Dienstag, 14. April 2015

Wo liegt das Abendland?

1. Die Frau auf dem Stier

Verzweifelt versucht der abendländische Stammbürger, sich in irgendeiner der Wagenburgen abzuschließen, die sich zu bieten scheinen. Auch der virtuell nach allen Seiten hin offene Euro-Raum, wie er von den urbanen Behörden gefördert wird, ist nichts weiter als eine solche, besonders reich ausgestattete, Wagenburg, die anstelle von trutzigen Planwagen einen unsichtbaren, magischen Bannkreis um sich zieht.

Da draußen in der transmarinen Welt fliegen die Fetzen. Und wir holen uns auch noch den letzten Videoclip über die Untaten entfesselter Teufel anderswo auf unsere Smartphones. Alles so nah unter der Bettdecke und zugleich so cyberspacig weit weg… Wir verwechseln die Toten mit Spielfiguren, die man „spawnen“ und „re-spawnen“ und auf einem entsprechenden Level wieder ins Spiel bringen kann, als sei nichts geschehen.
Unsere Zivilisation ließ lange Zeit Menschen mit dunklerer Hautfarbe anderswo, fernab von voyeuristischen oder kontrollierenden Blicken, das ausbaden und ausfechten, was sich in den eigenen übersättigten Gedärmen abspielte. Spätestens mit der Entdeckung Amerikas und der Aufteilung der Welt in Kolonien begann man, die innereuropäischen Probleme, die angestauten Negationen parallel zu und mit der Erfüllung des Missionsbefehls Jesu Christi weit weg zu verlagern. Die Christianisierung schenkte der ganzen Welt eine riesige „Energiespritze“, initiierte in vielen Menschen Schaffensdrang und nüchterne Selbst- und Fremdachtung, Erfindergeist und Entwicklungsfähigkeit, Kreativität und humanes Maß in ungekanntem Ausmaß. Niemand kann das bestreiten – es liegt offen zutage. Die Erlösung des Menschen gab schon im irdischen Sein eine winzige und schwache Kostprobe dessen, was sie einst für den Himmel verspricht: Ordnung und Freiheit, die soziale Klassen und Stände trotz aller Rückfälligkeit ins Heidnische doch immer auch durchlässig hielt. Das gab es sonst nirgends. Aber niemand kann auch bestreiten, dass es diese parallel laufenden Negationen gab und gibt, die ihre Energie aus den echten und guten Erhebungen des christlichen Glaubens saugten, aber in Machtkämpfen zwischen Papsttum und Kaisertum, in Schismen, der Reformation, sozialen Spannungen und im Hexenwahn eskalieren wollten. Man schuf „Abflüsse“ für all jene, die nicht in ein geordnetes, seinen Kapazitäten gemäßes Abendland passen wollten, konnten oder durften. Die einen blieben da, sich den gegebenen Bedingungen nach einer Abwägung unterwerfend oder auch unterlaufend, zum Beispiel durch die Abwanderung in die neu entstehenden Städte oder die Teilnahme an Kreuzzügen oder an Wallfahrten über die Jakobswege nach Santiago.
Aber die christlichen Ordnungen depravierten zugleich mit ihrem Aufstieg, führten den Europäer in den paradoxen Zustand höchster Glaubenstiefe, eines ausgeprägten Wissens um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, um die Erhabenheit und Heiligkeit Gottes … und der Möglichkeit zu übersteigert blasphemischer Sündhaftigkeit.
Unzählige abendländische Menschen verließen aufgrund dieser Überspanntheit den Kontinent, gingen nach Amerika, nach Russland, verschwanden in den Weiten der mittelasiatischen Steppen oder begannen ein Leben in Afrika, Australien oder Neuseeland. Verfolgte Sektierer, Desparados, junge Männer, die vor den Häschern geldgieriger Monarchen flohen, um nicht als Kanonenfutter an den Nachbarkönig verkauft zu werden, Verarmte, Abenteurer, Kriminelle, Kaufleute und Leute, die ihre Ehe hinter sich lassen oder aus anderen Gründen ein neues Leben anfangen wollten, erschlossen sich im Zuge der expandieren Entdeckungen „neue Welten“.
Bevor sie dies taten, erzeugte die Reformation bereits für viele Menschen innerhalb Europas das soziale Szenario künftiger Entscheidungszwänge und Heimatverluste: entweder sie mussten das Reich  ihres Landesherren verlassen oder sich der konfessionellen Option desselben unterwerfen. Große Wander- und Fluchtbewegungen zwischen den deutschen Fürstentümern setzten ein. Entwurzelungen und Vertreibungen um der politischen Willkür und Gewalt willen sind bis heute seither politischer Alltag. Die Flüchtlingsströme sind seit der Reformation kontinuierlich angeschwollen und haben das empfindliche Ordnungsgefüge des klösterlich missionierten Europas seither bis auf Überreste, die immer noch eine enorme Strahlkraft aufweisen, ausgelöscht.

