Samstag, 16. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

„Ich bin in der Natur geboren.“ (Hans Arp)


Die Natur ist in aller Munde, jeder scheint genau zu wissen, was sie ist und was nicht. Sie ist zum politischen und religiösen Kampfbegriff geworden. Schon lange und immer mehr.

Die einen deklarieren sie zur Gegenwelt gesellschaftlicher und ökonomischer Konstrukte, die unbedingt vor dem Menschen „geschützt“ werden müsste. Die Natur als eine der vielen diskriminierten Minderheiten, anhand derer man sich als „Helfer“ profilieren kann. Die Natur als Projektionsfläche für ein Friedensreich, von dem wir glauben, dass sein Bestehen ausschließlich von unserer Aktion abhängt.
Es gibt die „Anwälte“ dieser "Natur als Gegenwelt", aber sie verstehen nicht, dass sie selbst genau das tun, was sie den „anderen“, den „Bösen“ oder Gedankenlosen vorwerfen: sie stellen auch nur ein neues Konstrukt des Natürlichen und Guten her und bleiben den Beweis für ihre Meinungen stets schuldig. Wenn Gentechnik unnatürlich und falsch ist, warum ist dann etwa die heute als „Normalfall“ erklärte Geschlechtsumwandlung natürlich und gut? Warum ist Kernkraft oder das Verbrennen von Kohle und Öl schlecht, der destruktive Überzug der Landschaften mit hässlichen und für zahlreiche Vogel- und Insektenarten tödlichen Windräder gut, zu denen tonneschwere Betonsockel in den Boden verbaut werden müssen, die niemals mehr entfernbar sind? Warum ist es schlecht, wenn asiatische Tier- und Pflanzenarten einheimische allmählich verdrängen, aber gut, wenn bestehende menschliche Populationen möglichst so sehr vermischt werden, dass sie sich auflösen?

Die anderen sehen die Natur nicht als Hort des Guten, sondern als eine herzlose, feindselige Welt, in der alle mehr oder weniger gewaltsam ums Überleben ringen und dabei das Leben der anderen nicht schonen. Die gesamte Tierwelt lebt in einem enormen Stress, ist in ständiger Fluchtbereitschaft und der Angst gefressen zu werden, wenn sie nicht selbst frisst. Der Mensch ist nichts weiter als ein besonders raffiniertes Tier, das es noch schlimmer treibt als alle anderen. Das Recht hat der Stärkere, der „Sieger“. Er bestimmt, wie es weitergeht. Er schreibt die Geschichte. Warum aber lebt doch in uns allen eine tiefe Sehnsucht nach Harmonie, nach so etwas wie einer „Übernatur“? Warum glauben wir, unlogisch, dennoch, sie sei in der Natur, was oder wo immer sie ist, mehr vorhanden als beim Menschen, der auf diese Weise aus dem Natürlichen ausgegliedert wird? Warum ist in vielen die verborgene Überzeugung, dass es das Schwache ist, das am Ende den Durchbruch schaffen wird? Das eines Tages einfach seine bunten Blütenblätter öffnen und strahlen wird, nachdem all die anderen sich gegenseitig zerfressen haben werden? So wie diese Gräser, die ganze Teerdecken heben und schließlich durchbrechen? Asphaltbeläge, die irgendwann überwuchert werden von der Pflanzen- und Tierwelt, als hätte es sie nie gegeben, wenn man sie nicht ständig gewaltsam instand hält? Jeder, der ein klein wenig Erfahrung mit einem Leben in der Natur hat, weiß, dass die Natur sich restlos alles zurückholt, wenn man ihr nicht kleine Zugeständnisse abringt.

Warum fürchten wir, der Mensch könnte es je schaffen, die Natur unwiederbringlich zu zerstören, wo jeder Grashalm unter der Teerdecke uns darüber belehrt, dass es nicht so ist? Entspringt diese Furcht nicht einer Hybris, die mit der Teerdecke verwandt ist und den eigenen irrationalen Naturbegriff konterkariert? Und wird, wenn das so ist, nicht diese Hybris postmoderner Klimaaktivisten und Ökofanatiker folgerichtig eines Tages wieder von natürlichen Zusammenhängen zurechtgerückt werden?
Kann es sein, dass der Mensch zwar seine Verantwortung für die Natur veruntreuen kann, dass deswegen aber dennoch nicht die Natur stirbt, sondern unser … Geist?

