Ist Jesus eine
Erfindung der Flavier? Bemerkungen zu Joseph Atwills Bestseller „Das Messias-Rätsel“
Die Aussagen des Neuen
Testamentes sind — für eine normale antike menschliche Erwartung gesprochen —
so bizarr, dass eine angeblich manipulierende Urheberschaft durch
Machthaber der Spätantike, wie neuerdings durch Autoren wie Joseph Atwill[1] („Cesar’s Messiah“) behauptet wird, schon aus logischen
Gründen abwegig ist.
Die von Jesus und den
Aposteln immer wieder ausgesprochene, eindringliche Warnung vor Verführung
lässt eine plumpe Vereinnahmung durch die weltliche Macht nicht zu, zumal deren
Falschheit deutlich gekennzeichnet wird. Die Beziehung des Gläubigen zu Gott
entzieht sich wegen der direkten und individuellen Geistbeseelung jedem
Herrschaftszugriff und kann ihm auch naturgemäß nicht dienen. Die kryptische
Problematik einiger überlieferter Jesuszitate ist schon für die früheste
Zeit des Christentums belegt und wird von Jesus selbst vorhergesagt (Mk 4,12).
Eine machtpolitisch verwertbare Botschaft geben sie jedenfalls in ihren
Wortlauten objektiv nicht her. Der Jesus, der in den Evangelien gezeichnet
wird, stieß nichts und niemanden mehr vor den Kopf als die Mächtigen, die
Klugen und Weisen, ganz wie es seine Mutter in ihrem Lobgesang formuliert hatte:
„Er stößt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“. Sind das
wirklich die richtigen Parolen für machtgierige Erfinder?
Atwill führt in seinem
Buch die Behauptung aus, die Evangelien seien wahrscheinlich von Flavius
Josephus geschrieben und frei erfunden, stellten aber in Form einer Satire den
siegreichen Titus als Messias dar. Der Auftrag dazu sei von Kaiser Vespasian an
Josephus ergangen. Mithilfe der Messiaslüge sollte das nationalistische
Judentum überlagert und supranational pazifiziert werden. Konsequent durchdacht
hätte Josephus seine Landsleute „verarscht“.
Atwills
„Beweisführung“ ist mehr als grob, weiß nichts von sprachlichen Feinheiten, hat
sichtlich keine Ahnung von den spirituellen Dimensionen des Neuen Testamentes,
sein Denken ist materialistisch ohne Horizont für anderes, ignoriert fast den
gesamten bibelwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Forschungsstand
und stellt wenig plausible Zusammenhänge für denjenigen her, der sich in der
Materie gut auskennt.
Der Erfolg des Buches
lässt sich damit erklären, dass heute nur noch wenige über ausreichende
Fachkenntnisse zu diesen Themen verfügen und anfällig sind für steile Thesen
und „abgefahrene“ Theorien, die das Kind mit dem Bade ausschütten. Die „Methode
der Typologie“, mit der Atwill seine Ideen begründen will, wendet er schlampig
an. Der Wunsch ist allzu oft Vater des Gedankens. Er forscht nicht
ergebnisoffen, sondern ordnet alles seiner von vornherein feststehenden These
nach der Devise „Reim dich, oder ich fress dich“ unter. Die Vielzahl an
Gründen, die seiner These entgegenstehen, umgeht er sorgfältig, indem er sein
schmales „Beweismaterial“ kräftig aufbläst und farbig ausmalt.
Atwills These ist
alleine schon aus chronologischen, historischen Gründen nicht plausibel: Nicht
die Gestalt Jesu, wie sie in den Evangelien beschrieben wird, diente als
Herrschaftsinstrument der Römer, sondern der Prozess der manipulierenden
Dogmatisierung von philosophischen „Glaubenssätzen“, zu deren Bekenntnis man
alle Welt politisch erpressen wollte, ab der „konstantinischen Wende“ im 4. Jh
nach Christus und eine Umorganisation der Gestalt Jesu erfüllt dieses Merkmal.