Friedliche und massenhafte „Einwanderung“ nach Europa hinein gab es nach der Spätantike dagegen nie. Die Situation heute ist ohne Vorbild und erfahrungslos.
Wohl aber standen Jahrhunderte lang Eroberer vor den Toren, die zeitweise eindrangen und wieder hinausgeworfen wurden. Meist waren es islamische Eroberer. Dennoch - man war mit den Westgoten fertig geworden, mit den Arabern, mit den Mongolen, den Ungarn, den Mauren, den Schweden, den Türken.
Mit letzter Not überwand man dagegen den Arianismus und dies auch nicht wirklich: arianisches Denken ist in den Seelen steckengeblieben, trat bald von außen im mohammedanischen Glauben massiv auf Europa zu und wühlte im Innern weiter. Das moderne liberale Glaubenskonzept ist ein Ableger des arianischen Denkens, wie schon John Henry Newman im 19. Jh zeigen konnte.
Gar nicht fertig geworden ist man mit dem Schisma mit Konstantinopel und dem Glaubensabfall durch die Protestanten im 16. Jahrhundert. In beiden Konflikten schwingen ebenfalls arianische Motive mit. 200 Jahre später förderten viele Monarchen atheistische Philosophen, verschleuderten wie noch nie die Güter des Landes und lebten so ausschweifend, dass es das ganze Volk bis heute demoralisierte. Die totale Materialisierung, die Verschwendung und der Hedonismus unserer Tage „für alle“ sind Echo des aristokratischen Vorbildes vieler Jahrhunderte zuvor. Mit dem 18. Jahrhundert begann die Zeit des Untergangs der verlebten Monarchen und des Aufstiegs der explodierenden europäischen „Völker“ und heiß erkämpften Nationalstaaten. Eine Phase schlimmster nationaler Konkurrenz, die Europa bislang nicht gesehen hatte, begann. Noch etwas später warf auch der Umsturz der Nationalstaaten zu grausamen und ideologischen Riesenverbänden seine Schatten in eine ungewisse Zukunft voraus. Die Diskussion über ein vereintes Europa wurde gleich nach dem Untergang des heiligen römischen Reiches und dem Aufstieg des Nationalismus begonnen, und niemand weiß, was diesbezüglich noch auf uns zukommt. Alles, was einmal Grundlage zu geben schien, ist zerstört: „das“ Christentum, das Kaisertum, erst recht die schwachbrüstigen Begriffe von der „Nation“ und der „Volkssouveränität“, die mehr Chaos als Ordnung beschert haben.

Die Inszenierung und Zurschaustellung kolonialer Gladiatorenkämpfe vom Hochsitz Europas aus reichen dem westlichen Ablenkungsdrang von den eigenen Widersprüchen nicht mehr. Wir sind verfettet, aber ausgeblutet. Wir locken unsere adipöse, in fremde Länder exportierte Schande näher, berauschen uns an den Kämpfen verlorener Menschen vor unserer Haustür und debattieren darüber, wie nahe wir sie an uns heranlassen wollen. Wir benötigen sie als Rentenkasseneinzahler, Arbeiter, Prostituierte, Adoptivkindergeber und Leihmütter. Es klingt zynisch und es ist zynisch, wenn man es bedenkt! Ohne ihre „Manpower“, mit der wir uns Nachschub holen zur Aufrechterhaltung unserer Befriedigungen, kommen wir nicht mehr aus. Wir magnetisieren sie zu uns hin und bannen sie kurz vor Torschluss, möglichst fortzubleiben und lassen sie dann im Gewand bürokratischer Willkür unter Protest tropfenweise und rasch ein.
Ohne das nach außen verlagerte innere Chaos können wir unsere demografischen Ausfälle, unsere Bildungsruinen und unsere Fruchtlosigkeit nicht mehr ausgleichen. Die illegitimen Kinder Europas stehen an unseren Betten, und man fragt sich, ob die Fürstentochter je ein legitimes Kind hatte.
Im Mythos jedenfalls war Europa eine Prinzessin, erlag aber ihrer Dummheit und Triebhaftigkeit und ließ sich von dem in einen Stier verwandelten lüsternen, gehörnten Gott verführen:
 
