mischung aus Menschen- und Tiergestaltelementen. Die vier Gestalten, die doch eine einzige sind, werden begleitet von Feuerrädern, die voller Augen sind (V 18). Dieses Wesen fließt ineinander und strebt auseinander, wohin der Geistbraus (hebr. ruach) es führt. Man denkt unwillkürlich an verschwimmende Formen, die sich auf einer bewegten Wasserfläche spiegeln.

Über diesem hyperdimensionalen Lebewesen ist ein „Gewölb, wie der Anblick des furchtbaren Eises“ (V 22). Das „Gewölb“ (hebr. rakia) ist ein Begriff aus der Schöpfungserzählung. Dort baut Gott ein „Firmament“, eine rakia, die Wasser von Wasser trennt (Gen 1,6). Das, was dieses Gewölbe umfasst, bearbeitet Gott so, dass Land und Meer sich in Areale trennen: es gibt eine Landfläche und ein großes Meer unter diesem Gewölbe (V 9), das fortan auch „Himmel“ genannt wurde (hebr. schamajim).

Ezechiel schaut nun über den vier Lebewesen, die doch eines sind, diese rakia, sie besteht aus oder erinnert an Eis, gefrorenes Wasser. In der Logik der Schöpfungserzählung kann sie nur aus Wasser sein, denn sie sollte Wassermassen der Urflut trennen, bevor irgendetwas anderes Materielles beschrieben wird. Damit sie „firm“ wurde, fest, ist an gefrorenes Wasser zu denken.
Die rakia trennt in Ezechiels Schauung die vier Lebewesen von dem, der darüber ist. Die vier verursachen Geräusche wie „den Hall großer Wasser“ (hebr. kol majim rabbim) und eines Heerlagers (V 24). Dieser „sound“ wird gleichgesetzt mit der Stimme Gottes (hebr. kol schadai).

Oberhalb der rakia, des Gewölbes aus Eis, befindet sich der eigentliche Thron Gottes:

„Oberhalb des Gewölbs aber, das über ihren Häuptern war, anzusehn wie Saphirstein Gestalt eines Stuhls (hebr. dmut kisseh), und auf der Gestalt des Stuhls eine Gestalt anzusehn wie ein Mensch (hebr. dmut ki mareh adam = eine Gestalt wie der Spiegel/die Vision des Menschen), oben drauf … Das war das Ansehn SEINER Erscheinung (hebr. dmut kvod JHWH = die Gestalt der Fülle JHWHs). Ich sah, ich fiel auf mein Antlitz.“ (Ez 1,26f)

Der Prophet schaut hier den Allerhöchsten dmut ki mareh adam, in einer Spiegelgestalt des Menschen. Anfangs hatte er gesagt, er habe mar’ot elohim gesehen, Spiegelvisionen Gottes. Aber von einem Titel ist keine Rede. Der Geschaute hat einen Eigennamen, und er teilt seine Gestalt mit anderen Lebewesen, insbesondere mit dem adam, dem Menschen.

Eine engste, geheimnisvolle Gestalt-Nähe von Gott und Mensch kommt hier zum Ausdruck, aber sie ist nicht auf einen einzigen Menschen oder Erlöser bezogen, sondern allgemein auf den Menschen.

Dem entspricht auch die Fortführung des Psalm 8 in Vers 6:

„Ließest ihm ein Geringes nur mangeln, göttlich zu sein, kröntest ihn mit Ehre und Glanz, hießest ihn walten der Werke deiner Hände. Alles setztes du ihm zu Füßen…“

(Übersetzung Buber/Rosenzweig Psalm 8,5ff)