Bis dahin aber ist jahrhundertelange Unruhe der römischen Regierungen mit den
christlichen Bewegungen in den Quellen überliefert, die bis ins 4. Jh hinein —
handelte es sich, wie Atwill meint, bei der historischen Gestalt Jesu wirklich
um eine Erfindung der Römer zur Pazifizierung jüdischer Aufstandsbewegungen —
vollkommen ihr Ziel verfehlt hätten.
Atwill hält die
Zeitgenossen der Flavier offenbar für vollendete Idioten: warum sollten sie
einer bösartigen Satiregestalt namens Jesus folgen, als wären sie unfähig, eine
Satire zu erkennen und dämlich genug, eine solche für bare Münze zu nehmen? Wo
wäre denn sonst einmal in der römischen Geschichte eine Satire dazu benutzt
worden, eine gerade mal eben frei erfundene globale Religion durchzusetzen? Wie
viele solche Religionen gibt es in der Menschheitsgeschichte?
Und warum haben die
römischen Behörden nicht gewusst, was Christen genau glauben, sie aber als
gefährliche Abweichler angesehen und schon im 1. Jh verfolgt?!
Atwills These zeugt
von einer bodenlosen Arroganz gegenüber früheren Menschengenerationen, als
hätte es ihnen an elementarer Vorsicht und Intelligenz gefehlt. Die jüdischen
Aufstandsbewegungen existierten parallel zu den bereits entstandenen und dem
Judentum entgegenstehenden christlichen Bewegungen. Sie bildeten andererseits
nicht „das“ Judentum ab. In Atwills Gedankenführung entsteht der Eindruck, alle
Juden seien mehr oder weniger Zeloten gewesen, was erst noch zu beweisen wäre.
Warum sollte die römische Macht die jüdischen Rebellionen mithilfe der
Jesusbewegung, der sie in den spezifisch christlichen Thesen entgegenstanden,
bekämpfen? Der Schuss wäre ja nach hinten losgegangen… Die Juden rangen
nachweislich theologisch heftig mit dem jungen Christentum und sorgten selbst
für dessen Verfolgung.
Die flavische
Überlieferung wird außerdem spätestens seit der Reformation aus
literaturwissenschaftlichen Gründen kritisch diskutiert. Heute halten fast alle
christlichen Theologen die Erwähnung Jesu bei Flavius Josephus, die ihn als
Messias bekennt, mit guten Gründen entweder für eine spätere christliche
Einfügung oder Textverfälschung.[2] Die zweite Erwähnung aber ist
unumstritten, in der er die Verurteilung und Hinrichtung des Bruders Jesu, des
Jakobus, erwähnt.[3]
Die häufigere, aber
verstreute Erwähnung Jesu oder der Christen in der antiken Literatur spricht
jedoch nicht dafür, dass es sich um reine Erfindungen handle, zumal die
Christen schon früh, in der Wende zum 2. Jh als eine historische Realität
bezeugt sind. Uns sind zB die Briefe Plinius des Jüngeren (+113 n. Chr.) an
Kaiser Traian überkommen, die sich mit der rechtlichen Einstufung und
Verfolgung der Christen auseinandersetzen, die nicht als willfährige Helfer im
Kampf gegen aufständische Juden, sondern als Misstrauen erregende Problemfälle
erscheinen. Warum Plinius unter Folter zwei Gemeindeleiterinnen überhaupt erst
über die Lehre der Christen befragen muss, um die Gefährlichkeit dieser Sekte
besser einschätzen zu können, wird mit Atwills Behauptungen vollends absurd:
als Justizorgan der römischen Staatsmacht hätte Plinius sehr genau wissen
müssen, was diese Christen glauben, wenn deren Glauben eine flavische Erfindung
gewesen wäre. Immerhin überlagert sich die Lebenszeit des jüngeren Plinius mit
der der Flavier. Wackere Jesus-Leugner zweifeln heute alle antiken Erwähnungen
Jesu oder der Christen an. Das lässt sich mE nicht halten.
