Montag, 28. Dezember 2015

Der katholische Zombie (V) - Reflexionen zur Unfehlbarkeit des Papstes



 Reflexionen zur Infallibilität des Papstes

„Was vermag nicht eine konsequente verketzernde Intrigue! Das Unglück ist, daß die wahrhaft Kirchlichen und Einsichtsvollen unter den Bischöfen den Ehrgeizigen an Energie weit nachstehen. (…) Diese Zeloten und Spiritualen dem Worte nach, bereiten, wenn Gott nicht bald uns würdigt einzuschreiten, einen neuen Abfall von der Kirche vor, und zwar ihren eigenen Abfall, sobald einmal ein Papst ihnen nicht zu Willen ist, da sie Gehorsam nicht gelernt haben. In einem solchen Falle würden sie auch nicht anstehen, die von ihnen als Prüfstein der Orthodoxie verteidigte Unfehlbarkeit des Papstes aufzugeben.“[1]

Die Kirche hat sich sichtlich mit der Verabsolutierung des Papsttums in eine Lage geritten, die für keinen Menschen mehr lösbar scheint. Wie man es dreht und wendet – man verstrickt sich in logische Widersprüche und die Realität der Kirche hier und jetzt ist in jeder Hinsicht als chaotisch zu bezeichnen.
Niemals wurde in Rom mit dem notwendigen Ernst bedacht, dass Päpste nur Menschen sind und irren können, ja sogar irren wollen könnten. Der Fall wurde abgetan als eine Unmöglichkeit und die Gestalt des Papstes trotz – was die menschliche Seite betrifft - verheerender historischer Fakten mit geradezu magischer Kraft und Unfehlbarkeit aufgeladen. Er wurde zum Idol. Das ausgewogene Verhältnis des Petrus zu den andern Aposteln wurde im 19. Jh letztendlich auf der Basis eines hysterischen Antiliberalismus wie die anfangs weite und luftige Welt der Maus in Kafkas „Kleiner Fabel“, ein für allemal zerstört und in eine erstickende Enge getrieben.[2]
Mit ungläubigem Entsetzen mussten die Gläubigen erleben, wie sich in der langfristigen, aber dennoch unmittelbaren Folge des Papstdogmas die Päpste nach und nach als nicht nur irrende Männer, sondern als regelrechte  Häretiker entpuppten und die Kirche immer tiefer in den Abgrund gerissen haben. Fassungslos stehen wir vor einer Kirche, die nun nach vielen Abstiegen in immer weitere Sakrilegien von einem Menschen namens Franziskus geführt wird, der mit fast jedem Wort verdunkelt, verunklart und verdreht, was bisher gelehrt wurde und was vor allem in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Nachdem heuer in Rom sogar offiziell das Sakrament der Ehe, für dessen Gültigkeit in früheren Jahrhunderten Männer zu Märtyrern wurden, aufgelöst wird, ist nun auch noch der letzte fromme Katholik aus seiner Papstseligkeit erwacht und versteht die Welt nicht mehr. Wie immer er es durchdenkt – etwas kann nicht stimmen mit dem Dogma von 1870, und sei es auch nur dessen haltlose Einseitigkeit und penetrant-absolutistische Interpretation.

Während die atheistische Welt dem Papst zujubelt, sind die verbliebenen Gläubigen wie in einem Schockzustand, weil ihnen allmählich aufgeht, dass sie die Zeichen der Vorgängerpäpste aus lauter Papolatrie, die ihnen das Lehramt selbst eingeimpft hatte, übersehen, schöngeredet, womöglich sogar gutgeheißen haben. Ganze Traditionslinien stehen in Frage, die gerade die ganz Frommen für nie mehr angreifbar gehalten haben. Eine weitere Erschütterung des naiven konservativen Glaubens kommt dadurch hinzu, dass sich nach der Öffnung der Vatikanischen Geheimarchive manche historische Situation gänzlich anders darstellt und in der bisherigen „rechtgläubigen“ Deutung beim besten Willen nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Franziskus bindet den lange aufgefüllten Sack nun unbekümmert um die Gläubigen zu.