Wir erleben eine bruchstückhafte und habgierig vereinnahmte Mischung aus beiden Sichtweisen: eine bestürzende Sentimentalität neben einem haarsträubenden Moralismus, der dem Bauch hinterhertreibt, in dem die Winde der Tagespropaganda und des medialen Trigger-Stundengebets die Segel blähen und in täglich neue Auswüchse der Begehrlichkeiten nach moralischer Überheblichkeit und zugleich Selbstzerstörung drängen? Der „Klima“-Hype ist ein perfektes Beispiel dafür: der Natur entfremdete Menschen hüpfen auf Kommando „gegen Kohle“, - nota bene: einen der zentralen und lebenswichtigen Baustoffe der Natur (nach allem, was wir derzeit wissen!) - haben Panik vor einem lebenswichtigen Spurengas (Co2), haben keine klare Vorstellung davon, was hier eigentlich natürlich wäre oder auch nicht, aber eines glauben sie gewiss: Sie glauben, es gäbe starre Naturgesetze und „Forscher“, die sie besser erkennen und deuten als alle jene, die ihnen widersprechen. Die Frage, warum sie das glauben, ob es überhaupt wahr ist, erübrigt sich, weil man ihnen gesagt hat, das erübrige sich. Wir erleben ein gespenstisches Revival ignatianischer-frommer Selbstverdummung und Autoritätshörigkeit bis in die letzten Fasern des Bewusstseins hinein. Wir erleben eine geradezu finster-säkulare Kirchlichkeit, die verlangt, dass wir das Schwarze für weiß halten, wenn die Autorität es uns zu glauben heißt. Nur staatlich geprüfte Indoktrinatoren wissen, was die wahre Wahrheit ist. Und wir hängen an ihren Lippen und fürchten uns, selbst zu denken, weil man uns den vollen Teller entziehen könnte und den seelischen Missbrauch, den wir mit Anerkennung verwechseln. Es ist unglaublich, wie sang- und klanglos so viele, auch akademisch verbildete Menschen, zurücksinken in den Zustand, der den Begriff der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ noch euphemistisch erscheinen lässt. Solange der Teller gefüllt ist und Alltagsdrogen sichergestellt sind einschließlich der Freiheit zum ewigen Sex, sind sie gerne Sklaven einer ganz sicher nicht natürlichen „öffentlichen Meinung“ und lernen aufgrund der neuen medialen Volksbildung all jene zu hassen, die noch selbst denken.

Viele haben aber auch die Nase voll von dieser antiaufklärerischen Apostasie, nicht alle lassen sich von der Geisteskrankheit anstecken, und verlassen die urbanen Räume und ziehen sich zurück in die wirkliche Natur. Als „Überleber“, als „Survivaltrainer“. Sie ahnen, dass wir vielleicht schneller in die Natur zurückgeworfen werden könnten, als die meisten Klimahüpfer es wahrhaben wollen. Sie trainieren das Überleben in der echten Natur — nicht der veganen Kitschwelt, in der der Messwert und der Grenzwert das oberste Gesetz sind.
Aber ist das wirklich eine Alternative?
Kann der Mensch überhaupt einfach so ganz natürlich und gut leben? Ist er nicht gezwungen, sich in ihr regelrecht zu behaupten? Ist sie denn diese Mammi, an deren Busen man sich nur zu legen braucht, und schon ist alles wieder gut?
Hier verschwimmen die Linien, die Gedanken, die Erfahrungen …

Ich werde daher der Frage danach, wo die Natur ist, in tagebuchartigen Aufzeichnungen nachgehen. Die Frage nach dem „Wo“ soll den utopischen Charakter unterstreichen, den sie aus meiner Sicht deswegen hat, weil auch sie, wie der Apostel Paulus schrieb (Röm 8,18), ihrer Erlösung harrt:

„18 Denn ich denke, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. 20 Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden - nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin, 21 dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt. 23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft; die Erlösung unseres Leibes.24 Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet worden. Eine Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung. Denn wer hofft, was er sieht?25 Wenn wir aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit Ausharren.

Die Tagebuch-Fragmente erfolgen in loser Folge auf diesem Blog.


Hanna Jüngling, 16. November 2019