Im Falle der
Pliniusbriefe etwa sprechen mehrere Dinge inhaltlich gegen eine Fälschung. Er
beschreibt, was die Gefolterten ihm über Jesus sagen, und man hat durchaus den
Eindruck, dass er vorher nicht wusste, wer dieser Jesus war und warum er
verehrt werden sollte, nachdem er es erfahren hatte, aber Entwarnung an den
Kaiser gab — es handele sich um Leute voller Aberglauben, aber sie tun nichts
Kriminelles. Warum sollte die Kirche so etwas Jahrhunderte später fälschen? Die
Verfolgung wurde danach nicht aufgegeben, aber abgemildert. Plinius berichtet
von der Schwierigkeit, dass nicht alle, die sich Christen nennen oder einmal
Christen waren, über dieselben Glaubensinhalte verbunden sind. Auch das wirkt
authentisch und wahrscheinlich. Ihm ging es zentral darum, überhaupt erst
einmal zu klären, wer nun eigentlich Christ ist.[4] Ein
Umstand aber, der seine Briefe als absolut glaubwürdig erscheinen lässt ist die
Tatsache, dass er zwei „ministrae“ unter Folter verhört. Ein „minister“ im Lateinischen ist dasselbe wie ein „diakonos“. Immer wieder bestritt die Kirche, dass
die Erwähnung des weiblichen „diakonos“ Phoebe, den Paulus am Ende seines
Briefes an die Römer empfiehlt, eine amtliche Bezeichnung gewesen sei, um
leugnen zu können, dass Frauen führende Positionen in frühen Gemeinden haben
konnten. Nun nennt Paulus diese Frau aber als „diakonos“ der Gemeinde in Kenchreä. Auch Plinius
schreibt selbstverständlich davon, dass es solche „Diakoninnen“ gegeben habe.
Es ergibt wenig Sinn zu sagen, das seien unbedeutende Mitglieder einer
christlichen Gruppe gewesen, die halt irgendwelche Dienste getan haben,
Hauptsache man gibt nicht zu, dass sie Leitungsfunktionen gehabt haben dürften.
Plinius schreibt, sie seien von den anderen Christen „ministrae“ genannt worden, was sogar stark auf
ein Amt hinweist. Da er Informationen über das Innenleben der Gemeinden suchte,
ist anzunehmen, dass er Personen verhörte, die auch in Fragen der Lehre
aussagefähig waren — zwei führende Frauen. Das war in der römischen Antike, die
Frauen für nicht testierfähig ansah, absolut ungewöhnlich und ein Ärgernis für
all jene, die bis heute behaupten, Frauen dürften nicht lehren oder
führen.
Plinius kann den
Intentionen der späteren Kirche gerade deswegen überhaupt nicht gefallen, weil er so ausdrücklich
weibliche Führungspersonen benennt und bezeugt. Wenn die Kirche seine Briefe
gefälscht hätte, hätte sie aus diesen beiden „ministrae“ wohl eher „ministres“ gemacht, wie sie dies später mit der "apostola" Junia gemacht hat, die im Mittelalter
kurzerhand in einen männlichen Apostel namens Junias umgefälscht wurde, obwohl
es nirgends ein Zeugnis für den Namen "Junias", dafür aber hunderte
von antiken Zeugnissen für den Frauennamen "Junia" gibt (Röm 16,7)[5]… Jedenfalls spricht gerade
dieses beiläufige und zufällige Zeugnis für die führende Rolle der Frau in der
frühen Kirche, eine Tatsache, die die nachkonstantinische Kirche erstickt hat,
für die Echtheit des Pliniusbriefes.