Auch wagte die fürstliche Jungfrau,
Unkund, wen sie bestieg, auf dem Rücken des Stieres zu sitzen.
Da schreitet sachte der Gott vom Land und vom trockenen Ufer
Und setzt vorn in die Flut die betrüglichen Schritte der Füße,
Geht dann weiter und trägt quer über des mittleren Meeres
Fläche den Raub. Sie erbangt, und zurück zum verlassenen Strande
Schaut sie und hält mit der Rechten ein Horn, auf den Rücken die andere
Stemmend; das lose Gewand ist geschwellt vom Hauche des Windes.
(Ovid Metamorphosen, Buch 2, 11)
Sie degradierte zur Mätresse, die illegitime Kinder gebar, wurde anfangs noch von ihrem königlichen Vater und ihrem Bruder Cadmus gesucht. Das Orakel von Delphi gab jedoch sehr bald kund, man möge sie vergessen, nicht mehr nach ihr suchen und stattdessen die Stadt Theben gründen (Ovid, Metamorphosen, Buch 3, 1).

Am europäischen Kamin spielt man zur Zerstreuung der quälenden Fragen „Bürger gegen rechts“ oder „Wir sind das Volk“ oder spazieren gehend „Rettet das Abendland“. Politisch verordnete „Wochen gegen Rassismus“ krönen das Jahr. Man wähnt sich im programmatischen Irgendwo verankert und spielt Konflikte „Links gegen Rechts“ und umgekehrt in Luftschlössern. Die einen können mit der finanziellen Unterstützung der Kulturämter und Oberbürgermeister rechnen, die andern mit dem starken Rückenwind des Volkes hinter vorgehaltener Hand. Eine absurde Pattsituation. Medien versuchen verzweifelt und auf vulgärem journalistischen Niveau den Regierungskurs zu unterstützen gegen die Bauchgefühle des „Volkes“. Man scheut vor einer Beschimpfung und Verleumdung großer Teile der Bürger „von oben herunter“ nicht mehr zurück und setzt Gerüchte über umfangreiche „rechte“ Verschwörungen in die Welt, für die es – jedenfalls in der suggerierten Größenordnung - weder Anhaltspunkt noch Beweise gibt. Die Schere zwischen dem, was Menschen äußern, wenn sie sich unbeobachtet wähnen, und dem, was ihnen an „Politdenke“ verordnet wird, klafft immer weiter auseinander. Für ein demokratisch geordnetes Gemeinwesen ist das das Aus. Offenbar leben wir in einer beginnenden Diktatur.
Damit sollen die hysterischen Wahnideen, die im Volk verbreitet sind, nicht bestätigt werden: die Panik vor dem großen Unbekannten, der als Drahtzieher hinter all den verworrenen Ereignissen stehe, sieht längst deutliche Gespenster. Der CIA, Obama, Putin, der Vatikan, die Freimaurer, islamische Schläfer, der Mossad und „die“ oder nur die „reichen“ Juden planen Böses, will man Volkes Stimme glauben. Es ist allerhand entsprechende Literatur im Umlauf. Manches darin Aufgeführte lässt sich kaum von der Hand weisen, die gezogenen Schlüsse sind jedoch häufig überzogen und paranoid.
Eines aber bleibt im Raum stehen: die Beziehung zwischen der Politik und den Bürgern ist nahezu aufgelöst.
Und das sollte jeden, gleich, wie er die Welt zu sehen beliebt, doch alarmieren.
Die Frage, die gestellt werden muss, lautet: Wie kann das Volk der Souverän eines solchen Staates sein?

Allein – ich frage mich, zurück zu den Formeln unserer Tage: Von welchem „Volk“ ist die Rede? Was ist „Rassismus“ so ganz genau? Und wo liegt das „Abendland“? Was versteht man unter „Toleranz“? Doch nicht etwa, dass alles genauere Nachdenken abgewürgt werde und jede unabhängige Positionierung als Sakrileg geahndet wird? Davon abgesehen: was ist eigentlich „rechts“?
Was meinen wir mit der vielgerühmten „Aufklärung“, die dem Islam angeblich fehle? Meinen wir die blutrünstige französische Revolution? Fehlt die dem Islam gerade noch? Oder meinen wir die aggressiven französischen Republiken oder das napoleonische „Kaiserreich“ zu Beginn des 19. Jh? Oder meinen wir Voltaire und Rousseau und andere Religionshasser, die bezüglich der Kirche „Écrasez l’infame!“ brüllten, und bilden uns ein, dass das der richtige Ratschlag für die Muslime ist, wo er schon bei uns selbst die kirchlichen Machtverfilzungen nur durch noch schlimmere rein weltliche Verfilzungen ersetzt hat? Nun komme mir niemand mit der angeblich „friedlichen“ Aufklärung – die Aufklärung in Europa verlief auf politischer Ebene nun mal nicht friedlich, sondern gewalttätig – die Säkularisation bedeutete einen brutalen Einschnitt in die Geschichte fast aller europäischen Fürstentümer im Gefolge der napoleonischen Kriege!
Es ist die Frage, ob die islamische Welt sich dieses Trauma nun auch noch antun muss, um koexistenzfähig zu werden. Eine solche „Säkularisation“ lässt sich nur unter Blut und Tränen durchführen. Als ob die islamische Welt nicht schon genug stöhnen würde unter der eigenen Last…