Die Flucht vieler Kirchenkatholiken in eine Art „Winterstarre“, bis wieder ein rechtgläubiger Papst kommt, wird allmählich zu lange, denn es befinden sich bereits mehrere Generationen in dieser Starre. Viele trösten sich mit Erscheinungen, Illusionen und Charismatismus über die quälende Lage hinweg. Die anderen, die Traditionalisten, lehnen den Papst auf die eine oder andere Weise ab, leisten ihm „Widerstand“ oder halten ihn für Luft, wenn er ihrer Meinung nach häretisch ist – eine Haltung, die, will man das Papstdogma ernstnehmen, protestantisch und damit häretisch und schismatisch ist. Faktisch haben sich FSSPX und die ihnen verwandten Sedisvakantisten in einem katholischen Bilderbuchprotestantismus im Zeit-Kolorit des „Struwwelpeters“ eingerichtet. Wenn heute ein ordentlicher Stellvertreter Petri käme, würden sie ihn wahrscheinlich für den Leibhaftigen halten, nachdem sie sich nun schon so lange in selbstgebastelte theologische Trutzburgen eingeigelt haben. Aber auch andersherum kann einem bange werden: Was ist, wenn einer kommt und gezielt ihre Erwartungen und nun lange eingeübten Vorurteile und Fiktionen bedient, der ein echter, wirklicher Wolf im Schafspelz ist?

Und die angeblichen oder wirklichen „Modernisten“?
Sie hatten gehofft, das Vaticanum II würde die Kirche aus der erstickenden Enge führen, aus diesem System von Angst und subtiler Gewalt, hierarchischer Arroganz und Geheimniskrämerei, die die Reaktionäre den Freimaurern vorwarfen und doch selbst mit dem Kampf gegen den Modernismus in ein ausgefeiltes innerkirchliches Spitzel- und Denunziationssystem übergehen ließen, das bis heute funktioniert, auch wenn es vielleicht inzwischen unter anderer geistlicher Führung sein könnte. Aber wer weiß das schon so genau?
Die progressive Hoffnung hat sich sichtlich auch nicht erfüllt. Das von Johannes XXIII. erfundene und seinen Nachfolgern immer wieder neu proklamierte „Neue Pfingsten“ war ein mediales Strohfeuer und geistlich erschreckend schlappes Flämmchen geblieben, das aufgrund des allmählich versiegenden Öls in der Lampe nun fast erloschen ist. Wenn Franziskus heute wieder einmal das „Neue Pfingsten“ bemüht, löst das keinerlei Reaktion mehr außer einem müden Abwinken aus.

Es ist die Frage jedes ernsthaften Gläubigen, wie es dazu kommen konnte, und wovon er sich, will er gerettet werden, verabschieden muss an kirchlichen Irrungen. Denn es steht ja nichts weniger als das Seelenheil auf dem Spiel: wer jetzt noch dem Papst folgt, weil er denkt, er könne sein Heil nur mit dem Papst erwirken, muss Christus verleugnen. Und da ein Urteil über die Rechtgläubigkeit des Papstes aufgrund der Versäumnisse des Vaticanum I grundsätzlich niemandem außer ihm selbst zusteht, sind die vielen „Widerständler“ und Sedisvakantisten zwar ein Hort altbackener Gebräuche und teilweise sogar längst verworfener theologischer Meinungen und Irrtümer neben der dankenswert unbeirrten Zelebration des alten Ritus, aber keineswegs die Arche, die die Kirche doch sein soll. Auch in diesen Kreisen vermischt sich der Irrtum heillos mit der Schönheit des Glaubens.
Wer den Herrn, wer Jesus liebt, muss kritische Distanz zum Papsttum einnehmen. Es ist anderseits unmöglich, dass der Herr gewollt haben kann, dass der Gläubige einem solchen Wahnsinn ausgesetzt wird. Hier stimmt etwas nicht mehr, schon lange nicht mehr, nicht erst seit dem Vaticanum II, sondern lange, lange vorher.

Ich versuche im folgenden, das Dilemma als historischen Prozess zu beschreiben, um eine Lösung als dennoch denkbar zu evozieren.

