Donnerstag, 22. September 2016

Das Rätsel der Hagia Sophia



Das Rätsel von der Heiligen Weisheit
Zu einem Gedankengang Erhart Kästners im „Aufstand der Dinge“

I. Der Hunger nach "mehr" Weisheit: Eva und Adam

Der Wunsch nach Weisheit und Erkenntnis durchzieht die gesamte Heilige Schrift. Uns wird von der Genesis an bis weit ins Neue Testament hinein das Streben nach Weisheit als der Dreh- und Angelpunkt  menschlicher Güte und Bosheit geschildert.

Der erste Mensch, der seine Erkenntnis und die damit verbundene Weisheit „vergrößern“ will, als ob Weisheit vermindert oder vermehrt werden könnte (!), ist die von der Schlange betörte Eva im Garten Eden. Nur darum greift sie zu der verbotenen Frucht und isst sie: im Inventar ihrer Erkenntnisse fehlt ihr – vergiftet von der Zurücksetzung durch die Schlange und das Stillschweigen Adams - etwas, und das will sie unbedingt „hinzuerwerben“. Aber immerhin teilt sie es gerne mit dem anderen Menschen, dem Mann. Und der greift ohne jedes erkennbare Nachdenken und ohne irgendein Wort zu sagen, blitzschnell zu. Zu frag- und bedenkenlos greift er zu…
Warum tat er das so unmittelbar und ohne zu zögern? 

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Das göttliche Gebot zur Zurückhaltung vergaß er in dem Augenblick, in dem es darum ging, dass er nun das Schlusslicht im Wettbewerb der Erkenntnis-Vermehrung sein könnte. Der Neid war ins Herz des Mannes eingezogen: Nicht dass womöglich Eva nun weiser war als er! Also auch er war abgefallen und glaubte, Weisheit könne man vermehren oder vermindern und darum zum Gegenstand des Wetteiferns und der Machtausübung machen. „Wissen ist Macht“ – dieser Satz stammt direkt von Adam. Gottes Schlusskommentar zum Geschehen ist denn auch voller beißender Ironie: „Seht doch nur, Adam ist geworden wie unsereins! Er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nur nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt und isst und ewig lebt!“ (Gen 3, 22).
Die Weisheit hatten sie verloren.

II. Die Sehnsucht nach der verlorenen Weisheit: König Salomo und die Königin von Saba

Gutes und Böses wollte Eva unterscheiden können, aber damit war es wohl nicht so weit her nach dem Genuss der Frucht… Warum sonst hätte der liebenswerte Davidssohn Salomo auf Gottes Aufforderung, von ihm etwas zu erbitten, die folgende Antwort gegeben:
„Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und Gutes vom Bösen zu unterscheiden versteht.“ (1. Könige 3, 9)
Gott gewährt ihm diese Bitte „um Einsicht“ und „um auf das Recht hören“ (V. 11):
„Siehe, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht.“ (V. 12)
Salomo fällt danach salomonische Urteile und erwirbt einen sagenhaften Ruf bis an die Enden der Erde. Jeder weiß von der legendären Begegnung zwischen der Königin von Saba und Salomo. Die Königin von Saba, selbst eine große Erkenntnisliebhaberin, reist extra mit großen Gefolge und vielen Geschenken um seiner Weisheit willen nach Jerusalem, um sich davon zu überzeugen, ob sein Ruf wahr ist. „Ihr stockte der Atem“, wird uns berichtet, als sie mit Salomo sprach und sah, wie er dem Herrn einen prächtigen Tempel gebaut hatte.
„Deine Weisheit und deine Vorzüge übertreffen alles, was ich gehört habe. (…) Weil Jahwe Israel ewig liebt, hat er dich zum König bestellt, damit du Recht und Gerechtigkeit übst.“ (1. Kön 10, 7 + 9)

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III. Die Weisheit und das hörende Herz

