Dienstag, 7. Juni 2016

Franziskus alleine im Irrgarten



Die aktuelle Debatte um die seltsam indifferente Haltung des Papstes und der deutschen Bischöfe gegenüber der Tatsache, dass islamische Aggressivität in der ganzen Welt eine zunehmende Bedrohung für viele, ganz besonders für Christen ist, offenbart ein lange gehegtes und gepflegtes philosophisches Defizit. Die große Empörung, die seit einiger Zeit durch die katholischen Medien flutet, ist verständlich, aber ihrerseits oberflächlich. Und Franziskus hat sich, wie so oft, mal wieder unklar oder einfach viel zu knapp ausgedrückt - vorausgesetzt, er wollte etwas Bedeutsames sagen...

Jedes politische und religiöse Denkgebäude ist um Geschlossenheit bemüht. Es soll in der Lage sein, das gesamte Bedürfnis einer Gemeinschaft und des Einzelnen nach einem geordneten Leben und einem Weg zum himmlischen Ziel zu erfüllen.
Anders gesagt: wer von etwas überzeugt ist, kann nicht zugleich dem Widerspruch zu dieser Überzeugung ein gleiches Recht im Anspruch auf die Wahrheit zubilligen.

Jede Religion muss einen Alleingeltungsanspruch behaupten, denn andernfalls gäbe es keinen Grund, ihr zu folgen. Nun sind Religionen aber nicht vom Himmel gefallen und meinen auch nicht alle „dasselbe“, wie man es aus unbedarften Mündern wie einen cantus firmus der Oberflächlichkeit hören kann. Alleine die Tatsache, dass sich Religionen oder Konfessionen voneinander abgespalten haben, sollte uns doch zeigen, dass sie definitiv nicht alle „dasselbe“ meinen. Denn hätten sie das getan, wären sie nie auseinandergedriftet. Viele glauben ernsthaft, ihr persönliches Desinteresse an der Religion bilde den einzig möglichen Herzenszustand der Menschheit zum Thema Religion ab. Sie belächeln solche Eiferer, die eine Religionsspaltung verursachen, sind doch deren Fragen aus ihrer Sicht unbedeutend. Entsprechend vulgär fällt die zeitgenössische Auseinandersetzung in den Medien und in der Kunst aus – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Schaut man in die Weltgeschichte, fällt auf, wie sehr Religionen historische Phänomene und konkurrierend entstanden sind:
Unzählige Male bezeugt das Alte Testament, dass Gott sich hier ein Volk erwählt hat, das er sich im Gegensatz zu allen anderen mit ihren „Baalen“ und „Götzenbildern“, „heiligen“ will. Im Selbstverständnis der Religion Israels meint man also überhaupt nicht dasselbe wie alle anderen Völker, wenn es um die Religion geht. Im Gegenteil: Israel übt eine fundamentale Kritik daran, dass die Heiden Holzbilder, die sie sich zuvor geschnitzt haben, anbeten und Götzen dienen, die nur Auslagerungen der eigenen Seelenvorgänge seien.
Oder sehen wir nach Indien. Der Buddha zog viele Jahre, durch die Hindureligion mit ihren brahmanischen und yogischen Lehren ebenso wie durch ein materielles und lustvolles Leben unerfüllt geblieben und suchend, durchs Land, bis ihn die Erleuchtung unter dem berühmten „Bodhi-Baum“ ereilte. Auch hier meint der daraus entstehende Buddhismus gerade nicht „dasselbe“ wie hinduistischen Lehren.
Das Christentum entstand aus der Religion Israels, nachdem die jüdische Priesterkaste für den Tod des Rabbis gesorgt hatte, den einige für den erwarteten Messias hielten. Auch hier meint weder das Judentum „dasselbe“ wie das Christentum noch das Christentum „dasselbe“ wie das Judentum. Mit der Entwicklung des trinitarischen Gottesbildes entstand ein größtmöglicher „Affront“ gegen den jüdischen Glauben. Diese Problematik spiegelt sich im Prozess Jesu bereits selbst, aber auch in der Auseinandersetzung mit den jüdischen Hohepriestern und der anschließenden Hinrichtung des ersten Märtyrers Stephanus.
Das Christentum rang von Anfang an gegen gnostische Irrlehren, seit der „konstantinischen Wende“ im 4. Jh massiv mit häretischen Abspaltungen, die vom trinitarischen Gottesbild abwichen. Und immer ging es dabei um so schwerwiegende Gründe, dass die Betroffenen nicht mehr der Meinung waren, sie meinten „dasselbe“.