Und überhaupt: Früher wusste ich mal, was „Demokratie“ ist, glaubte, es zu wissen. Jetzt weiß ich es nicht mehr. Was versteht man unter „der“ demokratischen Grundordnung, wenn unterschiedliche, einander widersprechende Weltanschauungen in ein und demselben Gemeinwesen aufeinander stoßen? Hat das historisch mit dem Ort Verwachsene ein größeres Recht als das, was neu hinzukommt? Eine Art „cuius regio eius religio“ übertragen auf nach-absolutistische, säkulare Machtverhältnisse? Anders: wer zuerst da war und regiert, hat auch das Vorrecht? Funktioniert das, wenn die Anzahl der später Hinzugekommenen, die wesentliche Elemente der Grundordnung nicht anerkennen wollen, sich derjenigen der Einheimischen aufgrund der Morbidität letzterer angleicht? Was ist mit dem Ort überhaupt historisch gewachsen – denn auch hier findet sich Unterlegenes und Übermächtiges aus dem eigenen Fundus? Wir haben fast 70 Jahre mit Essen, Trinken und Urlaub vertan und uns eingebildet, wir hätten eine intensive Auseinandersetzung mit unserer ganzen – nicht bloß der nationalsozialistischen! – Geschichte nicht nötig. Wir haben schlicht und ergreifend den Anschluss an uns selbst verloren. Wir fordern verschwiemelt „Anpassung“ der Einwanderer an unsere „Kultur“. Aber niemand kann erklären, was unsere Kultur ist – ist es der katholische Glaube, dem kaum mehr einer anhängt? Oder der lutherische? Oder der Liberalismus? Oder sind es die Abtreibungsbefürworter? Oder die Altkommunisten? Oder gar die Keller-Nazis? Oder sind es die Bildungsbürger, die stolze Theaterabonnements aufweisen können, in denen sie die immer gleichen „Klassiker“ ansehen und anhören? Oder die Romantiker und Idealisten, die nur Bioland-Produkte essen? Woran sollen sich die „Migranten“ anpassen?
Wir werden aus allen öffentlich geförderten politischen Rohren mit der Meinung beschossen, man könne sich auf eine Art "Verfassungspatriotismus" einigen. Alle anderen Potenzen werden ausgeklammert. Alle Bürger sollen ihr gesamtes kulturelles Selbstverständnis einer bestimmten Rechtsvorstellung unterwerfen, die vorgibt, "neutral" zu sein. Wie aber soll man sich eine völlig neutrale und "überkulturelle" Rechtsverfassung vorstellen? Noch dazu angesichts der Tatsache, dass auch unser Grundgesetz permanent verändert wird? Studien ergeben, dass Einwanderer nicht anders als Einheimische zwar einerseits aus voller Überzeugung sagen, sie seien der Verfassung treu, andererseits aber genauso unumwunden zugeben, dass sie glauben, das Leben müsse sich nach dem islamischen Recht oder aufgeklärten bzw. christlichen Moralvorstellungen richten. Wir haben schon im einheimischen Lager zahlreiche ungelöste moralische Debatten, die zeigen, dass Gesetze aus moralischen Überzeugungen heraus eben nicht für recht befunden werden: in der Abtreibungsdiskussion, den Auseinandersetzungen um Sterbehilfe, Euthanasie und Pränataldiagnostik, aber auch in Debatten wie der um staatlich geförderte Waffengeschäfte und vor allem den Cantus firmus der Demokratie von Beginn an: dass die Gesetze frech und dreist von denen umgangen werden, die es sich aus welchen Gründen auch immer leisten können, dies zu tun. Einheimische Forschung blendet aus, dass ein schwankendes Grundgesetz niemals den Rang einer religiösen und sittlichen Vorgabe erfüllen kann. Den alltäglichen Gesetzesänderungen liegen doch Bewegungen zugrunde, die sich auf viel tieferen als bloß materiellen Ebenen bewegen. Geistige Haltungen werden nicht mehr als jeder Ökonomie vorgelagert angenommen. Man hält sie für ein Akzidens materieller Grundverfassungen. Alle Potenz wird dem Haben zugesprochen.
Wäre ich ein Einwanderer – ich wäre jedenfalls orientierungslos in diesem Stimmengewirr.

