Wo ist die Natur? —
Tagebuch einer Suche: Augustinus oder Von der Unmöglichkeit eines Schlusses
„So dachte ich auch von dir, du meines Lebens Leben, du
durchdringest als eine Größe die ganze Weltmasse durch gränzenlose Räume, und
ragest gränzenlos, unendlich über sie hinaus, so daß dich Erde, Himmel und
Alles habe und in dir begränzt sei, während du es nirgends seiest. Wie dem
Sonnenlichte die, obgleich körperliche Lust, die über der Erde ist, nicht
hindernd entgegensteht, so daß es sie nicht durchdringen und durchschneiden
könnte – wie es sie ganz erfüllt, so glaubte ich auch von dir, es sei dir nicht
nur Aether, Luft und Wasser zugänglich, sondern selbst die feste,
undurchsichtige Erde. In allen ihren größten und kleinsten Theilen sei sie
durchdringbar, um deine Gegenwart zu erfassen, der du innerlich und äußerlich
alles was du erschufest, geheimnißvoll durchwehest. So vermuthete ich, weil ich
mir es nicht anders zu denken vermochte. Aber ich irrte, denn nach dieser
Vorstellung besäße ein größeres Geschöpf einen größern, ein kleineres einen
kleineren Theil von dir und Alles wäre voll von dir dergestalt, daß der
Elephant um so mehr von dir enthielte, als der Sperling, um wie viel er größer
ist als dieser; und so würdest du stückweise dich den Einzelnwesen der Welt
vergegenwärtigen und hätten die großen große, die
kleinen kleine Theile von dir inne. Aber so bist du nicht! Und noch hattest du
meine Finsternisse nicht erhellt.“[1]
Von der
Unmöglichkeit eines Schlusses
Gott in der
Natur und außerhalb ihrer — das sind Hilfssätze für etwas, das man nicht denken
kann.
Ist Gott
manifest in der Natur, muss sie unendlich sein, weil er unendlich und
unbegrenzt ist. Geht er über sie hinaus, muss irgendwo eine Bruchstelle sein:
ab da hört die Natur auf, ab hier beginnen die Gefilde Gottes, gewissermaßen
wie eine sich ausdünnende Atmosphäre der Natur, die sich im „Vakuum“, in einer
Gegend verliert, die atemlos ist. In diesem Fall wäre zu unterscheiden zwischen
einer wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Natur oder aber einer Natur, die
einen Zaun um sich herum hat in ihrer Begrenztheit. Im Außen wäre Gott, im
Innen irgendwie auch. Da Gott immer derselbe ist, müsste sein unsichtbares Sein
auch in der Natur unsichtbar sein. Aber dann könnte man die Natur auch „etsi
Deus non daretur“ denken. Nur: wenn man sie so denkt, gibt es sie dann
überhaupt? Von Nichts kommt bekanntlich nichts und nicht etwas …
Der Garten
Eden hatte Grenzen. Er galt als Paradies. In ihm war es „himmlisch“, in ihm war
die Natur vollkommen.
Aber ist das
wahr?
In welches
Außen konnten die Menschen dann vertrieben, hinausgeworfen werden?
Gehört es auch
noch zur Natur?
Und dieses
Außen — wo endet es?
Und warum
wollten sich die Menschen in der Stadt Babel konzentrieren?
Warum wollten
sie sich nicht verteilen auf der Erde?
Hatten sie
Angst vor der Unendlichkeit?
Oder vor dem
Zerstreutsein?
Vor dem
Verlust des Ganzen?
Was aber war
dann das Ganze?
Augustinus
unterscheidet leider nicht Quantität und Qualität in seiner Überlegung. Ein
Elefant voller Gott ist wegen seiner Ausdehnung nicht mehr als eine Ameise
voller Gott. Gott ist immer Gott, es gibt ihn nicht groß und klein.
Elefant und
Ameise sind voller Gott gleich.
War er
wirklich so vernebelt vom spätantiken, hellenistischen, in seinem Falle dann
neuplatonischen Wahn, der mit finsterer Besessenheit alles in Rangstufen
geordnet sehen will, dass er diese einfache Erkenntnis nicht mehr erreichen
konnte?
Wir wissen so
wenig, so unendlich wenig, je mehr wir wissen!
Und der Fragen
werden immer mehr …
Etwa: Ist die
physische Erscheinung des auferweckten Jesus nur der Situation seiner Jünger
geschuldet, die noch „im Leib“ waren, in Wahrheit sei der Auferstehungsleib
aber ein reiner Geist?
Oder ist die
Physis des Menschen so zentral für ihn, dass der Mensch ohne Physis nicht
denkbar ist? Manche sagen: Jesus sagte, im Himmel seien wir wie die Engel, also
nicht-leiblich. Aber wissen wir das so sicher? Wenn der Mensch physisch „als
Mann und Frau“ (und das garantiert, dass er leiblich ist), als dieses leibliche
Wesen „in der Gestalt Gottes“, sein „Abbild“ ist: wird das dann einfach
weggekürzt im Himmel? Erlaubt es uns zu behaupten, Gott könne in keiner Weise
Urbild dieser Physis sein?
Wie überlagern
sich die schon angebrochene „basileia theou“, das Königreich Gottes, das nicht
von diesem „kosmos“, diesem System ist und kein leid mehr kennen wird, und die
Natur, die wir kennen, in der auch das Böse wirkt, woher immer es kommt und was
immer es ist? Es konnte ja bereits in der guten Natur in Eden ungehindert
wirken…?
Und was ist mit
diesen 1000 Friedensjahren? Was mit dem von den Propheten angekündigten
Friedensreich, das als irdisches, natürliches Reich gezeichnet wird, nur ohne
Leid und Tod und Gewalt? Liegt es als Zwischenstufe vor einem reinen
Geistreich, oder ist es etwas anderes? Oder war es auch den biblischen
Propheten unmöglich, das in Worte zu fassen, worauf wir zugehen?
Fragen über
Fragen, und niemand soll sich anmaßen, einfach so von der Natur zu sprechen als
wüsste er, wo sie ist und wie sie sein soll!
Hanna Jüngling,
25.12.2019 (Weihnachten)
Tagebuchfolgen bisher:
21.11.2019: Wo
ist die Natur? – Tagebuch einer Suche: Morgendämmerung, später November
24.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.
24.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.
27.11.2019: Wo
ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Schuhwerk, Urbane Schönheit und der
Wahnland-Code
24.12.2019: Wo ist die Natur? — Tagebucheiner Suche: Etsi Deus non daretur oder Deus sive natura. Oder beides nicht?
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