Die Verbindung von Weisheit und Gerechtigkeit wird deutlich. Ein Weiser, ein wirklich kluger und einsichtiger Mensch, muss auch gerecht sein. Weisheit ist die Frucht der Gottesfurcht.
Salomo und die Königin von Saba erscheinen für einen Moment des Äons fern des Paradieses wie eine Vision des wieder aufgerichteten ersten Menschenpaares. Die Fraukönigin ersehnt das unauffindbare Kleinod eines wirklich klugen und rechtschaffenen Mannes und findet es in Jerusalem. Und Salomo, der König Israels, dessen Name „Frieden“ bedeutet, überstellt dieser Frau, die fast wie eine himmlische Gestalt noch einmal seine Weisheit zur Entfaltung bringt, alles, was sie nur begehrt, ohne zu zögern, ohne etwas zu verweigern oder zurückzuhalten, denn es gab „nichts, was dem König verborgen war und was er ihr nicht hätte sagen können“ (V. 3) und er „gewährte der Königin von Saba alles, was sie wünschte und begehrte.“ (V. 13)
Der König beschenkt die Königin, so heißt es abschließend im selben Vers, „wie es nur der König Salomo vermochte“.
Doch sie reist wieder ab in ihr Land.
Der Zauber wiederhergestellter Menschlichkeit konnte nicht bleiben unter den Bedingungen dieses Äons. Das wusste diese Frau.
Ja, Gott gab dem Salomo „Weisheit und Einsicht in hohem Maß und Weite des Herzens – wie Sand am Strand des Meeres.“ (1. Kön 5, 9)
In dieser Ausstattung ist er ein Vorläufer der wahren Weisheit, die in Christus aus der Jungfrau Maria in unser Fleisch zu uns als vollkommene Gestalt kam. Salomo besaß Weisheit „in hohem Maße“, mehr als alle anderen Menschen, aber Christus war die Weisheit selbst und machte Maria zum Thron seiner Weisheit, zur „sedes sapientiae“. Salomo ist der direkte oder indirekte Verfasser der Weisheitsliteratur des Alten Testamentes.
Weisheit ist ein Überbegriff über alles organische und lebendige theoretische und praktische Erkennen, über die Fähigkeit, sich ihr vollkommen anzuvertrauen und das, was sie eingibt, gestalterisch in den Lebensvollzug zu integrieren ohne Vorbehalt und Zögern. Salomos Weisheit führt direkt zu einer Befriedung der politischen Verhältnisse (1. Kön 5, 26).

IV. Weisheit gebiert Frieden – Stolz gebiert Krieg

Doch der König Salomo, der die Schönheit und das Königtum der Frau in ihrer ganzen Größe und Wahrheit verstand, erlag der Selbstüberhebung. Er war süchtig nach der Frau, nach der Frau aus allen Völkern, er umgab sich mit Frauen, und der ungute Drang, den Zauber der Frau in der Sexualität, selbst in einer wohl kaum mit jeder einzelnen gelebten Sexualität, zu bannen, überwältigte ihn:
„Er hatte 700 fürstliche Frauen und 300 Nebenfrauen. Sie machten sein Herz abtrünnig.“ (1. Kön 11, 3) Er ergab sich den Götzen der verschiedenen Frauen und „teilte“ sein Herz: es schlug nicht mehr alleine für den einzigen, unteilbaren Gott, der doch die Weisheit ist!
Das Buch der Könige berichtet, dass Gott dem König Bundesbruch vorwirft und ihm ein Gericht verheißt: er will ihm das Königtum, das er doch David auf ewig verheißen hat, entreißen.
Die Weisheit ist eine und unteilbar, man kann ihr nur ganz oder gar nicht angehören. Wer weise ist, kann nur eine Frau haben, denn sie ist Hort der Weisheit, wenn sie ein hörendes Herz hat. Und wehe dem, der sich an ihr vergeht… Ihm ergeht es schlimmer als einem, der sie nie kannte und aus Unvermögen und Dummheit sündigt. Gott kündigt an, was geschehen wird: Israels Königtum wird in die Hände der Knechte gelangen. Nur ein einziger Stamm soll in der Hand der Nachkommen Davids bleiben um der Verheißung willen, die Gott ihrem Stammvater gegeben hatte. Und sofort schwindet auch der politische Frieden. Salomo beschließt seine späten Tage mit Kriegen, die seine Nachbarn über ihn bringen und mit einem vor Neid zerfressenen Herzen, das ihn danach trachten lässt, den Beamten Jerobeam, den Gott ihm schon angekündigt hat als den künftigen König und der sich gegen ihn erhebt, zu töten. Der Friede war mit der Weisheit ausgezogen.