Es sollte aus mS nicht
übersehen werden, dass der entscheidende antike Vorwurf gegen die frühen
Christen der war, sie seien „Atheisten“ („atheoi“),
weil sie kultische Handlungen vermissen ließen und ihren Glauben nicht zum
Gegenstand öffentlicher, aber auch nicht mysteriöser (an Mysterienkulten
orientierten) und staatstreuer Zelebration machten. Die Verbindung von Staat
und Religion lehnten sie gerade ab. Ihr Gott war eben kein Gott irgendeiner
irdischen Macht, kein Stadtgott, kein Volksgott, sondern ein Vater seiner
Kinder, die als „Freie“ aus den Verbänden herausgelöst wurden, die sie
umklammerten![6][5] Diese
Zeichnung Gottes als „Papa“ („abba“) hatte es so niemals zuvor gegeben und
musste dem antiken Menschen entweder als mangelnde Ehrerbietigkeit oder als
Ärgernis und Torheit erscheinen. Keine andere Göttergestalt der damaligen Zeit
trägt solche Züge.
Atwill versäumt eine
differenzierte Auseinandersetzung mit der vorkonstantinischen Realität in den
Quellen und nimmt eine Rückprojektion der Motive nach dem Jahr 325 (Konzil von Nicäa) auf
die Zeit davor vor, was ihm freilich durch die
tradierte katholische Geschichtspropaganda nahegelegt wird. Sie suggeriert, die
Konzilien hätten nur das festgelegt, was ohnehin immer schon geglaubt worden
sei.
Vor 100 Jahren
stellten uns ausgezeichnete Studien historisch-kritischer Forschung ganz andere
Szenarien vor Augen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Studie des
gelehrten Rabbiners Leopold Lucas verweisen, der das Verhältnis von Juden und
Christen im 4. Jh aufgrund zahlreicher zeitgenössischer Quellen sehr gut
belegte.
Demnach kann man erst
nach Konstantin davon sprechen, dass das Christentum eine Funktion römischen
Machtwillens geworden war, zu dem sich das entstehende Judentum schon etwas
früher angedient hatte.[7] Um
die Gruppe der renitenten (nicht aller!) Juden zur Zeit Jesu und kurz danach zu
pazifizieren bedurfte es — nach den historischen Quellen — also keineswegs der
Erfindung des Christentums. Einige Juden kollaborierten mit dem römischen
Staat, lange bevor es die Christen taten. Anklänge daran sind in der Schrift
des Flavius Josephus „Über die
Ursprünglichkeit des Judentums“, später auch unter dem Titel „Gegen Apion“ geführt, herauszuhören, wo nicht etwa
das Christentum angepriesen, sondern das Judentum verteidigt wird. Auf die
Forschungen Lucas’ greift der aktuell bekannteste deutsche Judaist Peter
Schäfer zurück, der den Sachverhalt ebenfalls in den kleinen Bändchen „Die Geburt des Judentums
aus dem Geist des Christentums“ und „Anziehung und Abstoßung“ ins Licht hebt.[8] Hier
wird die These vertreten, dass das, was wir heute unter „Judentum“
verstehen, sich im Ringen mit dem frühen Christentum im Laufe der ersten
christlichen Jahrhunderte entwickelte. Schäfer zeigt aber auch, dass dieses
Ringen keine Einbahnstraße war und im Prozess der Loslösung des Christentums
aus dem Glauben Israels in einer komplizierten geistigen Bewegung geschah. Die
theologischen Gegenstände der Auseinandersetzungen liegen weitab von politisch
verwertbaren Themen. Es ist eine Beleidigung der Israeliten, wenn man implizit
unterstellt — und Atwill tut dies — , sie seien zu dumm gewesen, den römischen
„Fake“ zu durchschauen. Kein gebildeter Jude hätte mit einem römischen
Messias-Fake theologisch "gerungen". Alleine schon dieses
Szenario ist vollkommen abwegig. Die Thesen Leopold Lucas’ und Peter Schäfers,
die — anders als das grobschlächtige Fabulieren eines Joseph Atwill und
ähnlicher Autoren — eine eingehende und tiefgehende, wissenschaftlich fundierte
Quellenarbeit liefern, zeigen eindeutig, dass dieses theologische Ringen nach
der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 stattgefunden hat. Das Judentum konnte
durch Absetzung vom jungen Christentum den Römern sogar eher zeigen, dass es
integrationsfähig war. Auch diese Folgerung aus den Thesen Schäfers führen
Atwills Behauptungen ad absurdum.
