Sonntag, 10. März 2024

Definitionswut und Tucholskys Traktat über den Hund von 1929

Der Traktat über den Hund (1929)  von Kurt Tucholsky führt uns die Definitionswut unserer Tage infolge einer unseligen abendländischen Tradition vor Augen:

Wir definieren alles, dies aber in höchstem Maße phantastisch und mithilfe falscher Zuordnungen, bornierter Annahmen und massenhafter Fehlschlüsse. Nur so konnten wir in einer Welt landen, in der Viren unser Intimfeind sein können, die von Mensch zu Mensch hüpfen wie Klabautermänner, und für alles Böse in der Welt ein einziger Mann dingfest gemacht werden kann, nämlich Herr P aus Russland, der auch dann schuld ist, wenn das Verschuldete natürlichen oder anderen Ursprungs ist wie der Tod eines weit entfernt von ihm lebenden unbedeutenden Mannes wie Herr N.

Im letzten Ende wirft die Definition auf den, der definiert, ein schräges Licht und offenbart ihn uns in seiner ganzen erbärmlichen Bemächtigungswut gegenüber der Wirklichkeit, die sich ihm - beständig wirkend und lebendig - entzieht wie ein Eichhörnchen. Und das größte Ärgernis in diesem Spiel sind all jene, die in seliger Unschuld umherwandeln zwischen den Viren und Herren und ein lebendiger Beweis der wirklichen wirkenden Wirklichkeit sind, in der weder Viren noch Herren etwas vermögen. Man kann sie nur als Ketzer ("Leugner") brandmarken, ohne weiteres Argument und blindwütig, mehr bleibt nicht.

Übrigens: Woher kommt eigentlich das Wort "Definition"?

Es kommt von lat. "definire". De-finire. Man sagt, das hieße "abgrenzen". Es ist ein bisschen eigentümlich mit diesem Präfix "de-". Mal kann es dies, mal das Gegenteil bedeuten. Also: eine De-floration ist die Ent-jungferung. Die Intaktheit der Jungfrau wird entfernt sozusagen. Aber die De-pression meint, dass man die Bedrücktheit - ja was eigentlich? Dass man sie verstärkt? Oder überhaupt erst herabbringt auf den Aufrechten und Freien?

Dieses verteufelte Präfix hat also zwei Richtungen:

1. dass man etwas wegnimmt von etw/jdm wie bei der Ent-Jungferung, oder bei der De-Konstruktion, da nimmt man dem Konstrukt seine Ordnungen, man entzieht etwas, zerstört etwas.

2. dass man etwas dazugibt wie bei der De-Pression. Es wird ein Druck dazugegeben.

ad 2.

Aber stimmt das etymologisch denn wirklich? Geben wir einem mit einer de-pressio wirklich einen Druck hinzu, der vorher nicht da war? Setzen wir mit einer de-finitio eine Grenze, die vorher nicht da war?

Ich empfinde in diesen Begriffen durchaus auch eine Ent-Gestalt, dass etwas genommen wird, nicht nur (dazu-)gegeben.

Ein gesunder, ausgeglichener Druck iS der Druckverhältnisse wird genommen, und dadurch entsteht ein Überdruck für den Deprimierten.
Die natürlichen und ausgewogenen Unterscheidungen, die wir leicht erkennen können sollten, wenn wir in hoher Sprache wären, werden entfernt und ersetzt durch künstliche Grenzziehungen. Ein Mann ist keine Frau und eine Frau ist kein Mann. Das ergibt sich ausgewogen von selbst, genau festzurren kann man es bekanntlich nicht. Nun fangen wir an zu definieren, zu ent-grenzen. Um damit zu leben, müssen wir neue Grenzen setzen, die enger sein müssen, weil sie ständig "umzingelt werden von Wirklichkeit". Unser Habeck hat ungewollt ausgesprochen, was dem Definiteur geschieht, unweigerlich geschieht. Er verstrickt sich in seinen eigenen Truggespinsten, und die Wirklichkeit rückt ihm täglich, stündlich auf den Leib wie ein Feind. So einer glaubt, man könne den Bankrott einer Firma dadurch vermeiden, dass man einfach aufhört zu produzieren.

Warum definieren wir unentwegt und schaffen damit verengte Dogmen in einer Wirklichkeit, die doch lebendig und bewegt ist und jede Definition immer schon überholt hat, bevor sie ausgesprochen wurde?