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V. Weisheit und die Gabe der Unterscheidung der Geister

Wir lernen daraus, dass es einen Frieden ohne Weisheit und Gerechtigkeit nicht gibt. Diese Weisheit aber kann niemand sich selbst geben. Sie ist eine Gottesgabe. Es wundert daher nicht, dass die „Unterscheidung der Geister“, die „discretio spirituum“, im Neuen Testament eine Geistesgabe, ein Charisma ist, das Gott alleine verleihen kann.
Man fragt sich betroffen, warum Salomo, der doch der weiseste Mensch gewesen sein soll, am Ende der Weisheit verlorenging. In seiner Weisheit wurde er zum Narren. Der Grund für seinen Verlust ist derselbe wie der bei Adam: er hat Gott, der doch die Weisheit ist, nicht gehorcht und sich selbst über die Unterwerfung und Stilisierung der Frau zum Götzen der Weisheit gemacht. Die Königin von Saba ließ sich einst nicht missbrauchen für diesen Zweck und auch nicht vergötzen, denn sie reiste wieder ab „in ihr Land“. Sie wurde keine Haremsdame der selbsternannten Weisheit und ordnete sich dem weisen König auch nicht unter, denn nur Gott alleine verdient diese Unterordnung unter die Weisheit.

VI. Weisheit und Demut

Die Weisheit hängt innig mit der Demut zusammen. Wer weise ist, ist auch demütig. Von Jesus heißt es, dass er „von Herzen demütig“ sei (Mt 11, 29). Die wahre Weisheit ist auch die wahre Demut in Person. Demut aber ist Dienstbereitschaft. Als Salomo mit der Königin von Saba alles teilte, was ihm geschenkt worden war, war er noch dienstbereit. Als er Frauen sammelte, als er sie besitzen wollte, als er nicht mehr teilte, sondern herrschen wollte, verlor er das Königtum. Das Königtum Christi ist darum „nicht von dieser Welt“, nicht an solcher Herrschaft interessiert.

Wahre Demut aber kennt sich selbst ebenso wenig wie wahre Weisheit sich selbst kennen kann. Wir wissen, dass Sätze wie „Ich bin demütig“ oder „Ich bin weise“ förmlicher Beweis dafür sind, dass der, der sie sagt, weder demütig noch weise ist (unser Herr ausgenommen).

Wer sich selbst womöglich noch von Natur aus für „weise(r)“ ansieht, liegt quer zur neutestamentlichen Mahnung: „Bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für weise!“ (1. Kor 12, 16)
An dieser Aufforderung lasen auch in der Kirche die größten Philosophen gerne vorbei (s.u.).

VII. Weisheit und Macht: Weisheit und Torheit wie in einem Vexierbild

Die „discretio spirituum“, die „Unterscheidung der Geister“ ist Geistesgabe und wird dann verliehen, wenn Gott es will. Nur dann. Man „hat“ sie nicht, sondern sie wird zuteil. Wer sie „haben“ will oder sie sich wesenhaft womöglich noch selbst zuschreibt, verliert sie sofort. Besonders gefährlich ist die Verklammerung von angeblicher Weisheit und Macht.
Man muss hier auch einige Frage stellen bei der von bestimmten Kräften in der Kirche verabsolutierten Philosophie Thomas von Aquins. Auch er setzte voraus, dass der, der empirisch herrsche, herrschen müsse und solle, weil er „weiser“ sei als die, über die er herrscht. „Herrschaft“ heißt hier förmlich „weiser sein“ (s.th. Ia 92 a. 1 arg. 2), wohl zum Nutzen des Beherrschten, aber um den Lohn der Überheblichkeit, die sich seinsmäßig erhaben wähnt über den, dem sie „dient“. Der unter den alten Kirchenvätern eher verbreiteten Sicht, dass solche Herrschaftsgefüge eine Folge der Sünde seien, hält er entgegen, dieser hierarchische Zustand zwischen den Menschen habe so schon vor dem Sündenfall bestanden. Nur die Umkehr des Herrschens in eine Lebensform, die sich dienen lässt und nicht dient, sei Folge der Sünde. Überlegene Weisheit und Würde behandelt er sogar wie ein Wesenmerkmal, das angeboren sei. So sei etwa der Mann grundsätzlich und wesenhaft „würdiger“ und „weiser“ als die Frau. Nun zeugen solche Gedanken nicht nur von einer peinlichen Arroganz und maskulinem Narzissmus, sondern auch von einem gefährlichen Hochmut.