Und diejenigen, die vom Christentum reden und das „christliche“ Abendland retten wollen – welches der Christentümer meinen sie? Irgendwie ein allgemeines aufgeklärt-ökumenisches, didaktisch reduziertes Ethik-Christentum, das die zentralen Überzeugungen des Glaubens, nämlich die leibhaftige Menschwerdung Gottes mit allen Konsequenzen längst aufgelöst hat? Oder das schwärmerisch-charismatische im Halleluja-Modus dröhnender Lobpreis-Events, die das Kreuz hassen? Oder das katholische? Und wenn ja, das „modernistische“, „progressistische“ oder das „traditionalistische“, um nicht zu sagen „reaktionäre“, mit einigen überholten und gescheiterten politischen Konzepten verwucherte Christentum? Oder den Katholizismus des Vaticanum II, der glaubt, man könne das, was sich 2000 Jahre entfaltet hatte, durch ein „Zweites Pfingsten“ ersetzen, das doch nur eine schale Medienschau war, mindestens zehndeutige Texte fabriziert und ein reines Chaos innerhalb der Kirche eingeleitet hat? Oder gar eine Art konservativer Ökumene, die sich vor allem im Kampf gegen den Genderismus und für die klassische Familie und eine hohe Sexualmoral einig, sonst aber in vielen gravierenden Punkten uneinig ist?

Wenn man erst einmal genauer nachfragt, tun sich Abgründe auf.


2. König Parol

Die Begriffe haben eine lange Verwirrungsgeschichte hinter sich. Ich kenne kaum Menschen, die wissen, wovon sie reden. Der Feind sind für die einen die „Gutmenschen“, für die andern die „Fundamentalisten“, für die einen die „Rechten“, für die andern die „Linken“, für die einen die „Konservativen“, für die andern die „Liberalen“. Das Gegensatzpaare-Raten ließe sich endlos fortsetzen. Es werden auf allen Seiten unsäglich leere Dinge ausgesprochen. Man gibt alles für eine leichte Welterklärung, die Raum fürs Empören bietet. In all diesem hohlen Blubbern gibt es ernsthafte, aber unbequem nachdenkliche und sachorientierte Stimmen, die notorisch überhört und skandalisiert werden – von allen Seiten.
Es ist unmöglich, die komplexen Zusammenhänge, die uns diese chaotische Realität beschert haben, zu durchschauen. Die große Gefahr hysterischer Erklärungen („Verschwörungstheorien“) ist die, dass man sich fixiert auf einen Zusammenhang, der so vielleicht gar nicht besteht oder wenigstens nicht isoliert besteht. Man ist wie einer, der rückwärts vor einer Gefahr zurückweicht und die Grube nicht sieht, in die er gleich hineinfallen wird.

Das politische Begriffswerkzeug welcher Couleur auch immer ist außerdem nach Jahrzehnten des geistigen Verfalls und postmodernen Stillstandes modisches Accessoire, Must-have, so wie alles Konsumartikel geworden ist. Die einen bevorzugen „Vintage“ oder „Retro“, die anderen „Gothic“, LARP, Fantasy oder „die Mitte der Gesellschaft“, wo immer die liegt. Und alle sind dabei ein bisschen „öko“. Ein nicht geringer Teil lebt an der chaotischen Lage seine ganz privaten Undiszipliniertheiten und Neurosen aus.

Wehe dem, der die Begriffe nicht konsumistisch auffassen will!
Wehe dem, der präzise und logische, „scholastische“ Gedanken formiert!
Wehe dem, der sich in diesem Leben nicht nur einen lasterhaften Zombie-Auftritt genehmigen will.
Wehe dem, der an den Ernst des Gedankens glaubt!

Er wird weder verstanden noch toleriert. Man hält ihn oder sie für wahnsinnig oder „gefährlich“. Hier sind sich die verfeindeten Fronten plötzlich einig.
Der König der Herzen und Gehirne heißt „Parol“.


3. Freimut…

Dennoch gestehe ich ein, dass ich an den Ernst des Gedankens glaube und die Nase voll habe von dieser Veräußerlichung, dieser totalitären Subjektivierung der Welt und diesem plumpen Naturalismus auf allen Ebenen!