1. Das vorletzte Dogma

Nach Intrigen, vielen Merk- und Fragwürdigkeiten, dem demonstrativen Auszug der sogenannten Minoritätsbischöfe, also derer, die das Unfehlbarkeitsdogma ablehnten oder nicht überstrapazieren wollten, und kurz vor dem Abbruch des Konzils wegen der heranrückenden italienischen Truppen, wurde unter brütender Hitze am 18. Juli 1870 das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündet, ein Solitär, herausgebrochen aus dem ausführlichen Schema „De ecclesia Christi“, das eigentlich hätte diskutiert und definiert werden sollen und aus unerfindlichen Gründen hinter der Unfehlbarkeitsdebatte und –definition zurückstehen musste. In der Stunde der Entscheidung brach über dem Petersdom ein Sturm aus. Durch den Druck eines gewaltigen Donnerschlags zerbarst eines der mächtigen Fenster. Manche hielten das für ein apokalyptisches Zeichen[3] – ähnlich wie den Blitz, der am Tage des Rücktritts Papst Benedikts XVI. in die Kuppel des Petersdoms einschlug. Das Dogma lautet folgendermaßen:

„Im treuen Anschluss also an die Überlieferung, wie Wir sie von der ersten Zeit des Christentums an überkommen haben, lehren Wir zur Ehre Gottes unsres Heilandes, zur Verherrlichung der katholischen Religion und zum Heil der christlichen Völker, unter Zustimmung des heiligen Konzils, und erklären es als von Gott geoffenbartes Dogma: Wenn der römische Papst „ex Cathedra“ spricht, - das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen mit seiner höchsten Apostolischen Autorität erklärt, dass eine Lehre, die den Glauben oder das sittliche Leben betrifft, von der ganzen Kirche gläubig festzuhalten ist, - dann besitzt er kraft des göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen wurde, eben jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei Entscheidungen in der Glaubens- und Sittenlehre ausgerüstet wissen wollte. Deshalb lassen solche Lehrentscheidungen des römischen Papstes keine Abänderung mehr zu, und zwar schon von sich aus, nicht erst infolge der Zustimmung der Kirche. Wer sich aber vermessen sollte, was Gott verhüte, dieser Unserer Glaubensentscheidung zu widersprechen: der sei im Bann."[4]