Immerhin finden wir solche Gedanken nicht im Befund der Heiligen Schrift, sondern das Gegenteil scheint dort zu finden zu sein. Wir hören immer wieder davon, dass die Weisen der Welt in ihrer Weisheit vor Gott Toren geworden seien:
„Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr. Keiner täusche sich selbst. Wenn einer unter euch meint, er sei weise in dieser Welt, dann werde er töricht, um weise zu werden.
Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott. In der Schrift steht nämlich: Er fängt die Weisen in ihrer eigenen List.
Und an einer anderen Stelle: Der Herr kennt die Gedanken der Weisen; er weiß, sie sind nichtig.“ (1. Kor 3, 17 ff)
Von einem ebensolchen, beinahe unbeschreiblichen Überlegenheitsdünkel gegenüber dem Rest der Menschheit ist auch der Islam gezeichnet, der uns darin immer mehr zum Problem wird, uns leider aber unsere eigenen Verfehlungen überzeichnend vor Augen hält wie ein Gottesgericht:

VIII. Erhart Kästners „Aufstand der Dinge“ von 1973: Die Hagia Sophia als Mahnmal des Weisheitshochmuts der Christen


Ich stieß neulich auf eine Stelle in den „Byzantinischen Aufzeichnungen“, die Erhart Kästner 1973 unter dem Titel „Aufstand der Dinge“ als letztes großes Werk vor seinem Tod veröffentlichen konnte. Er beginnt sein Buch mit dem Text „Gotteshaus gottlos“ und beschreibt darin den Zustand der Hagia Sophia, als er sie besuchte, die 1935 unter Ata Türk zum Museum gemacht, endgültig gottleer wurde.
Der moderne Besucher spürt dennoch das „Numen“ in ihr, die ehemals erbetene und gefeierte und geheimnisvolle Präsenz Gottes, die niemand löschen kann, die aber dennoch nun vollends geleugnet wurde und sich nur dem noch mitteilt, der den inneren Menschen dafür öffnet. Einen irdischen Mittler gibt es nicht mehr.

Das nächste Kapitel kommt gleich zur Sache und ist mit dem einfachen Wort „Macht“ überschrieben. Kästner entwirft einen ganz anderen Begriff von „Macht“ und echter „Weisheit“, als dies aus den an dieser Stelle so dumpfen Vorstellungen des Thomas abgeleitet werden muss.
„Macht“ ist nicht Übermacht oder Überlegenheit über andere, ist nicht „Herr-Sein“, auch nicht eine überheblich-paternalistische „Dienstbereitschaft“, die doch nur getarnte Herrscherlichkeit sein will, sondern:
„Zu Macht kommen heißt, zu seiner höchsten Möglichkeit kommen. In Macht sein: Sonnenhochstand. Macht: eines Dinges großer Moment, seine Glücksstunde. Macht: wenn etwas ganz bei sich selbst ist.“ (Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1976. S. 24)
Justinian also, der diesen Dom baute, war mächtig. Aber war es eine Macht, wie Kästner sie zeichnete?
Er schreitet fort und fragt:
„Wer ist das, die heilige Weisheit“? (S. 37)

Was er entfaltet, liest sich wie eine zunehmende Verdüsterung eines historischen Sachverhaltes.
Er beginnt den Abstieg in den irdischen Orkus christlicher Verfehlung der heiligen Weisheit mit der Feststellung, dass es bezeichnend sei, dass niemand nach ihr frage, nach ihr, der heiligen Weisheit. Man rede immer nur über all die vielen Menschen, die ihr Können in die Waagschalen geworfen haben, um diese Manifestation menschlicher Größe zu erbauen.
Er zitiert Prokop, der immer angeführt werde mit den Worten Justinians, der bei der Einweihung des Doms am Weihnachtsfest im Jahr 537 gerufen habe, er habe den vormaligen Erbauer des Tempels in Jerusalem, den König Salomo, - wir erinnern uns: der mit Weisheit begabt wurde und sie verspielte - , nun übertroffen mit diesem Bau:
„Ruhm und Ehre dem Allerhöchsten, der mich für würdig hielt, ein solches Werk zu vollenden. Salomo, ich habe Dich übertroffen.“
Es ließe sich unendlich viel sagen über den genialen Kuppelbau, der Vorbild für den Typus der noch heute überall anzutreffenden Moscheebauten wurde, über den enormen Aufwand, mit dem in doch wenigen Jahren dieser gigantische Dom entworfen und fertiggestellt wurde. Allein – Kästners Erwähnung alles dessen bleibt seltsam trüb, denn er hat noch etwas vor Augen, das ihn umtreibt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Hagia_Sophia

