Sonntag, 17. Februar 2013

Lunatic Performance

 
Die Brezn in Hannover
 
Als Frau H. aus München nach Hannover umzog, war das erste, was ihr unangenehm auffiel, dass es an diesem Ort alle möglichen gradlinigen Dinge wie zum Beispiel den zweitgrößten Stadtwald Europas und das beste Deutsch auf Erden gibt – aber keine Brezn. Sie durchsuchte die ganze Stadt und musste sich eingestehen, dass die meisten nicht mal wussten, was eine echte Brezn ist. Man reichte ihr Tüten mit kleinen salzigen Partybrezeln über den Ladentisch, oder ausgestochenes Teegebäck in einer sterilen Nachbildung aus Mürbteig. Am schlimmsten waren diese unförmig verschlungenen, mandelbesplitterten Süßgebäcke, die angeblich aus Russland stammten. Heftiges Heimweh beschlich Frau H. und sie bereute, dass sie in diese Stadt gezogen war, der die Grundvoraussetzungen zum behaglichen Leben fehlten. Ein mitfühlender amerikanischer Freund schenkte ihr eines Tages zum Trost eine Tüte voll „German Pretzels“ mit P und tz, produced in the United States. Sie nahm die Aufmerksamkeit gerührt und wehmütig entgegen.

Ach, wie schön ist es doch in Süddeutschland, dem Paradies, in dem nicht nur die Erschaffung des Menschen, sondern auch herbstliche Bierfeste unter freiem Himmel auf grünem Rasen überliefert werden! So sitzt der Mensch zwischen den Stühlen, ist da unzufrieden, wo er herkommt und zieht davon. Doch an dem Ort, an dem er sich dann niederlässt, fehlt ihm die alte Heimat, und sie gewinnt in der Erinnerung die Qualitäten des Himmelreiches.
Aber unsere Frau H. war eine Dame mit Leistungsbereitschaft und Vorstellungskraft. Eines morgens fuhr sie, um ihr Heimweh zu kontrollieren, im Alten Aufzug von 1913 auf den Turm des Neuen Rathauses. Von der Aussichtsplattform aus ließ sie ihren Blick über das Panorama schweifen wie ein Radarschirm auf der Suche nach leisen Bewegungen. Wer scharf hinsieht, wird meistens fündig. So auch Frau H. – während sie gedankenverloren einen Punkt anstarrte, den sie später nicht mehr benennen konnte, erschien es ihr, als hinge an einem Seidenfaden eine begehrenswerte bayerische Brezn vom Himmel herab. Sie riss ihre Augen auf und schaute ein zweites Mal, voller Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer sinnlichen Wahrnehmung und doch mit dem charakteristischen Geschmack des Laugengebäcks auf dem Zungengrund. Ihr fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als sie an einer anderen Stelle innerhalb ihres Blickfeldes eine zweite Brezn hängen sah. Ihr Kopf rotierte hin und her, sie schaute und schaute, bis der ganze Himmel voller Brezeln hing. Frau H. entfuhr ein fassungsloses: „Ah-!“ Einige US-Touristen in aufreizend kurzen Hosen wandten sich ihr überrascht zu. Frau H. zeigte ins Weite und stotterte: „Da – da – das ist ja wie im Puppentheater. Eine Brezn neben der andern an Schnüren - vom Himmel. Da - schauens doch nach vorne – da….“ Ein Mann verstand, was sie sagte und kriegte den Mund nicht mehr zu: „O my God!“ rief er und rüttelte seine Landsleute an den Schultern. „Look at that lunatic performance!“ Er klatschte sich auf die nackten Schenkel und brach in brüllendes Gelächter aus. „Bavarian Pretzel is over the moon!“ Die ganze Gesellschaft schaukelte sich in eine bizarre Stimmung hoch, riss einen Witz nach dem andern, zückte die Kameras, die Luft schwirrte von „Marvellous“-Rufen und “Me and the wonder of the Pretzels - take a picture!” und explodierte in immer neuen Lachsalven. Schließlich wurde Frau H. an den Rand der Aussichtsplattform gestellt und von zehn Fotoapparaten vor dem Hannoveraner Brezelhimmel festgehalten – eine Deutsche allein unter Brezeln. Frau H. wusste nicht, wie ihr geschah. Die Marionettenbrezeln, das Blitzlichtgewitter, die Amerikaner - sie glaubte, verrückt geworden zu sein. Während die Touristen noch filmten und alberten, schlich sie sich davon, fuhr im Aufzug nach unten und begab sich schnurstracks ins psychiatrische Krankenhaus in die Notfallambulanz. Den ganzen Weg lang raschelten die Brezeln hoch über ihr und wiegten sich leise in den Luftbewegungen. Es war eine eigene, seltsam trockene Musik, ein Brezelwindspiel, immer wieder fielen Salzkörner herab und streichelten Frau H.s Gesicht. 

