Donnerstag, 21. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Morgendämmerung, später November

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Morgendämmerung, später November

Der Blick vom Berg aus landet weich im Nebel. Äste fließen aus. Die beiden Flutlichter im Landwirtschaftlichen Versuchszentrum sind kalt leuchtende Wattekerne, irrlichternde Ahnungen von Ferne. Warum empfinden wir diese widerstandslose, kantenfreie Weichheit als unheimlich?

Wenn ich es nicht wüsste, dass es ein ‚Da unten’ gibt, die Rheinebene mit ihren Städten, der ‚Hardt’, dem breiten Fluss mit seinen langen, flachen Frachtschiffen und die Kette der Berge gegenüber, sechzig Kilometer entfernt …
Wenn ich es nicht wüsste, wäre der Nebel mir unsichtbar. Ich wäre im Nebel, ohne zu erkennen, dass da Nebel ist. Hätte ich niemals klare Luft erlebt, wäre der Nebel ein Element, in dem ich mich selbstverständlich und ohne Kenntnis bewegte. Oder sagen wir es schärfer: Ich würde den Nebel wahrnehmen, aber nicht wissen, dass ich ihn wahrnehme.
Die Folgen wären immens. Man sieht nicht nur anders und weniger. Man hört auch weniger. Gerüche würden sich schwerer zu mir hinbewegen, aber sie verflögen auch langsamer. Unter ‚Weitblick’ verstünden wir eine Spanne von wenigen Metern. Unser ganzes Denken würde sich verlagern.
Eine großartige Nebelkosmologie könnte der Naturwissenschaftler sich ausdenken, Mess- und Beobachtungsgeräte würden nebulöse Theorie bestätigen. Und wer weiß, was er, im Nebel tappend, als gäbe es keine Welt ohne Nebel, behaupten würde. Seiner Fantasie wären kaum Grenzen gesetzt. Und prüfen könnte es niemand. Dem Skeptiker, dem Ahnungsvollen, dass da mehr ist, könnte man immer entgegenhalten, dass er doch erst einmal sagen solle, wie es denn dann anders sein könnte als so, wie man es sieht. Und er müsste passen oder aber sehr komplizierte Gedanken anstrengen, denen wiederum viele nicht folgen könnten, verweichlicht durch die konturlose Nebelwelt.
Allein: Auch in einer Nebelwelt tauchen immer wieder Gestalten auf, die uns an ein „Dahinter“ gemahnen. Solange sie dezent bleiben, lassen sie sich verdrängen.
Die Alten mit ihrer Vorstellung vom Äther, diesem unsichtbaren Element, das doch alles zusammenhält, waren vielleicht näher an der Wahrheit als die materialistische Wissenschaft, eine bis an die Zähne bewaffnete Trutzburg verbissener Theorien wider die kommende Erkenntnis und Wahrheit.

Aber der Morgen steigt unaufhaltsam herauf, das Licht jenseits des Nebels zieht in einer feinen Erhabenheit ein in unser dämmriges Nebelreich, wie ein König, dessen Kommen Erlösung bedeutet. Das kosmische Licht, nicht das Flutlicht im Versuchszentrum, löst diese unüberwindliche Schicht auf, die Dinge werden klar und scharf. Fast lautlos trat es heran, mit ‚Macht und Herrlichkeit’, aber was sage ich: Macht ohne Macht, mit graziöser Liebe und Hingabe und der Würde seiner Erhabenheit, die nicht herrscht und den Nebelgläubigen weder zwingt noch treibt, sondern Angebote unterbreitet, die abzulehnen töricht, aber dennoch verbreitet ist.

Wer auf der Nebelwelt besteht, darf zurückbleiben, nackt und bloß, benebelt nun ohne Nebel, ein unvorstellbarer Zustand, aber es gibt ihn — auf eigenen Wunsch dessen, der sich in der Versuchung häuslich eingerichtet hat, gebannt und erstarrt im festgekrallten Augenblick der weichen Täuschung.

21. November 2019 (Zu Hause)


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