IX. Die Unerforschlichkeit der Weisheit Gottes

Kästner stößt bitter auf, dass dieser Bau, der den Bau Salomos übertreffen wollte, den demütigen Umgang mit der unerforschlichen Weisheit Gottes geradezu konterkariert hat und vielleicht darum, auch wenn Gott lange Geduld hatte,  gestürzt wurde, erst in die Niederung des Bethauses einer puren Machtreligion und schließlich sogar in die totale Säkularisierung.
Salomo erhielt von Gott die Erlaubnis, ihm einen Tempel zu bauen, nachdem der Allerhöchste sie David verwehrt hatte… David habe, sagte der Herr, Kriege geführt und Blut vergossen: „Du sollst meinem Namen kein Haus bauen; denn du hast Kriege geführt und Blut vergossen.“ (1. Chr 28, 3)
Wer ist würdig, dem Herrn ein Haus zu bauen, wo es doch der Herr ist, der uns ein Haus gebaut hat? Wer menschliches Blut vergossen hat aber, ist niemals würdig, dem Herrn ein Haus zu bauen. David erkannte das an und teilte es genauso dem Volk mit. Darum sollte Salomo, der unschuldig war und noch rein, den Tempel bauen.
Was ist zu halten von christlichen „Stellvertretern Christi“, an deren Händen Blut klebt?

https://en.wikipedia.org/wiki/Justinian_I

Kästner bezweifelt wohl zu Recht, dass Justinian sich nur einen Moment mit der Unerforschlichkeit der Heiligen Weisheit befasst hat:
„War das der Gedanke des allerchristlichsten Kaisers? Des Weltherrschers? Des Nachfolgers der Cäsaren, der es übernommen hatte, im Namen Christi zu herrschen, zu handeln, Entschlüsse zu fassen, da das verheißene Ende aller Dinge nicht kam? Es musste ihm fernliegen… (…) Die Unerforschlichkeit Gottes könnte beschwiegen, kaum gebaut werden.“ (S. 38 f)
Aber das ist noch nicht alles, was ihn befremdet.