Als die verstörte Münchnerin sich an der Pforte des Hospitals einfand, stand dort schon eine Schlange aufgeriebener Menschen. Sie alle sahen Brezeln und zweifelten an ihrem Verstand. Der Pförtner ging draußen vor dem Gebäude auf und ab, den Kopf im Nacken und blickte in den Himmel. „Alles voller Breeezeln“, sagte er ein ums andere Mal und betonte dabei ganz übermäßig das e. Frau H. korrigierte ihn: „Das e musst kurz sagen, es heißt „Brezn“ oder „Brezel““. Er winkte ab und zeigte in die Auffahrt: dort hatte sich ein Wagen des Norddeutschen Rundfunks eingefunden und filmte bereits die Vorgänge am Himmel und auf Erden. Ein Arzt mit Glatze und weißem Kittel forderte die Menschen auf, nach Hause zu gehen. Es sei alles okay, keiner müsse um seine Gesundheit fürchten. Frau H. bestand darauf, Urheberin des Brezelwunders zu sein und rührte sich nicht von der Stelle, bis sie von einer süßen jungen Radio-Praktikantin befragt wurde. Das Interview kam noch am selben Tag in voller Länge im dritten Programm und wurde weltweit in jeder Nachrichtensendung erwähnt. 

Liebe Leser, wir können uns ausmalen, wie es weiterging, denn vor allem anderen geht es ums Geld: Hannover wurde Anziehungspunkt für Suchende aus aller Welt. Schamanisten, Altachtundsechziger, Transsexuelle, Orakel, Yogis, Comic-Fans, Mittelalterdarsteller und Bierliebhaber fielen in Horden ein. Alle wollten den Himmel voller Brezeln hängen sehen. Aber die Gunst der Brezelstunde hatte noch am selben Abend ihr Ende gefunden und es erschien keine Brezel mehr am Himmel. Es versteht sich von selbst, dass sich in Hannover seither die Bäckereien überschlagen, echte bayerische oder badische oder schwäbische Brezeln anzubieten. Hannover ohne Brezeln – das kann sich heute niemand mehr vorstellen. Die Brezel – ein Symbol von unabsehbarer Tragweite. Inzwischen wird sogar einmal jährlich eine Brezelkönigin gewählt. Es gibt ein Wettbrezeln auf der Leine, mit den holzgeschnitzten Brezellarven ist die alemannische Fasnet im Norden eingezogen und unter dem Unendlichkeitssymbol der Brezel findet alle zwei Jahre ein internationaler Esoteriker-Kongress statt. Eine Seherin aus der Region hat das nächste Datum für eine Brezelerscheinung in Hannover vorausgesagt: in 173 Jahren auf den Tag genau am 4. April. In Bayern konnte ein Volkskundler nachweisen, dass schon der Mühlhiasl das Wunder angedeutet hatte. Irgendwann tauchte in den USA eine neue Psychotechnik auf – das „Pretzelling“, das einen Siegenszug in der westlichen Welt angetreten hat, der seinesgleichen sucht.

Und Frau H.? Sie wurde „abständig“, wie Heidegger gesagt hätte. Sie wollte nicht aufgehen in der anonymen, allgemeinen Brezelei, vor allem nicht in Hannover. Sie packte ihre Sachen und zog zurück nach München. Dort hängen die Brezn einfach achtlos überall herum. Man backt sie, kauft sie, isst sie und vergisst sie.
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