Man kann es auch so übersetzen: „Du hast ihn wenig geringer als Gott (hebr. elohim) gemacht…“. Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Aussage übersetzten die Septuaginta Hieronymus vorsichtshalber „elohim“ mit „Engel“: „Minuisti eum paulo minus ab angelis…“. Das Wort „elohim“ meint allerdings, vor allem, wenn es ohne Artikel gebraucht wird, stets den wahren Gott. In der Esoterik wird „elohim“ auch im Sinne höherer Lichtwesen verstanden. Es gibt dafür allerdings keinen alttestamentlichen Anhalt. Das AT kennt auch einen Gebrauch für die heidnischen Götter. Selten wird der Begriff auch einmal für einen von Gott Autorisierten benutzt, meint aber fast durchweg Gott selbst. Wenn er einem Engel oder Menschen zugeordnet wird, dann nur deswegen, weil sich in ihm Gott zeigt. Eine Verwechslung Gottes mit dem, den er autorisiert, geschieht dennoch nicht. Für „Engel“ findet man dagegen an mehreren Stelle im AT die Bezeichnung b’nei elohim (Gottes- bzw Göttersöhne) (Gen 6, 1-4; Job 1-2).
Die Aussage, dass der Mensch nur wenig geringer als Gott sei, korrespondiert der mehrfachen Aussage in der Genesis, dass der Mensch als Mann und Frau „Ebenbild Gottes“ sei.
Gott sagt gleich zu Beginn zu einem „Wir“, sie sollten nun den Menschen ki dmutenu, „wie in unserer Gestalt“ machen (Gen 1,26). So habe elohim den Menschen b’zelem elohim, „im Bilde Gottes“ geschaffen (Gen 1,27). Zelem ist ein „Abbild“, ein „Ebenbild“. Dmut ist „Gestalt“. Der Mensch ist nach Gen 1 also nach der „Gestalt“ Gottes geschaffen und sein „Abbild“.
Dies wird nach der Vertreibung aus dem Paradies bestätigt. Elohim habe den Menschen als Mann und Frau bidmut elohim, „in der Gestalt Gottes“ geschaffen (Gen 5,2).
Es ist dem Autor der Erzählung wichtig, nach allen heilsgeschichtlichen Zäsuren „abwärts“ zu betonen, dass der Mensch dennoch Ebenbild Gottes bleibt.
So wiederholt sich in Gen 9, nach der Sintflut, noch einmal im Bund mit der Schöpfung dieselbe Aussage: Niemand, weder Tier noch Mensch, darf Menschen töten, weil Gott sie b’zelem elohim gemacht habe, „im Bilde Gottes“ (Gen 9,6).
Beide Begriffe, sowohl dmut als auch zelem bedeuten durchweg, dass etwas „aussieht wie“ oder „ein Spiegel-Bild/eine Vision von“ ist. Der Begriff „mar’eh“ (s.o.) drückt etwas Ähnliches aus.