Aus jüdischen und christlichen Versatzstücken entstand der Islam, dessen Glaubensbekenntnis eine eindeutige Polemik gegen den trinitarischen Glauben der Christen sein wollte und will. Das islamische Glaubensbekenntnis verweigert ausdrücklich den Glauben, Gott könne zeugen (wie Gottvater) oder gezeugt sein (wie Gottes Sohn), was das christliche Credo dagegen ausdrücklich bekennt. Manche Forscher vertreten heute die Ansicht, diese Religion sei Folge mehrerer christlicher, arianisch gefärbter Häresien. Sie tritt auf mit dem Anspruch, Gottes letztes Wort zu allen religiösen Dingen gewesen zu sein und den Monotheismus in seiner edelsten und reinsten Form restauriert zu haben. Trotzdem blieb auch diese Religion nicht monolithisch, sondern zerfiel gleich zu Beginn in mehrere Lager. Der Zerfall in dieser Religion kann durch die noch vorhandene „Mehrheits“-Richtung nicht ausgeblendet werden. Die beiden großen Kontrahenten dieser Religion versuchen in einem gigantischen politischen, stark autoaggressiven und weit in die nichtislamische Welt hinausstrahlenden destruktiven Akt, den weiteren Zerfall aufzuhalten, was aber nicht gelingt: immer mehr islamische Staaten werden zu sogenannten „failed states“, Staaten, die unregierbar geworden sind. Das „Haus des Friedens“, wie sich die islamische Gemeinschaft selbst nennt, ist ganz offenkundig ein Haus, in dem Mord und Totschlag die Herrschaft übernommen haben und viele fragen sich, ob diese Religion aus sich selbst heraus wirklich friedensstiftende Kraft hat und haben kann. Die Beantwortung dieser Frage ist Thema vieler Gespräche und Diskussionen, wobei sich die Stimmen derer mehren, die dies wegen der gewalttätigen Gründergestalt und ihres „kanonischen Vorbildes“ bezweifeln. Viele Konvertiten vom Islam zum Christentum unternahmen diesen für sie folgenschweren Schritt, weil sie im Islam keine Liebe fanden und nur einen voluntaristisch agierenden Gott, im Christentum dagegen einen Gott, der sie liebt und ihnen verlässliche Zusagen gibt. Die Dunkelziffer an Konvertiten ist hoch. Warum aber sollten sie diese Mühe auf sich nehmen, wenn beide Religionen „eigentlich dasselbe“ meinten?
Es gibt auch Konversionen umgekehrt. Wer zum Islam konvertiert, ist meist von dessen einfacher Gotteslehre beeindruckt und einem überschaubaren Regelwerk, das ein Gefühl von Wahrheits- und Heils-Sicherheit einflößt. Viele ehemalige Christen nennen als Grund für ihre Konversion zum Islam, die christlichen Dogmen seien „unlogisch“ bzw. unverstehbar, vor allem das Gottesbild. Die Vorstellung eines „einen“ Gottes, um dessen Differenziertheit sich der Mensch nicht kümmern muss, erscheint ihnen erträglicher. Auch spielt die Vorstellung vom „leidenden Gott“ für viele eine anstößige Rolle – Gott am Kreuz? Das kann nicht sein … es will ihnen nicht in den Kopf, wie es auch schon vielen Juden nicht einleuchten wollte.