X. …aus dem blutigsten Vorgang die Kirche wuchs

„Dass aus dem blutigsten Vorgang die Kirche wuchs, die uns der Inbegriff von Macht und Milde zu sein scheint: ein Rätsel, nicht wegzuschieben.“
Kästner referiert die fünf Tage des Nika-Aufstandes im Jahr 532, in dessen Folge die alte Basilika der Hagia Sophia verbrannte. Der Nika-Aufstand richtete sich gegen die strenge und willkürliche Herrschaft Justinians und schien diese Willkür auch in einer eigenen fehlenden Zielgerichtetheit wiederzuspiegeln. Auslöser war die Hinrichtung einiger Unruhestifter in Sachen verfehlter Politik des Kaisers und das Versagen der Henkerswerkzeuge bei zweien von ihnen, worin das Volk einen Fingerzeig Gottes sah und um deren Begnadigung bat. Justinian blieb hart und wollte „durchregieren“. Die beiden Verurteilten wurden von Mönchen in einem Kloster in Sicherheit gebracht. Das Volk wurde immer unruhiger, forderte die Amtsenthebungen ihrer schlimmsten Peiniger unter den Regierungsbeamten, was Justinian erfüllte, aber der Volkszorn war zu lange provoziert worden und nicht mehr zu bremsen. Auch müssen vielschichtige Verschränkungen der Zusammenhänge angenommen werden, die eine Beruhigung kaum mehr möglich erscheinen ließen. Justinian dachte offenbar an Abdankung, nachdem das gesamte Palastviertel von Aufständischen vollkommen niedergebrannt wurde. Ob er wirklich von Kaiserin Theodora zum Weitermachen überzeugt wurde, mag man auf sich beruhen lassen. Jedenfalls rief er das Volk im Hippodrom, der großen Pferderennarena, zusammen. Das Volk kam zusammen, und Justinian bot den Aufständischen nach einer Einigung Straffreiheit an. Doch konnte man sich nicht einigen und draußen wurde ein Gegenkaiser ausgerufen, den das Volk im Hippodrom, eben noch im Gespräch mit dem alten Kaiser, nun frenetisch feiern wollte. In Wirren und Frontwechseln einzelner Personen und Gruppen kam es unter der Leitung Kaisertreuer im Hippodrom, dessen Eingänge man verrammelte, nachdem Sschwerbewaffnete eingedrungen waren, zu einem der größten Massaker der Spätantike, bei dem 30 000 bis 40 000 wehrlose Männer getötet wurden. Es war eine Schandtat.
Am Tag danach befahl Justinian den Abbruch der verkohlten Reste der Vorgängerkirche. Nach 40 Tagen wurde der Grundstein für die Hagia Sophia gelegt.
 „Großmord und Bau der Hagia Sophia, das ist leider untrennbar. Um Himmels willen: Welche Heilige Weisheit konnte denn also gemeint sein?“ (S. 44)
Kästner reflektiert die ambivalente Persönlichkeit, die spätantike Quellen von Justinian zeichnen. Ein unerbittlicher hartnäckiger Disputant, wenn es um Theologie ging. In irgendeiner Weise tiefgläubig. Ein Mann, der das Recht „bauen“ wollte. Auf ihn geht das „corpus iuris civilis“ zurück, das „CIC“, das Vorbild für den späteren römisch-katholischen „codex iuris canonici“… Asketisch wird er geschildert, ohne erkennbare Gefühlsregungen und unendlich grausam. Ein Mörder, wenn es sein musste.
Kästner bleibt auch unerbittlich:
„Also was ist das, die Heilige Weisheit, der dieser Kaiser diese Kirche geweiht hat? (…) Was liegt auf dem Grunde?“ (S. 51)
Kästner verweist uns auf berühmte Paulus-Stellen, in denen Christus mit der Weisheit identifiziert wird. Aber dieser Jesus Christus hatte doch gesagt, sein Reich sei „nicht von dieser Welt“?
Und doch hatte Konstantin dieses „ungeheuerliche Kopfüber“ geschafft, das aus Christus einen innerweltlichen Mega-Herrscher gemacht hat, einen „Pantokrator“ und der Kaiser maßte sich an, dessen „Mit-Regent“ zu sein und darum auch „Mit-Weiser“ und „Mit-Inhaber des Zorns Gottes“. Kästner würdigt den Gedanken, dass eine Regentschaft „von Gottes Gnaden“ das Elend des Herrschens niederhalten sollte, „indem man Macht anband an eine Macht, die nicht von dieser Welt war“. (S. 53) Er stellt jedoch den schnellen, allzuschnellen Verfall dieser Vorstellung fest, der gar nicht anders als schnell sein konnte, wenn man logisch denkt. Dieser erschreckende große Gedanke, der in seinem Einbruch in die Einsicht etwas Plötzliches, Unerwartetes und Blitzartiges hatte, konnte nicht verweilen. Wenn irdische Macht sich anbindet an die irdische Ohmacht dessen, der in dieser Welt am Kreuz starb und dessen Reich nicht von dieser Welt ist, dann kann es sie eigentlich gar nicht geben. Das Missverständnis war vorprogrammiert: christliches Kaisertum konnte über kurz oder lang nur einen antichristlichen Charakter bekommen.
Die Rede vom „vicarius Christi“, vom Stellvertreter Christi ist seelengefährlich. Sie ist wie ein scharfes Messer, das im Nu von der ewigen Seligkeit trennen kann. Es gibt ein „an Christi statt“ auch im Neuen Testament, begegnet dort aber ausschließlich geistig. Eine Ummünzung in irdische Anmaßung von Personen, die sich für „weiser“ halten als andere, ist dort nirgends zu finden.
Wir erinnern uns an Kästners Diktion echter „Macht“: es ist nicht Anmaßung über andere, sondern größtmögliche Entfaltung der Potenzen. Und die können per definitionem den anderen nicht herabstufen, denn am Leibe Christi kann nicht einmal das Haupt zuungunsten der Entfaltung der Arme und Beine, der Leber und Niere und was sich immer findet, seine Potenzen entfalten. Das einzelne Glied kann sich nur dann vollkommen entfalten, wenn es die anderen auch tun. Und es liegt eine Schwierigkeit in der auch katholischerseits so gerne getätigten Rede davon, dass schließlich nicht alle das Haupt sein könnten (wobei die, die das betonen, sich selbst meistens die Position beim Haupt zumessen). Nun wissen wir aber nicht wirklich, wie der Herr seine Stellvertretungen verteilt, denn er sagte ein ums andere Mal, dass die Ersten die Letzten sein werden. Und auch das Magnificat nimmt diese Perspektive ein: „Er stößt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ Wenn also einer sich anmaßt, sich für den vicarius Christi zu halten, quasi institutionell, obwohl die Heilige Schrift gerade ein solches Amt niemals formell vergeben hat (!) und jede Überzeichnung des Kaiser- oder Papsttums tatsächlich, weil es sich eben doch als von dieser Welt her ansieht, als antichristlich angesehen werden muss, kann es sein, dass er nicht das ist, wofür er sich hält und trüge er zehnmal eine Tiara oder eine Kaiserkrone, so würde sie ihm zum zweischneidigen Schwert, das sich ihm am Ende entgegenstellt.