Meine Personwürde hängt daran, dass mein Leben nicht nur eine Aneinanderreihung von wechselnden konsumistisch-politischen Moden und Spielchen im rein Sinnlichen ist. Auch dann nicht, wenn sich das Sinnliche einen intellektuellen Anstrich genehmigt. Ich glaube nicht daran, dass man aus dem Sinnlichen und Naturhaften ohne weiteres etwas wahrhaft Geistiges „destillieren“ oder „sublimieren“ kann… Diesem esoterischen Credo kann ich nichts abgewinnen! Wäre dies so, wäre der Tod die Vernichtung jeder Anstrengung der Vergeistigung. Wozu die Anstrengung, wenn all meine Bemühungen im Tod aufgelöst würden? Kann das im Ernst einen Menschen motivieren? Verliere ich mein naturhaftes Fleisch – und jeder verliert es stündlich und lebenslang! - , wo bliebe dann die Prämisse für solche Vergeistigung? Die Realität des aktuellen „Abendlandes“ spricht für sich: man ist nicht motiviert und versackt immer tiefer im Zusammenraffen sinnlicher Befriedigung, materieller „Absicherung“ und moralischer Echauffage über irgendwelche skandalösen anderen … Alles, alles, das Lesen, das Lernen, die Musik, die Religion, die Politik, selbst das Kinderkriegen und Heiraten, alles ist zum Konsumartikel geworden. Die Regale der Läden, auch der virtuellen Läden, sind überquellend voll. Die Seelen aber sind oft so unendlich und schmerzlich leer und gleichen verdorrten Blumen schon in jungen Jahren.

Nötigt uns einer unserer Konsumartikel überraschend doch Haltung ab, erzeugt er in uns unangenehme Fragen, verweist er uns auf die untergegangene Religion, auf den Ordo des aufsteigenden Abendlandes vor Jahrhunderten, auf medial verwaiste Ereignisse der Geschichte, wenden wir uns ab. Wenn in uns aufdämmert, dass nur hierarchisch empor geordnete Verhältnisse auch ein allgemeines Empor ermöglichen, weichen wir spontan zurück, weil wir stolz und kritikunfähig sind. Manche wiederum fühlen sich stante pede dazu berufen, angesichts dieser Erkenntnis andere zu unterwerfen. Mit solcher Art von „Ordnung“ wollen wir – zu Recht - nichts zu tun haben. Der Größte sollte nach den Worten Jesu, wie Er es vorgelebt hat, der Diener aller sein. Das haben machtbewusste Autoritätsfetischisten niemals erfasst. Der gute katholische Hierarch förderte in seinem Bereich jeden subsidiär und maximal. Er lässt sich nicht dienen, sondern dient in höchster Verantwortung. Diese Idee ist unverständlich geworden, auch und besonders unter traditionalistischen Katholiken, denn sie hat nur in der totalen Hingabe an Jesus Christus als Person (nicht als Machtsystem!) überhaupt je ihr Ziel finden können. Solche Hingabe fragt nicht nach der Selbstbefriedigung in einem katholischen „home sweet home“. Das scheint aber die Frage zu sein, die konservative Gemüter erhitzt: man hat ihnen „my home is my castle“ genommen. Sie greinen wie kleine Kinder nach ihren arkadischen Gartenzwergidyllen und verweigern selbst doch die Hingabe an den, der keinen Ort hatte hier, an den Er sein Haupt legen konnte. Der katholische Traditionalist will in aller Regel auch nichts anderes als der Progressive: größer sein als der Herr.
Schon im Sandkasten spielen kleine Buben „Wer wird Chef“ und „Der Bestimmer – das kann nur ich sein!“. Solche widerwärtige Egomanie gepaart mit Religion ist ein wahrer Alptraum. Trifft man im Milieu traditioneller Katholiken auf die Gehorsamsdiskussion, fällt auf, dass viele dort großzügig und teilweise sogar hochaggressiv den Gehorsam anderer fordern, aber selten selbst einfach stillschweigend gehorchen… Der Gipfel der Perversion ist im Piuslager zu finden: die Oberen genehmigen sich selbst „Widerstand“, also Ungehorsam gegen den „Heiligen Vater“ aufgrund eines „Notstandes“, den man eigenmächtig und allgemein postuliert und definiert, fordern aber von den eigenen Anhängern geradezu sektiererisches Gewehr-bei-Fuß ein, mehr als es die Kirche je getan hat und das auch noch auf vulgärstem Niveau. 

Der Frage, auf welcher Basis wir „im Abendland“ leben, wollen wir uns nicht stellen und flüchten ins Moralisieren. Da findet sich immer ein Thema. Solange es noch 2D-Feinde gibt, ist die Welt in Ordnung. Es ist so viel leichter „Nein“ zu etwas zu sagen, als das „Fiat“ („Es geschehe“) der Gottesmutter zu sprechen und einem Entwurf zu folgen, der höher ist als unsere Vernunft.