Der aufgeklärte Westen glaubt seit 200 Jahren, man könne all diese triftigen Differenzen zwischen den religiösen Lebens- und Weltkonzepten durch bewusst herbeigeführte religiöse Ignoranz oder wenigstens Indifferenz aufheben. Die Vorstellung, man erkläre die Religion zur „Privatsache“ und gestalte ein laizistisches Gemeinwesen, verlockt mit erleichternden Potenzialen: endlich können wir zusammenleben, ohne uns gegenseitig zu fressen oder zu unterwerfen!
Allerdings hat sich die Religion im Angesicht der Säkularisation nicht nur selbst aufgehoben, sondern auch überall radikalisiert – warum das so ist, harrt noch eingehender Untersuchung… Im Abendland ist das Sektenwesen angewachsen und hinter der Fassade der Privatheit spielen sich häufig Dramen ab.
Im säkularen Staat hat sich die Religion mit ihren internen Ordnungen der staatlichen Ordnung zu unterwerfen.
Nicht nur der Islam erkennt das aber definitiv nicht an, denn er ist eine politische Religion, die einen Dominanzanspruch in sich trägt, der zur Sendung dieses Glaubens gehört.
Auch die Kirche hat das gesamte 19. und einen großen Teil des 20. Jh genau wegen dieses Anspruchs ihre Krise selbst herbeigeführt: mit dem drohenden Zerfall des Kirchenstaates zerrüttete sich in wenigen Jahrzehnten der über mehr als ein Jahrtausend systematisch immer höher geschraubte Machtanspruch des Papsttums, den man nur noch schwer oder gar nicht mit dem „Kreuzweg“ des Herrn der Kirche zusammenbringen konnte, der doch der Weg des Christen und der Kirche sein muss. Jedenfalls hat es der Herr genau so verfügt. Nicht von pompöser weltlicher Allmacht hat er gesprochen, nicht davon, dass Päpste die Universalherrscher der Welt seien, sondern davon, dass seine Diener nicht mehr sein sollen als der Herr, dessen Machtverzicht in dieser Welt in den Versuchungen Jesu in der Wüste programmatisch ausgesprochen wird: der Satan bot Jesus die Welt an. Der Preis dafür war, sich vor dem Bösen auf die Knie zu werfen und ihn anzubeten. In dieser Erzählung scheint auf, dass es in diesem Äon Macht über die Welt nur im Verbund mit dem Bösen geben kann.
Was immer zur Verteidigung der aufgeblähten weltlichen Macht der Kirche vorgebracht wird – es lässt sich mit der Predigt und dem Leben und Sterben des Herrn nicht vereinbaren. Ein unguter Samen hat sich in die Kirche eingeschlichen, wohl von Anfang an schon, und seine Saat ging langsam und verhängnisvoll auf.

Verhängnisvoll heißt: Selbst wenn Päpste den Versuch unternommen haben, diesen totalitären Anspruch auf weltliche und geistliche Übermacht über alle weltlichen Fürsten rückgängig zu machen, gelang es nicht mehr. Man verlor die Macht, konnte aber den Anspruch auf die Dominanz in der Gestaltung der Gemeinwesen nicht aufgeben, ohne das, was sich als Kirche etabliert hatte, zu stürzen. Eine Amalgamierung von rein irdischen und geistlichen Traditionen war entstanden, die kaum mehr voneinander zu lösen war.
Die Tragik der Kirche ist nach dem Vaticanum II, dass einerseits eine berechtigte und längst überfällige Reform eingeleitet wurde. Andererseits aber war es unmöglich, dieses über so viele Jahrhunderte gewachsene institutionelle Gebilde der Kirche in kurzer Zeit von seinen Auswüchsen zu reinigen.
Nimmt man Jesu Rede ernst, ist es sogar unmöglich, diese Reinigung des „Ackers“ zu erreichen. Der Christ muss aushalten, dass nirgends auf Erden größere Schizophrenie wirkt als in der Kirche. Warum? Wir wissen es nicht! Aber der Herr sagte, Unkraut und Weizen sollten zusammen aufwachsen und niemand solle versuchen, das Unkraut auszureißen. Wer es versuche, reiße den gesunden Weizen mit aus. Die radikalen Restaurationsversuche des 19. und frühen 20. Jh haben der Kirche vermutlich den größeren Schaden zugefügt, als dies vielen klar ist. In der radikalen ultramontanen und später der Antimodernismus-Krise wurde mehr Gesundes zerstört, als die Kirche es verkraften konnte. Die Hierarchie überblendete ihre Befugnisse, um das „Übel mit der Wurzel auszureißen“. Um also genau das zu tun, was Jesus untersagt hatte:

„Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus.“ (Mt. 13)

Und sie erntete auch genau das, was Jesus angekündigt hatte: Es war die Hierarchie, die auch den Weizen ausriss.
Unsere Krise liegt nicht am wachsenden Unkraut, sondern daran, dass Hierarchen glaubten, es ausreißen zu müssen und damit das Gesunde zerstörten.
Wo soll ein Papst hier und heute da noch anfangen?
Eigentlich müsste er sein Pontifikat zu einem Pontifikat der Buße, des Schweigens und Gebetes machen. Aber auch das ist unmöglich. Oder nur möglich in der Unmöglichkeit, wofür der Rückzug Benedikts XVI. ebenso stehen kann wie der Coelestins V.

Franziskus ist nach den in der Absicht vorsichtigen („pastoralen“) und in der Wirkung vor allem chaotischen Reformversuchen der Päpste der zweiten Hälfte des 20. Jh endgültig eine Jammergestalt der Hilflosigkeit.
Wenn ihm angesichts der Gewalttätigkeit des Islam unsere eigene Gewalttätigkeit in der Geschichte einfällt, dann mag man das angesichts der aktuellen Weltlage für unausgegoren halten, aber er spricht einen christlichen Alptraum aus, der in uns pocht, um den wir allesamt ganz genau wissen und den wir uns auf tausend Weisen schönreden. Daher erntet er auch solche heftige Entrüstung:

Die Hierarchie hat fast zu allen Zeiten in nicht geringem Maß die Sendung Jesu verraten, der wirklich nicht so war wie Mohammed… Aber wir, die Christen ... waren sehr oft genauso wie die Muslime. Und das nicht aus Versehen, oder weil wir es nicht besser gewusst hätten, sondern ganz bewusst. Wir bastelten eine Alltags-Theologie, die solche Gräuel erlaubte, Päpste schrieben neben Gegenteiligem auch sehr wohl Lehramtstexte, die Mord, Vertreibung und Versklavung nicht nur rechtfertigen, sondern auch anordnen konnten. Das Kirchenrecht trug in einer Welt, die den Staat zum verlängerten Arm kirchlicher Ansprüche umfunktioniert hatte, tatsächlich auch scharia-ähnliche Züge. Auch wir Christen verstümmelten Menschen (vor allem in Byzanz). Auch wir verfolgten und verbrannten Ketzer und führten Religionskriege im eigenen Gebiet. Auch wir unterdrückten (trotz Polygamie-Verbotes) die Frau und setzten sie auf erbärmliche Weise, fundiert von gewissen Kirchenvätern und ihren heidnisch inspirierten Philosophien, so weit zurück, dass man sich fragen konnte, welchen Rang dann die Braut Christi sich selbst eigentlich noch zuerkennen wollte…Auch wir drückten bei der Hurerei der männlichen Fürsten alle Augen zu, während wir ein ähnliches Verhalten bei Frauen unverhältnismäßig dramatisierten. Auch wir hassten die Juden, ghettoisierten sie, grenzten sie aus fast allen Berufen aus, markierten sie äußerlich nach dem Vorbild des Umgangs der Muslime mit den Juden, verleumdeten sie, pressten ihnen Sondersteuern ab, vertrieben sie und zettelten fromme Pogrome gegen sie an.
Und auch wir haben für all das Heerscharen von traditionalistischen Apologeten, die es besser wissen müssten. Auch sie sprühen so beschämend oft vor Hass, Selbstgerechtigkeit und Respektlosigkeit und radikalisieren sich in immer weiteren Spaltungen.
Es ist ein bestimmter „Pool“ von Narrativen entstanden, was denn überhaupt „Tradition“ sei. Während Progressive oft auf frühchristliche Traditionen zurückgreifen wollen, haben sich die meisten Traditionalisten auf die Engführungen des 19. Jh eingependelt. Sie betrauern weniger einen objektiven Traditionsverlust als den Verlust eines kirchlichen Ambientes, das man bis zum Beginn des 20. Jh mit einem enormen propagandistischen Aufwand als alleine gültig etabliert hatte.
Unzählige Bücher bejammern den Zustand und fordern eine „Rückkehr zur wahren Lehre“. Sie alle wissen offenbar ganz genau, wie ein gesundes kirchliches Leben in der wahren Lehre auszusehen hat, sind sich darüber aber mehr als uneinig. Und überhaupt: Nachdem man jahrhundertelang unter rigidem Lehrzwang, erstickenden Alltagsnormen und Denkverboten geseufzt und das Vaticanum II befreit willkommen geheißen hatte, sehnt man sich nun so unreflektiert und unbedarft zurück an die Fleischtöpfe Ägyptens?