Kästner findet daher angesichts seines Besuches der Hagia Sophia auch eine Antwort auf seine quälende Frage, wer denn die Heilige Weisheit sei, die hier zugrunde läge:

„Wenn man er fertigbrächte, den Kopfüber-Gedanken, die grandiose, hochfragwürdige Umstülpung, die darin bestand, daß der Stellvertreter des leidenden Heilands, der die Herrschaft über diese Welt eben gerade nicht wollte -: wenn es möglich wäre, diesen Kopfüber-Gedanken ohne den Rost so vieler Jahrhunderte zu denken, so als besäße er noch die Gewalt seines Eintritts: wie müßte er entsetzen.
Wenn es also auch kaum noch gelingen kann, den Gedanken Mit-Regent, Mit-Richter, Mit-Weiser Christi so zu denken, als ob er einträte, so gibt es doch, was der Geolog einen Aufschluß nennt. Wenn nämlich durch eine Verletzung, also in einem Steinbruch oder in einem Bahn-Durchstich auf einmal offenliegt, was vorher verwachsen war.
So ein Aufschluß ist, wenn man das Macht-Wunder des Hagia Sophia-Doms zusammen mit dem Großmord des Januartages bedenkt. Mit dem Verstand nicht zu fassen. Immerhin stellt sich das wieder ehr: ein großes Entsetzen.“ (S. 54)

Es ist vielleicht ein solches „Entsetzen“, das die Königin von Saba empfand, als ihr „der Atem stockte“ (s.o.) angesichts der Weisheit, die aus Salomo damals noch sprach. Aber was tat sie daraufhin?
Sie pries Gott, tauchte ein paar Tage ein in diese Weisheit und dann – ging sie, wie sie gekommen war, ohne weitere eifernde Macht, aber reich beschenkt und insofern in ihren Potenzen entfaltet wie nie zuvor.

http://www.catholic-church.org/ao/O-17.html

Dass aber Konstantinopel und seine Hagia Sophia-Kirche in der Einsicht, dass diese Kirche auf einem blutigen Massenmord auferbaut wurde, am Ende von der Religion vereinnahmt und schließlich ganz „entmachtet“ wurde, von der Religion, die doktrinell ihre Entfaltung auf der anmaßenden Unterwerfung anderer, und sei sie noch so blutig, gründet und dies für gottgewollt hält, dass dies das Schicksal des oströmischen Reiches mit seiner Machtkirche wurde, das erscheint, so betrachtet, ganz folgerichtig. Die „Heilige Weisheit“, wenn wir damit Christus meinen, hat sich ihr Recht zurückgeholt und wird es sich eines Tages von der Wüsten-Fratze pervertierten Christentums erst recht zurückholen.

Und wir?
Man muss erschauern und sich fragen, was geschieht, wenn die Stunde des Menschensohns bei uns in Westrom schlägt.
© by HMJ 2016