Die Lesart der Septuaginta und Vulgata, Gott habe den Menschen nur wenig geringer als die Engel gemacht, korrespondiert möglicherweise der Vorstellung, dass das „Wir“, das in Gen 1,26 Menschen schafft, eine Einheit von Gott und Engeln meinen könnte. Diese Lesart würde voraussetzen, dass Gott Engel an der Erschaffung des Menschen beteiligt hätte und der Mensch — wie die Engel auch — Gottes Abbild sei, wobei die Engel hier Gott und seinem Abbild dienen und nicht der Mensch den Engeln dienen soll.
Dieses Verständnis findet sich weitergesponnen in verschiedenen gnostischen Lehren, die meinen, dass der Mensch von archontes geschaffen worden sei, die aber vom wahren Gott abgefallen seien (zB in der Nag Hammadi-Schrift „Über das Wesen der Archonten“). Oder aber der Mensch sei von einem „Demiurgen“ geschaffen worden, der ein böser Gott sei und den Verlust der Göttlichkeit beim Menschen verantworte.
Es ist an dieser Stelle Vorsicht geboten: solche Ideen finden sich im AT nicht. Sie sind erst später hinzugekommen. Über die Frage der Herkunft der Gnosis besteht unter den Theologen und Philosophen Uneinigkeit. Manche glauben, dass sie erst mit dem Christentum entstanden sei, manche nehmen heidnische Vorläuferphilosophien an. Manche Hinweise im NT lassen jedoch hellenistische und gnostische Ideen anklingen, die sich so ebenfalls im ganzen AT, außer vielleicht den hellenistischen Spätschriften, nirgends finden. Etwa weist die Stelle in 1 Kor 11,7  auf hellenistische, neuplatonische Philosophien, die die Frau als Abglanz oder Abbild des Mannes deklarieren, dies aber in einem emanativen „Abglanzmodell“ von Gottvater über den Christus und den Mann bis hinunter zur an der Schlussstelle rangierenden Frau tun. Während der Mann eikon (Bild) und doxa theou (die überweltliche Herrlichkeit Gottes) darstelle, stelle die Frau nur die doxa andros dar (die Herrlichkeit des Mannes). Dieser Satz steht im Widerspruch zu Gen 1 und 2 und hat dazu geführt, dass man in der Kirche behauptet hat, die Frau sei kein direktes Abbild Gottes, sondern bilde den Mann ab (Decretum Gratiani, Hugo von Pisa, Thomas von Aquin u.a.). Er kann nur vor dem Hintergrund neuplatonischer Emanationslehren verstanden werden und ergäbe sonst überhaupt keinen Sinn. Es spricht vieles dafür, dass solche Stellen entweder nicht die Meinung des Paulus widerspiegeln, sondern nur von ihm referiert werden, oder aber später den Briefen zugefügt wurden. Das gewichtigste Gegenargument ist aber die Verheißung an die Frau, dass aus ihrem Samen der kommen würde, der den Samen der Schlange überwinden und zertreten würde (Gen 3,6). Der Mann ist hier ausgeschlossen. Wenn aber der ben adam, der den Kopf der Schlangenbrut zertreten wird, ausschließlich Nachkomme der Frau und nicht des Mannes ist, das NT uns an vielen Stellen darüber belehrt, dass er ein sündloser Mensch und vollkommenes Abbild Gottes sei, dann ergibt eine Sicht auf die Frau, die selbst kein Abbild Gottes ist, keinerlei Sinn: wie sollte dann ausgerechnet aus der Frau dieser vollkommene Mensch kommen, nicht aber aus dem Mann? Das hellenistische Judentum pflegte diese Stelle metaphorisch zu verstehen: die Frau ist Israel oder es sind die Kinder Gottes. Das NT stellt uns aber dann tatsächlich eine Jungfrau vor Augen, Maria, die ohne Zutun des Mannes in der Kraft Gottes den vollkommenen ben adam hervorbringt. Wenn sie nur abbilden kann, was sie vom Mann hat, wäre dieser Vorgang unmöglich gewesen. In 1 Ko 11 wird mithilfe dieser Stelle eine Hierarchie begründet, die unbeholfen und angesichts der Schöpfungserzählung widerspenstig wirkt, die an anderen Stellen auch im NT aufgegriffen wird, hier allerdings anhand der Tatsache, dass nach Gottes Ordnungen der Mann Vater und Mutter verlässt, um seiner Frau zu folgen und nicht etwa umgekehrt. Erst der Fall des Menschen kehrt dieses Modell um und hat zur Folge, dass der Mann sich hierarchisch über die Frau stellt. Ebenso geben die Worte Jesu nicht her, dass er sich über die Menschen stellt. Er spricht nach seiner Auferstehung von seinen „Brüdern“.
Ähnlich abwegig wirkt die Argumentation in Röm 13, die jede weltliche Macht als diakonos theou, als „Diener Gottes“ verabsolutiert, der man nicht nur äußerlich, sondern im Gewissen unterwürfig zu Gefallen handeln solle, weil sie stets das Gute belohne und das Böse bestrafe.
Das alles steht in krassestem Widerspruch zum AT, und bereits die Kirchenväter hatten große Mühe, damit umzugehen, entschieden sich aber sehr gern für die angeblich paulinische Version… das war im aufsteigenden Staatskirchentum politisch jedenfalls korrekter…