Aber wohlgemerkt: ich rede nicht der Vagheit das Wort, sondern der Intuition für die gesetzten, gegebenen Grenzen, die man leicht erkennt, wenn man ihnen gelassen begegnet. Durch Ent-Grenzung der gegebenen Unterscheidungen (de-finitio) werde ich es niemals schaffen, irgendetwas einzufangen oder ab-zu-grenzen. Ich schaffe nur Trugwelten, die dem Herzen ewig fremdbleiben müssen.

Daher ist immer wieder zu fragen, wieso die Kirche glaubte, den lebendigen Geist Gottes definieren zu müssen und Lehrsätze aufstellen zu müssen (Dogmen), die sich wie eiserne Höllentore vor das wirkliche Wirken Gottes schoben, wie der Stein vor das Grab Jesu. Man hat die Gläubigen in diesem Grab eingesperrt und lässt sie dort bei Popanz und Kerzenschein Rosenkränze beten und bläst ihnen ein, das seien halt "Mysterien", die der Verstand nun mal nicht erkennen könne. Glauben tut von den so Inhaftierten keiner auch nur, was unter den Fingernagel geht. Sie treten geistlich auf der Stelle. Nicht besser sieht es mit con-fessiones und anderen De-Finitionen aus, Entgrenzungen hinein in die Sklaverei überbordender Re-finitionen (Wieder-Begrenzungen), die als Trugbild der Wirklichkeit entgegengesetzt werden.

Aus dieser kirchlichen Tradition stammt das gesamte abendländische Dilemma, hat die Wissenschaft besetzt und den Geist getötet. Die freie Geisteswissenschaft ist verunmöglicht worden, dafür alles, was mit starren Apparaten, Mechanik und Funktionalismus zu tun hat, als idealistisch aufgefasstes Dogma in die Köpfe gesetzt worden.

Auch die neueren Hoffnungsträger wie die Quantenphysik, die Morphogenetik und fast alles esoterische Denken folgen dieser Entgrenzung mit anschließender Re-Grenzung. Das "Spirituelle" ist einfach nur die paranormale Fortsetzung der empirischen Magie und Technik.

Und so sehen wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, weder im geistlichen noch im weltlichen Bereich, und beides kann man sowieso nicht trennen. Wir irren in unserem vorwiegend medial erschaffenen und wahrgenommenen Wirklichkeitsmuckefuck herum und beugen das Knie vor lächerlichen Mysterien, denen wir das Opfer unseres gesunden Verstandes darbringen und glauben, dafür beim lieben Gott oder den "Eliten" einen Erlösungsbonus zu erhalten. Die Befreiung von Gottes  guten Gaben zugunsten der Lügen und Truggespinste, die wir der kritischen Überprüfung entziehen, indem wir sie mit Unantastbarkeit, Unbedenkbarkeit und Gloriole versehen, also einem klassischen Tabu, hat uns in ewige, sprachlose Sklaverei gestürzt, und das bei inflationärem, klassisch predigendem, (post-)modern digitalisiertem Gequatsche in rudimentären "Sätzen" von Experten mit missio idiotica, Checkern und Besserwissern, die sich sprachlich auf dem Niveau von Primaten bewegen und jeden Text, der länger ist als eine halbe Seite, nicht mehr verstehen, das Problem aber notorisch bei dem sehen, der längere Gedankengänge unbegleitet und souverän denkt ...

Kommen die Gedanken erst einmal in Fluss, könnten sie der wirkenden Wirklichkeit begegnen, und das war und ist der Feind der Trugwelten, auf denen alle Macht und Herrschaft fußt: ein haltloses Gemisch aus Ton und Eisen, von dem wir im Buch Daniel lesen.


Tucholskys Traktat: https://de.wikisource.org/wiki/Traktat_%C3%BCber_den_Hund,_sowie_%C3%BCber_Lerm_und_Ger%C3%A4usch

1 Kommentar:

  1. Chapeau, ganz hervorragend!
    Die Welt irrt so und so. Denke ich an die Kirche, so fällt die Schwierigkeit der Unterscheidung auf: Formfindung als Ausdruck der Wahrheit und deren Überstülpung als Definition.
    Letztgültiges und Letztentscheidungsmonopol sind Werkzeuge geworden von Herrschaft. Auch Franzl auf dem Papstthron ist getrieben von dem Duktus, das Eigene zu überhöhen und zum Befehl zu machen. So sehr es darauf ankommt, fühlend zu denken: Induktive Logik ist gerade keine. Alles ist aus Gott, aus Seinem Dasein verstehbar. Die Demut fährt das Dogma zurück, ganz ohne Depression.

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