Donnerstag, 19. Dezember 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Das runde Quadrat

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Das runde Quadrat

„Leben nach der Natur“ (…) ist nur dann ein Ideal, wenn man nicht sehr viel über die Natur weiß, sie vielleicht aus einer verklärenden urbanen Perspektive sieht.“

Marco Frenschkowski in einem Vortrag 2019[1] 
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Schon die Stoiker stellten fest, dass jede Welt einen Widerspruch in sich trage. Ein Leben nach der Natur stieß sowohl in der Realität als auch in den Gedanken stets auf Grenzen, auf Ungereimtes, Unreimbares.

Wie im vorigen Eintrag schon ausgeführt, war es nicht möglich festzulegen, was denn wirklich „natürlich“ (und darum „gut“) und was unnatürlich (und darum „schlecht“) sei.

Der Mensch erlebt sich als Naturwesen und erleidet genau diese Disposition bis in alle Konsequenzen hinein. Er schwankt hin und her: das Leid, das Unglück, die Krankheit, die Bosheit, den Tod erklärt er sich mal als „natürlich“, mal als „unnatürlich“. Etwa: Krank werde man natürlicherweise oder eben nur dann, wenn man nicht natürlich lebe — aber tausend Einzelfälle zeigen uns, dass dieser schlichte Gedanke nicht richtig sein kann. Und die vielen, die behaupten, der „Tod gehöre zum Leben“ werden dennoch nicht glatt damit fertig, wenn der Tod in ihre Mitte tritt. Sie sagen: Die Trauer gehört auch dazu. Aber wir spüren, dass etwas nicht stimmig ist: der Tod als Verwandlung mag ja zu einer guten Natur gehören, so wie wir es bei gelungener Entfaltung erleben, den Abschieden, die uns auf neue Stufen heben. Wir sehen aber beim Tod nur Kälte, Schmerz und Zerfall und keine „neue Stufe“. Er geschieht nicht positiv, sondern vor den Augen gewaltsam und immer als ein Sichauflösen ins Vage und Nebulöse, ein destruktiver Prozess oder ein Zurücklassen zuvor als höchst wertvoll angesehenen Zustandes. Ob wirklich „die Seele unabhängig vom Körper“ weiterlebt bzw weiterleben kann, hat noch keiner gesehen. Es ist eine blanke Behauptung, die man kritisch sehen kann. Der Leib-Seele-Dualismus wird kaum durch empirische Erfahrung nahegelegt, kann also auch ein falscher Trost, eine Fiktion sein.

In der Natur kommt alles mögliche vor: anything goes.
A und nonA lassen sich natürlicherweise auffinden. Ein „Sittengesetz“ ergibt sich nicht aus der Natur. Alles, was uns „natürlich“ erscheint, kann entzaubert werden. Und nicht selten lernen wir Kulturen kennen, in denen das, was wir als „natürlich“ ansehen, als „unnatürlich“ gilt und umgekehrt. Eine Entscheidung darüber, was davon nun das Gute ist, ist nicht einfach.
Es ist natürlich zu hassen … und zu lieben.
Es ist natürlich zu hegen und zu pflegen … und zu zerstören und zu töten.
Es ist natürlich, nach Macht zu streben … und sich unterzuordnen um anderer willen.
Ähnliche Feststellungen finden wir im Buch Kohelet im Alten Testament.[2]

Zurück bleibt die Flucht in „Naturgesetze“, in das, was sich erfolgreich zu wiederholen scheint, aber meine Skepsis gegenüber diesem Gedanken habe ich bereits formuliert. In der Tat können wir daraus, dass der Stein, den wir fallenlassen, bisher immer nach unten fällt, nicht schließen, dass er morgen auch noch nach unten fallen wird: eben das wissen wir nicht. Wir vermuten es nur aufgrund einer mechanistischen Auffassung der Dinge. In anderen Ländern levitieren sich heilige Männer ohne mechanische Hilfen und fallen nicht zu Boden. Jesus ging über das Wasser. Es ist kein Schwindel, diese Dinge sind vielfach bezeugt worden: in die Naturgesetze passt das jedenfalls nicht hinein, was immer dem zugrunde liegen mag!

Das gesamte „Kontingent“ an Widersprüchen der Natur ist von alters her anwesend, spürbar und bricht wie ein Vulkan mal an dieser, mal an jener Stelle des Weltenberges aus. Es ist nicht „früher“ alles „mehr im Lot gewesen“, weder das Klima noch sonst irgendetwas:

„Doch frag nicht: Wie kommt es, dass die früheren Zeiten besser waren als unsere? Denn deine Frage zeugt nicht von Wissen. (Kohelet 7,19)

Ist also doch alles relativ?

Nun kommt das Aber, das große Aber:

Die Vorstellung vom Guten ist ebenfalls natürlich. Das Gute als ein in sich reines, schlüssiges, eben nicht von Widersprüchen geplagtes Ding. Diese Vollkommenheitsvorstellung geht offenkundig auch aus der Natur hervor, auch wenn sie sie nicht mehr realisieren kann. Wir wissen es, dass diese Natur verrückt ist aus einem vollkommenen Zustand und deshalb dieses irrlichternde „anything goes“ erzeugt. Und wir wissen im Grunde sehr genau, dass Chaos nicht dasselbe ist wie Vielfalt. Wir leben aber in einer Zeit, die durch mutwillige Erzeugung von Chaos suggeriert, es handle sich um Vielfalt und „Buntheit“. Es ist ein Unterschied zwischen der feinen Abgestimmtheit der Farben in der Natur und dem scheckigen Gewand des Schelms, der diese gute Farbigkeit als grelle, aufreizende „Buntheit“ konterkariert und verhöhnt mit dem Ziel, alles am Ende in Graustufen zu bannen.