Franziskus weicht geistlichen Fragen und Themen sehr oft und auffallend aus – so, als wüsste er nichts mehr dazu zu sagen. Er schreibt endlose Lehramtstexte über Umweltpolitik und sentimentale Gedanken zur Liebe nieder, aber das, was die Menschen brennend interessiert, lässt er aus – nämlich klare Antworten auf klare Fragen.
Die Progressiven haben begriffen, dass sie ihn nicht wirklich für sich vereinnahmen können, und die Traditionalisten und Konservativen ebenfalls.
Er ist einsam in der Kirche.
Irgendwie tappt er in einem Irrgarten herum.

Was also hat er vor, um was geht es ihm?
Und vor allem: Was kann er überhaupt leisten, nachdem sein Vorgänger die Segel gestreckt hat?

Fragen wir doch einmal anders: Wie gläubig sind die Menschen wirklich? Wie gläubig waren sie früher? Was ist denn überhaupt Glaube? Ich meine: wenn man aufhört, zum Glauben zu erpressen oder zu verführen, und stattdessen das freie „Fiat“ geduldig erwartet und die Beziehung des Einzelnen zu Gott nicht mehr dermaßen überreguliert und kontrolliert, wie dies lange ausgeübt wurde?
Es sieht aus, als hätte man nur die Wahl zwischen erpresstem, rein formellem Glauben, einem Glaubens-Brauchtum und einem wachsenden Desinteresse am Glauben.
Ist das so?

Wir sind heute längst schon jenseits des Scheidewegs: heute muss in religiöser Hinsicht niemand mehr etwas selbstverständlich und schon gar nicht deswegen, weil es immer so üblich oder immer „Tradition“ war. Vor allem weiß man heute auf eine ruhigere und objektivere Art und Weise um die anderen, die einem schon so lange und so hartnäckig widersprechen. Und die Welt ist enger geworden, wir hängen alle mehr zusammen als früher und wirken uns gegenseitig tief in die Gesellschaften hinein und dies meist auf eine problematische Weise. Die innerislamische Katastrophe zeugt davon, dass man dort versucht, um jeden Preis diese Entwicklung zu verhindern. Allein – es ist zu spät!