Wir sehen jedenfalls, dass das NT nicht frei von hellenistischer Ideologie ist und die Frage, wer alles an der Erschaffung des Menschen beteiligt war, nicht klar ist. Eines ist jedoch klar: Mann und Frau sind gleichermaßen Abbild Gottes — so wird es in der Genesis mehr als einmal ausdrücklich gesagt. Was immer im NT dazu steht, muss sich damit konfrontieren.
Wir wissen allerdings aus Gen 1, dass Gott sowohl den Erdboden als auch das Meer beteiligte an der Erschaffung der Tiere und Pflanzen (Gen 1,24ff). Auch wenn es immer wieder heißt, er allein habe alles geschaffen, ließ er sich doch dabei helfen oder gab einen Schaffensauftrag weiter. Nicht zuletzt erhielt der Mensch als Mann und Frau den Auftrag, weitere Menschen hervorzubringen bis zum heutigen Tag. Aber weder die Mutter Erde noch das Meer noch der Mensch sind deswegen „der“ Schöpfer oder gar Gott.
Es ist also keineswegs abwegig, auch Engel beteiligt zu sehen, wo doch auch sonst bei allen wichtigen heilsgeschichtlichen Stationen Engel schaffend oder verkündigend mitwirken (als „Engel des Herrn“, zB am brennenden Dorbusch, beim Auszug aus Ägypten, auf dem Sinai, als „Gabriel“ bei der Entstehung Jesu im Mutterleib etc.).
Wenn man annimmt, dass ihr Auftrag war und ist, sowohl Gott als auch seinem Abbild als mächtiger Beistand zu dienen (aber nicht in einem knechtischen Sinn!), ist es vorstellbar, dass ein Teil der Engel dies nicht wollte und die Misere der menschlichen Schwächung mit einer Auseinandersetzung zwischen Gott, Engeln und den beiden Urmenschen zusammenhängt.

Aus der Stelle in Gen 1,26 zu schließen, dass mehrere wesensgleiche Gottpersonen den Menschen erschaffen haben, ist jedenfalls unplausibel und im Schrifttext wirklich überhaupt nicht zu finden. Es ist ohne jeden Beweis aus dem Text oder anderen Schriften, die dies aussagen würden, hineininterpretiert. Dass Jesus kein Engel war, sagt uns dagegen der Hebräerbrief — er war und blieb ben adam und Engel dienten ihm, ebenso wie Dämonen sich vor ihm fürchteten und den Dienst verweigerten.
Wenn der Mensch „Abbild Gottes“ ist, dann kommt dem Menschen ursprünglich ein göttlicher Status zu. Es ist von daher nicht abwegig, wenn er in einem schwächeren Sinne auch als „Gott“ oder „göttlich“ aufgefasst wird. Dafür spricht auch die Bemerkung in Psalm 8.

Wenn mancher dieses „Wir“ aus Gen 1,26 mit dem
Johannesprolog in Verbindung bringt und davon ausgeht, dass der dort in V 1 genannte logos Jesus Christus sein müsse, dann hat derjenige auch dafür keine guten Argumente, die sich aus dem Text selbst ergäben. Dass im Anfang der logos war und durch ihn alles erschaffen wurde, dann liegt es erst einmal nahe, dies so zu verstehen, wie es dasteht: dass nämlich der ganze Sinnzusammenhang und Plan dessen, was ist, bei Gott ist und immer schon war vor aller Zeit. Mit gar keinem Wort ist dort ausgesagt, dass dieser logos ein zweiter Gott oder ein Mensch, aber auch nicht ein Engel sei. Das hat man später hineingelesen, obwohl der Textbefund dafür nicht ein einziges Wort hergibt. Metaphern in der Weisheitsliteratur, die „Frau Sophia“ als Frau, die immer schon vor Gott spielte, vorstellen, sind als Metaphern aufzufassen oder aber als Phänomene, die dennoch nicht ohne triftigen Grund mit dem Christus identifiziert werden können.
Auch der Johannesprolog hat hellenistische Anklänge, aber nirgends wird behauptet, Jesus Christus habe die Welt oder den Menschen geschaffen.