Ein Teil der Kirche fieberte vor Begeisterung und im Rausch, endlich in Sicherheit zu sein: nun könne der Lehre nichts mehr passieren, nun, da die cathedra Petri für immer und ewig und sicher als unfehlbar erklärt worden sei. Manche extreme Infallibilisten wie Kardinal Manning waren in einem hochfahrenden Gestus zu dem Zweck angereist, die „Häretiker“ bzw. diejenigen, die sie dafür hielten, an dieser Frage allesamt zu entlarven und zu exkommunizieren. Welch übergriffiger Hochmut sich in seiner Haltung offenbart, wollten und wollen ultramontane Kreise bis heute nicht wahrnehmen – denn es ist und bleibt ein Ding der Unmöglichkeit, wenn ein einzelner Bischof schon vor einem allgemeinen Konzil weiß, was das Konzil zu beschließen hat und bereits zuvor die Bischöfe, die seiner eigenen Absicht entgegenstehen, offen als Häretiker bezeichnet, die man erst gar nicht anzuhören bräuchte.[5]
Eine latent seit der Gründung des Jesuitenordens nachweisbar und formell vorwärtsgetriebene, bizarre Verabsolutierung des Nachfolgers Petri brach sich endgültig nach der Dogmenverkündung Bahn. Entgegen allen anderslautenden Beteuerungen wurde im Kirchenvolk seither eine ungesunde Anhänglichkeit an den „Heiligen Vater“ verfestigt, die in völlig ernstgemeinten Sprüchen wie „Ein guter Katholik geht eher mit dem Papst in die Hölle als ohne ihn in den Himmel“ zum Ausdruck kommt. Die Welt nennt so etwas nach der ignatianischen Wortschöpfung negativ „Kadavergehorsam“. Diese Haltung fand alsbald auch politischen Ausdruck in diversen Faschismen. Ist das katholisch?
Wenn ich an das geschlagene, liebe Gesicht des Herrn denke, muss ich angesichts eines solchen „frommen“ Satzes zusammenzucken und weiß, dass er blasphemisch ist. Dieser Satz offenbart, dass die Verabsolutierung des Papstes den Ernst der Lage für die Seelen leichtfertig aufs Spiel setzte, wenn nicht sogar bewusst um eines dunklen Zieles willen zu verspielen bereit war und ist. Letztendlich sagt der Satz, dass der Papst Vorrang vor dem Seelenheil der Herde hat. Die Herde wird eingeschworen auf das, was ein bestimmter, fehlbarer Mensch tut, ohne dass ihr ein Raum gelassen wird, dessen einzelne Akte im Notfall – nicht aus einem generalisierenden Vorbehalt heraus! - zu prüfen. Ein antichristliches Moment leuchtete schon in dem berüchtigten Satz des Gründers der Gesellschaft Jesu auf: „Wir müssen immer in allem festhalten, um das Rechte zu treffen: Von dem Weißen, das ich sehe glauben, dass es schwarz ist, wenn die hierarchische Kirche es so bestimmt.“[6]
In diesem Satz ist der voluntaristische Grundstein dafür gelegt worden, dass man dem Papst auch dann glauben müsse, wenn er dem zu widersprechen scheint, was bislang Lehre war – man muss auch das, was man für schwarz hält, als weiß annehmen…
Gewöhnlich entgegnen Infallibilisten auf solche Einwände damit, dass in der Kirche schließlich alles „Vermittlung“ sei und Gott das so gewollt habe.
Ich möchte dem entgegenhalten, dass die derart solitär und absolutistisch zugespitzte Rolle des „Felsens Petri“ aber nicht zwingend ist für ein Konzept der Vermittlung und auch aus der dogmatischen Definition nicht zwingend folgt.
Und weiter befremdet mich das stalinistische Konzept der ja selbst so modernen und inzwischen postmodernen Reaktionäre.
Wo der Heilige Geist wirkt, ist Transparenz und feines Weben, davon berichten die heiligen Mystiker und vor allem Mystikerinnen der Kirche. „Vermittlung“ unter der Leitung des Heiligen Geistes kann unmöglich den Eindruck vermitteln, man habe es mit einer eiskalten Geheimgesellschaft automatisch, „qua Amt“ eingeweihter Vermittlungs-Geheimnis-Träger zu tun, denen man sich willen- und geistlos unterwerfen müsse. Wenn wir alle, wie der heilige Paulus es schreibt, „in ihm weben“ und wie Jesus sagt, „seine Schafe seine Stimme hören“ können, dann müssen wir auch eigene Wahrnehmungsorgane dafür haben und nicht nur ein in eine undurchschaubare Hierarchie verlagertes Totalvertrauen tumber geistlicher Toren.

Mit der zitierten berüchtigten Regel 13 aus den ignatianischen Exerzitien im Kapitel „Sentire cum ecclesia“ ist ungewollt oder vielleicht sogar gewollt die Perversion der Rolle Petri ausgesprochen worden. Denn was, wenn man als Gläubiger den triftigen Eindruck hat, auf dem Stuhl Petri säße ein Betrüger oder ein immer schon gewesener oder sich so entwickelnder Häretiker? Was, wenn eine Lehre offenkundig einem Schrifttext logisch regelrecht widerspricht oder bereits zuvor getroffenen dogmatischen Definitionen oder anderen Lehren in einem logischen Sinne widerspricht? Das Vaticanum I hat sage und schreibe keinerlei Sicherung „eingebaut“, um mit einem möglichen Häretiker und möglichen Unstimmigkeiten auf dem Papststuhl fertig zu werden. Mit einem magischen Glauben hielt man offenbar ein Versagen des Stuhles Petri für unmöglich, obwohl in der Geschichte mehrfach und immer wieder Päpste massiv versagt haben. Viele Bischöfe versuchten auf dem Vaticanum I verzweifelt, auf diese historischen Fakten hinzuweisen, etwa der Bischof von Rottenburg Carl Joseph Hefele, der eine mehrbändige Konziliengeschichte verfasst hat, wurden aber nicht mit der ausreichenden Nüchternheit angehört. Allerdings waren sie hinsichtlich theologischer Argumente auch überrumpelt und schlecht aufgestellt und davon abgesehen keine homogene Gruppe. Die Gründe für den Vorbehalt gegenüber dem Dogma waren verschieden. Die konservativen und reaktionären Bischöfe des 19. Jh befanden sich teilweise in einem absolutistischen Rausch und in der Mehrheit.
Man vermittelte den Gläubigen entweder den tautologischen Wahn, der Papst könne niemals irren, weil er eben der Papst ist, etwa so, als werde er mit seiner Wahl zum Papst in Gottes willenlose Marionette verwandelt, in ein heiliges Supermedium, das eher tot umfällt, als einen Irrtum auszusprechen und man müsse ihm daher immer und in allem fraglos gehorchen.[7] Dass damit eine Vergötzung eines lebenden Menschen eingeleitet wurde, auch wenn das wohl kaum intendiert gewesen sein kann, fiel vielen Zeitgenossen, aber wenigen der Frommen auf. Dogmatiker wie der Mainzer J.B. Heinrich behaupten gleich ohne weitere Differenzierung, dass alles, was das Lehramt ordentlich und außerordentlich lehre, letztendlich aufgrund der inneren Beziehung zwischen beidem zwangsläufig „unfehlbar“ sein müsse – ein atemberaubender logischer Fehlschluss! Postmoderne Sedisvakantisten wie Hermann Weinzierl, der ursprünglich aus der FSSPX kommt, stützen sich gerne auf diesen (und andere) maximalistische Autoren des 19. Jh :