Das traditionalistische Schisma dagegen, das sich in der Kirche schon vollzogen hat und weiterhin anbahnt, versucht auf einem ähnlichen Weg wie der Islam, wenn auch bislang noch unter Verzicht auf physische, nicht aber psychische Gewalt, die freie Auseinandersetzung mit der Welt hier und heute zu verhindern. Der katholische Traditionalismus hat einerseits Züge evangelikaler Sekten wie der Hutterer und Amishen, die die Kostüme und Lebensstile älterer Zeiten für ein göttliches Gebot halten. Andererseits bedient er sich modernster Techniken, um seine Ideologie zu verbreiten, vor allem die postmodernen Kommunikationsmedien. Seine Neigung zum politisch „Rechtsgerichteten“ hängt mit diesem Wunsch nach Konservierung älterer politischer Zustände zusammen. Ein krudes, selbstgebasteltes Gemisch aus Kirchenlehre, überspanntem Moralismus, monarchistisch ausgerichtetem Nationalismus und altbewährten, aber unbegründbaren (und nie so gelehrten!) Vorurteilen wird als „wahrer Glauben“ ausgegeben. Auf die Dauer entpuppt sich dies als hochkomplexe Märchenwelt mit überbordenden Widersprüchen. In gewissem Sinn ist es eine katholische Glamourwelt. Sie erfüllt tiefe Sehnsüchte nach gerechten Königen und schönen Prinzessinnen und einem gottseligen Arkadien in diesem Äon. Aber erfüllt sie die Sehnsucht nach Gott als dem wirklich ganz Anderen, der aus jeglicher Perspektive dieses Äons, auch der traditionellsten, glamourösesten und „ehrbarsten“, doch unsichtbar bleibt?
Aussteigerberichte aus traditionalistischen Kreisen und neuen geistlichen Gemeinschaften führen eine erschreckende Doppelmoral, heuchlerische Frömmigkeit und die Struktur von Geheimgesellschaften vor Augen.
Wer ein bisschen nachdenkt, merkt also bald, dass es damit für das, was einst unsere abendländischen Mystikerinnen entdeckten, nämlich den Weg in die „innere Seelenburg“, die man dem Herrn schon übergeben hat, und in deren verborgenstem Gemach der Geist zum Geist spricht, bei den Traditionalisten nichts ist. Sie pflegen lieber „ignatianische Exerzitien“ und üben den formellen „Kadavergehorsam“ ein. Ihre Präferenz gilt dem Hierarchischen und der Unterwerfung – ganz ähnlich wie im Islam. Sie lehnen die Demokratie ab und unterstellen moderneren, politischen Gerechtigkeitskonzepten „Gleichmacherei“, ohne diesen Vorwurf im einzelnen zu begründen oder begründen zu können.
Die katholischen Traditionalisten sind ebenso wie die Charismatiker und die Progressiven Leute, die ihre Auffassung vom „wahren Glauben“ eben nicht primär an der Lehre, sondern an deren sinnlicher Ausgestaltung aufhängen und darum mehr Ideologie als Glaube pflegen.

Franziskus wirkt in diesem Hexenkessel wie einer, der selbst völlig desillusioniert ist, der sich von der Religion hüben wie drüben nichts mehr erwartet. In hastiger täglicher Rede wirft er mal den einen, mal den anderen einen Happen hin. Und alle bekommen ebenso hastig, mal hier mal da auch etwas hinter die Löffel.

Es stellt sich die Frage für uns alle, wie man hier und heute glauben kann, ohne in die alten Fallen zu tappen und ohne den Glauben zugunsten der postmodernen Unsicherheit zu relativieren oder aufzugeben.

Jesu fragte einst, ob er noch Glauben finden werde, wenn er kommt. Das ist die Frage, die uns angeht.
Sie stand immer im Raum, diese Frage.

Nach seiner Lehre ist der Glaube ein Kreuzweg und der Weg der Kirche einerseits ein „Menschenfischen“, andererseits aber ein Niedergang in dieser Welt mit dem Herrn. Die Kirche kann in dieser Welt ebenso wenig eine Erfolgsstory sein wie der Lebensweg Jesu!
Wer, der wirklich glaubt, kann sich darüber wundern?

Oder haben wir an etwas anderes geglaubt, viele Hunderte von Jahren? Haben wir selbst Jesus mit Mohammed verwechselt und gedacht, wir müssten eine christliche Umma schaffen, und das um jeden Preis?
Obwohl der Herr uns das - gerade das! - nicht verheißen hat?

Wenn das unser Problem ist, und ich glaube, es ist unser Problem, dann kann man nachvollziehen, dass ein Papst einfach nicht mehr weiterweiß.
Benedikt zog sich vornehm zurück – Franziskus steht hilflos im Raum und rettet sich in einen Dauerdialog, dessen Ergebnisse ihm gleich sind.

Er redet, als wollte er die Zeit überbrücken, bis –

Ja: bis was eigentlich?

2 Kommentare:

  1. Eine Fülle von sehr bemerkenswerten Gedanken!! Aber geht es nicht etwas kürzer und straffer?

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    1. Klar geht das, aber dann ist auch die Fülle bemerkenswerter Gedanken weg... sorry, aber dieser Blog hier ist, was die Form betrifft, bewusst nicht zeitgeistig. Ist eher für nachdenkliche Leute gedacht.

      Für kurze und straffe Gedankenschüsse bitte BILD lesen oder vielleicht Twitter?

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