Die Beschreibung des Menschen als „nur wenig geringer als Gott“ in Psalm 8, dem Gott „alles unter seine Füße getan hat“, dort als allgemeine Beschreibung des Menschen, betrifft offenkundig alle b’nei adam. Es erinnert an das, was im NT aufgrund anderer Psalmaussagen dem ben adam Jesus speziell zugesprochen wird: Gott habe ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben. Jesus sagt dies selbst von sich (Mt 28,18). Und alles, schreibt Paulus, habe Gott „ihm unter die Füße getan“ (1. Kor 15,20ff). Dem Christus Jesus werden hier all die Attribute zugesprochen, die im allgemeinen dem Menschen zukommen sollten. Als Erster ben adam der Entschlafenen, der auferweckt wurde, kommt ihm auch zuerst wieder das zu, was allen b’nei adam zugedacht war. Er stellt also den Menschen als vollkommenes Abbild Gottes als Erster wieder dar und ist insofern in jedem Fall auch ein Gott bzw göttlich.
Aber Wesensgleichheit mit dem Vater kann man spekulativ nicht einfach annehmen. Das hieße, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen und suggeriert die irritierende heidnische Vorstellung eines Mischwesens, das durch Gott mit einem Menschen gezeugt wurde. Wie ich bereits in einem anderen Brief darlegte, ist hinsichtlich Jesu erst mit seiner Auferweckung von einer Zeugung die Rede. Die Entstehung Jesu aus Maria wird nicht mit einer regelrechten „Zeugung“ verknüpft. Maria erhält enorme Kraft Gottes, wird aber zugleich von diesem Geist Gottes „umschattet“. Es entsteht in keiner Weise der Eindruck, dass Gott hier physisch „zeugt“, sondern dass er (er)schafft. Es bleibt ein Geheimnis, was sich hier abgespielt hat, weil kein Mensch sich vorstellen kann, was Gott als Schöpfer tat. Wir wissen auch als Mütter und Väter, obwohl wir unsere Kinder gezeugt haben, nicht, was Gottes Werk an uns genau getan hat. Wie viel mehr bei Maria!

Die Beziehung zwischen Gott und seinem Abbild im Menschen bleibt aber auch in einem undurchdringlichen Geheimnis, sagt uns aber der zukünftigen Richtung nach, wer wir sind oder wieder sein dürfen durch Jesus Christus.

Es träfe, wenn man die Sache so ansieht, zu, dass Jesus Gott oder göttlich ist, ganz einfach deswegen, weil er ganz und gar ben adam ist, der dmut elohim, in der „Gestalt Gottes“ oder b’zelem elohim, „im Bilde Gottes“ ist und als solcher der erste derer, die Gott aus dem Tod auferweckt und umgestaltet hat zu seinem vollkommenen Abbild.

Mancher wird einwenden wollen, dass aber doch Jesus Christus auch stets als „Sohn Gottes“ bezeichnet wird.
Dazu kann man folgendes antworten:
Er selbst nennt sich so nicht. Der Engel Gabriel kündigt ihn Maria, seiner Mutter, an als einen, der „Sohn des Allerhöchsten genannt werden“ wird (Lk 1,32). Bei der Taufe im Jordan schwebt der Geist Gottes wie eine Taube herab und bekennt sich zu diesem Mann Jesus als seinem „lieben Sohn“. Dasselbe Bekenntnis geschieht auf dem Tabor (Mt 3,17; Mt 17,5). Ein römischer Wachmann erkennt den Gekreuzigten und Scheidenden als „wahrlich Gottes Sohn“ (Mk 15,38).
Es finden sich noch zahlreiche andere Zeugnisse dafür, dass sowohl Gott als auch Menschen in Jesus den „Sohn Gottes“ bezeugten.

Nur stellt sich eine Frage: was verstanden sie darunter? Was meinte denn etwa der heidnische römische Soldat, der wohl kaum ein gelehrter Hellenist oder Pharisäer war, sondern ein einfacher, heidnischer Römer?
Kann man dies nicht ganz schlicht verstehen: „Sohn Gottes“ ist einer, in dem die tiefe, tiefe Gestaltabbbildlichkeit zwischen Gott und Mensch sichtbar und erkennbar wird?
Jesus selbst beschrieb als „Kinder Gottes“ solche, die Frieden stiften (Bergpredigt, Mt 5,9). Johannes schrieb, „Kinder Gottes“ seien wir jetzt schon, auch wenn es noch nicht offenbar ist. Der „Same Gottes“, den er geistig versteht, wirke in uns und mache uns zu seinen Kindern. Er schreibt die ungeheuerlichen Worte:

„Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen, dass wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ (1. Joh 3,2) 