Immer wieder haben Menschen sich ausgedacht, wie man das offenkundig Verrückte, aus den Fugen Geratene zurechtrücken kann und sind dabei immer gescheitert. Jede Kultur und jede Zivilisation zerbrach am Ende daran, dass der Mensch sich irrte oder beirren ließ über eine behutsam zurechtgerückte Natürlichkeit.

In immer neuen Festlegungen darüber, was „natürlich“ sei und zugleich dem kritisch reflektierten Wahn über die eigene Schuld an der Abweichung der natürlichen Natur von dem Konstrukt, das wir uns von der Natur machen, erliegt der Mensch einem echten Wahn:

Wir leben in einer Zeit, in der Menschen, medial manipuliert, im Hochsommer nachts erwachen und sich darüber wundern, dass es in dieser Jahreszeit heiß ist. Es klingt wie eine Eselei und ist auch eine, aber es ist die Ausgeburt der manipulierten Kultur:
Sie glauben tatsächlich, dass das früher nicht so war und die Hitze des Sommers wie ein Brand über sie kommen wird. Auch wenn fast alle Weihnachten meines Lebens hier am Ort grüne Weihnachten, teilweise bei knapp 20° C waren: der Zeitgenosse glaubt fest und steif, „früher“ seien alle Weihnachten „weiß“ gewesen, weil vielleicht einmal in 30 Jahren wirklich etwas Schnee lag in Karlsruhe oder sie ihren Skiurlaub auf dem Dobel verbracht haben, wo wirklich öfters (aber nicht immer!) Schnee liegt und lag. Weil man es ihnen propagandistisch so unterjubelt, glauben sie es. Im Klartext: sie rennen Fabeln nach und leugnen das, was sie selbst doch so penetrant messbar gemacht haben. Ihre Welt klirrt in Messwerten und Grenzwerten, und doch ignorieren sie am Ende die realen Messwerte, wenn sie dem Messwertideal nicht entsprechen.

Wie kommt es aber, dass sie so total vergessen und sogar leugnen, was jeder knappe Blick in die Quellen uns bezeugt: dass fast jeder Sommer ihres Lebens, auch wenn sie 90 Jahre alt sind, immer irgendwie heiß war, jedenfalls hierzulande, mal sechs Monate lang durchgängig, mal mit kühleren Regenphasen dazwischen? Hat Hölderlin sich geirrt, als er die mediterrane Gegend am Rheingraben (Heidelberg) pries?[3] Und wie das Deutsche Ärzteblatt falschen Meinungen widersprechen musste darüber(4), dass die Malaria nur nach Deutschland „eingeschleppt“ worden sei (denn hier sei es angeblich ja zu kalt für diese tropische Krankheit und ihre Erreger!), sollte man sich in Deutschland historisch kundig machen und realisieren, dass die Malaria eine einheimische Krankheit ist und „Wechselfieber“ genannt wurde. Der tropische Erreger wütete immer wieder im Oberrheinischen Graben, und zwar als einheimischer Erreger (!), also zwischen Basel und Frankfurt, und dies nicht heute, mit dem angeblich so dramatischen Klimawandels, sondern vor Jahrhunderten: Berüchtigt die Malaria in Mannheim im 18. Jh, an der auch Friedrich Schiller erkrankte. Andere Formen des Erregers wüteten immer wieder bis zum 60. Breitengrad, also hoch im Norden bis Oslo und Stockholm.
Die letzten großen Malariaepidemien waren in Deutschland im 20. Jh, und zwar nicht im tiefen, warmen Süden, sondern im hohen Norden in Emden mit nun schon zweifellos gesicherten, im Labor festgestellten Erregern bei Tausenden an Erkrankten.
Wer erliegt nun einem Wahn?

Eines ist aus allem aber klar: mit der „Natur“ kann man so ohne weiteres nicht als moralischem Korrektiv rechnen, nicht einmal als einem Korrektiv, irgendwie „besser“ zu leben.

Es ist krass, dass eine Zeit sich lauthals und penetrant, rücksichtslos und wie in einem Rausch die maximale Distanzierung von jeglicher traditionellen Naturrechtsvorstellung genehmigt und alles für möglich hält, wenn sie es positiv setzt, etwa 60 Geschlechter statt zweier oder "Ehen" zwischen Pferd und Kaiser (das gab es alles schon mal), zugleich aber einen ebenfalls rein positiv gesetzten Naturbegriff politisch ausspielt gegen die Menschheit, der man dogmatisch erklärt, was positiv gesetzt werde, sei die natürliche Natur als ethische, ja geradezu göttliche Instanz, die zugleich aber so schwach und anfällig ist vor der menschlichen Großartigkeit, dass sie durch die (in jedem Fall natürliche!) Entfaltung des Lebendigen (CO2-Ausstoß und Überbevölkerung: beides Themen der Propaganda durch den Club of Rome seit den 70ern) vernichtet werden könne durch unsere Schuld: nostra maxima culpa. 
Auch der Kaiser, der sein Lieblingspferd heiratete, war nicht weit entfernt vom Zusammenbruch seiner Zivilisation. Es wird dennoch weitergehen. 

Hanna Jüngling, 19.12.2019 (Zu Hause im Nebel)


Tagebuchfolgen bisher:

11.12.2019: Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Die Hypotenuse des Mondes





[2] Kohelet 3
[3]Aber schwer in das Tal hing die gigantische,
 Schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund,
Von den Wettern zerrissen;
Doch die ewige Sonne goß