Das Ziel unseres Lebens kann nur der Himmel sein. Kein Himmel, in dem man fressen, saufen und huren darf, wie das manche Religion vorstellt, wo es einfach so weitergeht wie auf Erden, bloß noch partymäßiger, sondern in dem die selige Anschauung Gottes, die endgültige Erhebung zu und Vereinigung mit Gott, die alles übersteigt, was wir hier kennen, meine Erfüllung sein wird.

Tief lag dies in mir verborgen von Anfang an. In Dir nicht, lieber Leser? Kennst Du diese Sehnsucht denn nicht auch? Nur danach habe ich mich ausgestreckt in all meiner Schwäche. In ein „Empor“, das ohne Läuterung nicht geschehen kann.
Ein begrenztes Erdenleben, über das ich aber hinauszudenken vermag, als einziges Gattungswesen hinzudenken vermag, kann in sich selbst kein endgültiges Ziel sein! Es ist Prüfung; Schulung und Reinigung … oder eben vertane Zeit. Man kann die Zeit auf hohem Niveau vertun. Meine Natur hielt Ausschau nach dem Übernatürlichen und nach der Huld Gottes. Sie seufzte danach, das Gewand zu erhalten, das über den Tod hinaus rettet…


4. Europas Zukunft an der „Platform Nine and Three Quarters“

Der Boden fürs Surreale ist unterdessen vorbereitet. Lange schon. Der Bruch mit dem realen Abendland erfolgte, seitdem es ein Abendland gab. Das christliche Abendland fußt auf dem römischen Reich, aber der es ablöste, der Papst und die Kirche, verlor es immer wieder an den Kaiser, die Fürsten, später die Nationen, Revolutionen und Führer. Eine Konvulsion folgte auf die andere. Jede war schlimmer als die vorige. Und dann gab es den europäischen Nordosten, der nicht zu Rom gehörte… ein europäisches Zweit-Thema für sich, dessen Brisanz keineswegs „erledigt“ ist mit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“. Manche bilden sich ein, das Licht käme nun aus dem Nordosten, was ich für eine kindische Illusion halte.
Wo ist das Abendland heute? Und vor allem: welches Abendland? Welches der historischen und gegenwärtigen Abendländer?

Welches Abendland wollen wir?
Das für die Botschaft Jesu Christi offene Abendland? Gab es das pauschal jemals? Oder wirkte die Kirche in einigen Menschen segensreich, so sehr, dass sie wie einst die fünf Brote und die zwei Fische Millionen von Menschen dienen konnten?
Wollen wir die Machtkämpfe Karls des Großen, die bis heute Gegenstand der historischen Forschung bleiben in all ihrer Doppelbödigkeit?
Das Abendland des frühen christlichen Mittelalters zur Zeit der Ottonen?
Das des Investiturstreites?
Das der Renaissance mit ihren genialen Kunstschöpfungen, Entdeckungen, Gewaltexzessen und der beginnenden Hybris?
Das der Reformation, die vor allem religiöse Entzweiung, drei Jahrzehnte Krieg, Blut und Verzweiflung und eine gigantische konfessionelle Zersplitterung gesät hat?
Oder das des aufgeklärten Absolutismus mit seinen hurenden, fressenden und die Landeskinder in sinnlosen Thronstreitigkeiten verheizenden Monarchen?
Oder wollen wir das Europa der französischen Revolution mit seiner Perversität, den Massenmorden an allem und jedem, der nicht dem Diktat der „Nation“ folgen wollte?
Wollen wir das chaotische 19. Jh wieder mit seinen Nationalismen und der sozialen Verelendung der Arbeiter?
Niemand kann das Abendland im 20. Jh wieder zurückholen wollen. Niemand!
Oder picken wir uns einen der wirklich guten und christlichen Fürsten heraus, die es tatsächlich auch gab, und stellen uns vor, „früher“ sei alles so gewesen wie in dessen kurzer Regierungsspanne, verkennend, dass es der Herr selbst war, der deren Wirken zum fruchtbaren Segen werden ließ?
Der „Kontinent“, der die Zeit ab der Menschwerdung des Herrn rechnete und nach wie vor rechnet, wurde reich beschenkt und hat sich doch so oft und immer infernalischer am Ende missbräuchlich berauscht an dem, was ihm einst zur sorgsamen Pflege anvertraut war: die Sakramente, das heilige Messopfer, die Rettung der Seelen…

Wenn ich einen Wunsch äußern dürfte: ich wollte das benediktinische Europa, die Zivilisierung und Erhebung des Kontinents im „Ora et labora“ des heiligen Benedikt von Nursia wieder haben, wenn es nur ginge.