Die katholische Kirche
behauptet, sie setze den frühchristlichen Glauben und die Zeugenschaft der
Jünger, die um Jesus waren, sinngemäß und ohne Bruch fort („apostolische Sukzession“).
Atwill nimmt dies unbesehen an und schließt daraus, dass die Flavier Jesus
erfunden haben müssen, um mithilfe ihrer Erfindung eines willfährigen,
pazifistischen Heilsbringers die „pax
romana“ bei den Juden zu
stiften und zu stabilisieren. Dass dies historisch äußerst fragwürdig sein
dürfte, habe ich dargelegt.
Seine Deutungen
einzelner literarischer Episoden sind mE — wenn man methodisch
literaturwissenschaftlich einigermaßen sauber argumentieren will — auf dünnem
Eis aufgebaut, seine Deutung des neuen Testamentes als einer „Satire“, die den
Flavier Titus, den Sieger über die Juden, als Messias Jesus, als pazifistischen
Mann ohne jedes Rebellentum vorführe, ist literarisch willkürlich und nicht
ausreichend begründet. Warum sollten Menschen einen heidnischen Kriegsherrn als
israelitischen „Messias“ anerkennen, der doch aus dem Stamm Davids kommen
sollte? Und warum glaubt Atwill, sollte Titus in einer Satire als völlig
geschwächter Jesus gezeigt werden? Das ist bei genauerem Durchdenken vollkommen
abstrus. Vollends abwegig erscheint Atwills These, wenn man bedenkt, dass die
ersten Apostel Jesu, Petrus und Paulus, in schwere Konflikte mit der römischen
Staatsmacht gerieten und, wie Jesus selbst, von derselben als Rebellen und
Aufrührer hingerichtet wurden. Dass dies geschehen ist, ist gut belegt. Wo also
der angeblich erfundene Jesus hier zu einer „Pazifizierung“ rebellischer Juden
beigetragen haben soll, erschließt sich aus den historischen Quellen
nicht.
Es existiert eine
Debatte darüber, ob diese frühen Quellen überhaupt echt seien oder nicht eher
spätere Interpolationen aus christlicher Hand. Die Vertreter der Meinung, Jesus
habe nie existiert, Petrus und Paulus seien ebenfalls erfundene Figuren, können
ihre Ansicht nicht wirklich begründen. Immerhin gibt es diese frühen Zeugnisse
über Jesus und seine Anhänger zerstreut und zufällig in verschiedenen antiken
Texten. Es ist willkürlich, nun zu unterstellen, alle diese Erwähnungen seien
samt und sonders erdichtet und in all diese verschiedenen Texte gezielt
hineingemogelt worden. Als ordentlicher Geisteswissenschaftler stellt man
derart plumpe Behauptungen nicht auf. Falls aber doch, müsste man die
Behauptungen zweifelsfrei und sehr gut begründen können. Davon kann keine Rede
sein.
Anders ist die
Sachlage im Islam, in dem überhaupt keine zeitnahen und vor allem keinerlei
kritische Quellen über die Existenz des Propheten vorliegen. Die gesamte
Überlieferung setzt dort erst 200 Jahre später ein, und es gibt überhaupt gar kein Zeugnis darüber in anderen Quellen.
Das ist eine tatsächlich andere Problemlage aus einer wissenschaftlichen Sicht.