Wir werden ihm — also Gott! — gleich sein und ihn sehen „wie er ist“!? Das ist atemberaubend! Aber es stellt diese enorme Nähe zwischen Gott und Mensch vor die geistigen Augen. Und: Zu keinem Engel hat Gott je dergleichen gesagt.
Und dies obwohl auch sie im AT gelegentlich als b’nei elohim bezeichnet werden (s.o.).
Paulus spricht davon, dass wir einen „Geist der Kindschaft“ empfangen hätten, der uns Gott als „Papa“ (aram./hebr. abba) ansprechen lässt (Röm 8,14f). Der Geist Gottes selbst bezeuge uns, dass wir seine Kinder sind.
Manche fassen diese Worte in einem infantilen Sinn auf: da oben ist der Herrschervater und wir sind die unmündigen Kinder, die Kleinen, ewig am Rockzipfel Hängenden. Das widerspricht aber der Beschreibung im Römerbrief ebenso wie anderswo im NT.
Genauso wie irdische Eltern sehen wollen, wie ihre Kinder groß werden und ihnen gleich werden, vielleicht ihre Geschäfte weiterführen in Kraft und Stärke, genauso will Gott das vom Menschen. Es ist die „Freiheit der Kinder Gottes“, von der Paulus spricht.

Ich gebe zu, dass ich mit den Gedanken kaum wage, das alles wirklich zu denken, weil ich mich ja nicht vermessen will. Aber das ist es, was da steht: die Menschen sind zur Göttlichkeit berufen. Angesichts dieser Berufung zu sagen, Jesus sei „nur“ ein Mensch, ist nicht richtig. Jesus ist der Mensch schlechthin und damit göttlich, so wie Gott es dem ben adam zugedacht hat und nach und nach für viele von uns wie eine Ernte einfahren wird.

Noch eines sei zu den vier merkwürdigen Tier-Mensch-Wesen gesagt, von denen bei Ezechiel die Rede war. Wir erinnern uns: sie wurden als Wesen dargestellt, die wie Tiere aussahen, aber auch in Gestalt eines Menschen erscheinen. Es ist der ruach, der sie treibt, so wie jeder Mensch, der aus dem Geist gezeugt/geboren ist, wie Jesus es dem Nikodemus erklärt (Joh 3,1ff).
Es sind vier geheimnisvolle Lebewesen. Man denkt an Engel oder an Götter, die aber vollständig im Einklang mit dem Allerhöchsten stehen, sonst würden sie nicht vom Geist getrieben. Bei der Vierzahl unter der rakia, der Himmelsfeste aus Eis, denkt man spontan an die vier Himmelsrichtungen. Aber die Mischgestalt zwischen Tier und Mensch erinnert auch spontan an heidnische Götterbilder: Sphingen, ägyptische Göttergestalten mit Tierköpfen etc. Man kann nun natürlich auf dem Standpunkt stehen, dies seien alles Trugbilder der Heiden. Vielleicht sind es aber keine Trugbilder, sondern eher Verzerrungen von Wirklichem? Die „Myriaden von Myriaden“, die Daniel schaut, die vor IHM, dem Allerhöchsten stehen, sind reale und himmlische Lebewesen. Die Bilder der Heiden sind genauso real, aber Verzerrungen und vielleicht Anbetungen widerspenstiger und hochfahrender Geister, vielleicht eine Mischung aus verkehrtem und Rechtem, aber es gibt keine Wahrheit in der Lüge, auch wenn die Wahrheit in der Lüge segmentiert und fragmentiert schlummert. Auch die bösen Geister, heißt es, glauben und zittern (Jak 2,19). Es ist interessant, dass Jakobus an dieser Stelle einem Unitarier über den Mund fährt:

„Du glaubst: Es gibt nur den einen Gott. Damit hast du recht; das glauben auch die Dämonen und sie zittern.“

Vor diesem einen Gott kann man nicht Glaube und Werke segmentieren, genauso wie man nichts anderes fragmentieren darf in seiner heiligen Gegenwart. Ja, er ist einer, aber er ist umgeben von z’waot, von Heerscharen, von Myriaden und spiegelt sein Wesen und seine Gestalt in so vielen Menschen, die so zahlreich sind wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer, zuerst aber in Jesus Christus.