O mein Gott – welches Abendland meinen wir aber gemeinhin, wenn wir von Europa sprechen?
Oder meinen wir nur noch ein wurzelloses Konstrukt, in dem permanent Machtverhältnisse „aufgebrochen“, Konflikte inszeniert werden, um im verordneten, artifiziellen „Aufbruch“ zu sein? Dekonstruktion im Verbund mit Beschleunigung, eine Art suizidaler Euro-Buddhismus, an dessen Ende die Erkenntnis steht, dass alles Illusion war und die personale Selbstauflösung die einzige Rettung aus dem Rad des Lebens, das von Gier, Hass und Ignoranz angetrieben wird, sein kann?
Oder einen Schmelztiegel, der keinen Menschen mehr das sein lässt, was er von sich aus gerne sein wollte? Weder den Fremden noch den Einheimischen?
Europa als Falle, das mit sinnlichen Freuden lockt und hernach die armen Seelen in Kröten und hässliche Zwerge verwandelt und in seine Verließe bannt?
Ist es das, was wir meinen?
Wo ist der Einstieg in dieses wunderbare Abendland?
Die Fantasy-Literatur hat uns längst eine Flucht in die europäische „Anderwelt“ herbeigeschrieben:
Wir steigen am „Gleis Neundreiviertel“ (Harry Potter) sowohl ein als auch aus, hinein und wieder heraus aus der abendländisch-permanent-aufbrechenden Grauwelt in die fantastische, regenbogenfarbene Konsumwelt hinter dem Gleis Neundreiviertel, in der auch noch der letzte Loser gewinnt, irgendwie gewinnt, auch wenn er dazu seine Seele verkaufen muss. Er kehrt als Schwanzlurch zurück, wird zum Papiertiger umgeformt, um sich nach Schichtende schnell wieder auf Gleis Neundreiviertel zu beamen und als supertapferer und erfolgreicher Jack Sparrow-Pirat im Magic-Modus zwischen den Welten weiterzuspielen.
Zum Trost gibt es seit einiger Zeit das Spielelement der „mehreren Leben“... in Computerspielen, Fantasy- , Science-Fictionfilmen und Gothic-Ritter- oder Warrior-Cats-Romanen.
Und im Wellnesskurs um die Ecke erhält man die Einführung in Sachen Reinkarnation und Karma gratis. Weil von einem einzigen, armen Leben nichts mehr zu erwarten ist, erhalten wir die nötige spirituelle, für europäische Schwachbrüste zurecht gebürstete Unterlage, um weiterzukriechen. Irgendwie weiterzumachen. Und immerhin dürfen wir essen, trinken und sexen bis zum Abwinken. Das ist doch schon mal was.
Wir sind halbtot. Oder neundreiviertel-tot.


5. Fragen über Fragen

Ja, ich, ich habe noch viele Fragen… Sehr viele Fragen.
Aber eines steht mir deutlich vor Augen:
Der gesamte Verlauf der abendländischen Geschichte ist  - im Gegensatz zu allen anderen Erdteilen – von Anfang an apokalyptisch. Das Geheimnis der Bosheit hat hier parallel zur Entfaltung des katholischen Glaubens gewirkt – beides mit erhöhter Kraft.
Wir hatten die Wahl zwischen der reinen und erhabenen Himmelskönigin Maria und der lüsternen Prinzessin Europa.
Die Dummheit und Hübschheit der Prinzessin Europa scheint uns näher zu stehen als die Schönheit und Weisheit der Gottesmutter.
Irgendwann wird man nicht mehr nach Europa suchen.
Ob dann aber eine neue Stadt auf Erden gegründet werden kann an ihrer Stelle – das vermag ich nicht zu glauben.
Vielleicht werden sich viele wundern, dass die wahre Stadt, das himmlische Jerusalem, unsere „Mutter“, die Stadt Saras, die Gott selbst „Herrin“ – ein Vorauswurf der Jungfrau Maria - nannte, die „Freie“, eben doch nicht auf Erden, wie Johannes XXIII. es verfälschend in der Eröffnungsrede zum Vaticanum II darstellte, sondern im Himmel aufgerichtet wurde – wie es der Völkerapostel Paulus von Tarsus im Galater- und im Hebräerbrief und der reine Apostel Johannes in der Geheimen Offenbarung einst vorhersahen.

© April 2015 by Hanna Maria Jüngling