Die Gestalt Jesu wird
in den Evangelien zu bizarr gezeichnet, sie stößt zu sehr jede Messiaserwartung
vor den Kopf — ein Umstand, der auch im neuen Testament bereits ausgedrückt und
diskutiert wird. Hätte man einen Messias erfinden wollen, wäre es sicher
schlauer gewesen, ihn „passgenauer“ und heldenhafter zur jüdischen und
überhaupt menschlichen Erwartung zu zeichnen. Bis heute stößt dieser Jesus
wegen seiner mangelnden maskulinen Stärke und seiner überraschenden und
ärgerlichen Andersheit viele Menschen ab: sie brauchen Helden, Weltverbesserer,
keine „Loser“.
Die kanonischen Texte
sind nicht „glatt“. Wir finden Widersprüchliches, verschiedene Versionen
derselben Ereignisse und zahlreiche Anspielungen auf alttestamentliche, aber
auch andere Überlieferungen. Vieles liegt im Dunkeln, vieles ist sehr schwer
verständlich. Es ist unwahrscheinlich, dass die frühen Christen, die diese
Texte so oder so ähnlich tradierten, das nicht bemerkt haben sollten. Es sollte
hier ganz offenkundig das zusammengestellt werden, was einigermaßen authentisch
von Jesus zeugt, auch wenn es nicht widerspruchsfrei in den Einzelheiten und
Abfolgen der Ereignisse war. Alleine dieser Umstand macht das Zeugnis der
Evangelien … glaubwürdig.
Wie in einem Gerichtsverfahren decken sich nicht alle Zeugnisse exakt, stimmen
aber in der großen Linie doch im Hinblick auf das Ergebnis zusammen. Das und
nur das ist echt und menschlich. Das materialistische Verständnis von der
Irrtumsfreiheit der Schrift, wie es in manchen fundamentalistischen Kreisen mit
der Neuzeit vertreten wird, wollte die Glaubwürdigkeit der Schrift "retten",
hat dem Glauben der Christen letztendlich aber einen Bärendienst erwiesen.
Jeder kann nun ganz leicht die so menschliche und glaubwürdige, zeugnishafte
Unebenheit aufspießen und damit beweisen, dass "alles erstunken und
erlogen" sein muss.
Fragen wir anders angesichts
der Tatsache, dass nicht jeden Tag mal eben kurz eine Weltreligion geboren
wird:
Wo ist schon einmal
eine solche Gestalt nachweislich
erfunden worden, die es
schaffte, die Herzen zu gewinnen, als sei sie real? Wo konnte man mithilfe
einer bloßen Legende eine so starke geistige und spirituelle Bewegung in den
Köpfen für Jahrtausende auslösen? Wo entfachte ein einfaches Märchen schon
einmal solch gewaltige Kulturleistungen wie im Falle der Gestalt Jesu? Wo
wurden schon einmal bis heute so viele gelehrte Arbeiten über eine rein
erfundene Gestalt geschrieben?
Ebenfalls muss gefragt
werden, warum es eine Gestalt wie Jesus nun unbedingt nicht gegeben haben soll? Selbst wenn die
eine oder andere Episode eine Erfindung oder ungenaue Erinnerung an ihn sein
sollte, ist das kein ausreichendes Argument gegen seine historische Existenz.
Was spricht denn grundsätzlich dagegen, dass es ihn gegeben hat, eine kleine
Gruppe von Anhängern und Jüngern die Nachrichten über ihn in einer Welt vor
allem mündlicher Weitergabe schließlich verschriftlichten, damit sie nach ihrem
Tod nicht vergessen oder verzerrt würden? Ist das wirklich so unwahrscheinlich?
Und auch hier spricht die Unebenheit der Übereinstimmung in den
Evangelienberichten dafür, dass man festhalten wollte, was man noch festhalten
konnte, bevor es im Nebel der Geschichte verdampft, damit es nicht verloren
geht, auch dann, wenn nicht alle Details übereinstimmten.
Unwahrscheinlich ist
vielmehr ein erfundener Meister mit den Merkmalen Jesu — genau daran nahmen viele
Anstoß, nicht zuletzt der Islam, der mit diesem Kreuzesmann, der nicht
herrschen wollte, überhaupt nicht zurecht kommt, weil er, wie der Mensch
normalerweise denkt, unter einem Gottgesandten einen Gewinner, einen Herrscher
und Gewaltigen versteht in den Kategorien dieses „kosmos“. Aber auch die Kirche
kam damit schwer zurecht und bildete die Trinitätslehre aus, um den
vermeintlich „schwachen“ Jesus aufzuwerten und in der Kontrastierung des wahren
Gottes und Menschen letztendlich doch seine große Qualität zu „beweisen“. Nun
sagt aber das Neue Testament nicht dies, sondern es sagt uns, dass dieser Sohn
Gottes das vollkommene Abbild des unsichtbaren Gottes sei. Dieser Gedanke ist
so unglaublich wie er unerträglich ist für den stolzen Menschengeist: Gott, von
dem alle Dinge kommen und ohne dessen schöpferisches Wort nichts ist, hat
keinen Herrscherimpetus gezeigt, sondern den eines Dieners, der nur von dem
erkannt wird, der ihm sein Herz „opfert“…
Die behauptete
„Pazifizierung“ der renitenten Juden um die Zeitenwende jedenfalls ist — als
Umwandlung einer anstößigen Bewegung, die nichts und niemanden „pazifiziert“
hat, in eine Staatsreligion — definitiv erst im 4. Jh, mit der konstantinischen
Wende, zu verzeichnen, führt also wieder zu meiner Ausgangsthese, dass Atwill
den Übergang zum Staatskirchentum im 4. Jh ohne jeden stichhaltigen Beleg mit
phantastisch aufgebauschten, aber sachlich verworrenen Gründen um 300 Jahre
vorverlegt. In einer verschwörerischen und total
geheimen Aktion hätte man das
Christentum erfunden und unters Volk gebracht, das nichts gemerkt haben soll
und brav gläubig wurde wie vorhergesehen, dafür verfolgt und hingerichtet wurde
(?!) und alle außerchristlichen Zeugnisse für die
Existenz Jesu Christi und der Christen seien Fälschungen — wenn das nicht eine
ausgewachsene „Verschwörungstheorie“ ist…
[1] Deutsch erschien dieses Buch, das im Original 2005
herauskam, unter dem Titel: Joseph Atwill: Das Messias-Rätsel. Die Geheimsache
Jesus, Berlin 2008
[2] Die Überlieferungsproblematik wird auf Wikipedia sachlich
gut beschrieben: https://de.wikipedia.org/wiki/Au%C3%9Ferchristliche_antike_Quellen_zu_Jesus_von_Nazaret
[3] „Er versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte
vor diesen den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus,
sowie noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur
Steinigung führen ließ" (Antiquitates,
Buch XX). Zitiert nach: Tobias Glenz: Lebte Jesus wirklich — oder behauptet das
nur die Bibel? 4.6.2018 auf https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/lebte-jesus-wirklich-oder-behauptet-das-nur-die-bibel
[4] Plinius an Traian,
Brief 10,96. https://www.uni-due.de/~gev020/courses/course-stuff/pliniusjun.htm
[6] Der Begriff er „ecclesia“ meint in antiker Sprache keine
„Kirche“, auch keine „Gemeinden“, sondern eine „Sammlung der Freien“,
ursprünglich die Freien einer Polis. Die christliche Polis ist ursprünglich
eine himmlische Stadt der nachäonischen Zukunft (vgl. Gal 4).
[7] Leopold Lucas: Zur Geschichte der Juden im vierten
Jahrhundert. Der Kampf zwischen Christentum und Judentum. Hildesheim 1985.
Nachdruck der Ausgabe Berlin 1910.
[8] Peter Schäfer: Die
Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur
Entstehung des rabbinischen Judentums. Tübingen 2010; ders.: Anziehung und
Abstoßung : Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten ihrer Begegnung.
Tübingen 2015
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