„Heinrich schreibt in seiner Dogmatik (Bd. 2 S. 215), daß es zwei Arten von Akten des Magisteriums (Lehramtes) gibt: „gewöhnliche und ordentliche Akte des allgemeinen Magisteriums“ einerseits und „außerordentliche und förmliche Lehrentscheidungen oder Lehrdeklarationen andererseits. Er fährt fort: „Mag nun das kirchliche Lehramt in jener oder in dieser Weise eine Wahrheit als eine von Gott geoffenbarte und im kirchlichen Depositum enthaltene uns zu glauben vorstellen, in beiden Fällen ist es unfehlbar und sind wir zum Glauben verpflichtet.“[8]

Wenn gilt, dass der Papst bei den Entscheidungen, die er bezüglich des Glaubens und der Sitten unter Bezugnahme auf die höchste Autorität fällt, infallibel spricht, folgt daraus logisch nicht, dass er, wenn er wiederum in seiner alltäglichen Lehre Bezug auf diese Definition nimmt, ebenfalls unfehlbar spricht. „Fehlbar“ heißt aber nicht, dass er sich in der logischen Negation „irrt“. Vielmehr heißt „fehlbar“, dass es Wahrscheinlichkeitsgrade von Aussagen gibt, die die Möglichkeit offenlassen, dass der Sachverhalt doch noch ganz anders sein könnte. Nur bei infalliblen Definitionen eben trifft das nicht zu und es bleibt keinerlei Möglichkeit mehr offen.[9]

Der sedisvakantistische Autor Hermann Weinzierl blendet aus oder weiß vielleicht nicht, dass der Dogmatiker Johann Baptist Heinrich nur ein einfacher Priester war, also nicht dem „ordentlichen Lehramt“ zugehörig, der durchaus von seinem Bischof, dem bekannten Bischof Ketteler, gerade wegen dieser infallibilistischen Meinung 1870 hart kritisiert und zurückgewiesen wurde:

„Außerdem sind Sie ganz erfüllt von der Idee des Absoluten und können keine an Bedingungen geknüpfte Macht auffassen, ohne in diesen Bedingungen eine Zerstörung derselben zu finden. Mir sind das Sophistereien, ebenso wie die andere Auffassung, die nicht mehr im Stande ist, die Begriffe: Bedingung und Ursache zu unterscheiden … Lauter armselige Verkennungen der einen großen, allheiligen Wahrheit, daß nur Gott in allen seinen Acten unbedingt ist, daß dagegen alle Acte der Menschen an Bedingungen geknüpft sind und daß die Bedingungen nicht Ursache dieser Acte sind, sondern nur der handgreifliche Beweis, daß über dem, von dem dieser Act kommt, ein höherer, ein unbedingter Wille steht, der die Thaten der Menschen, auch der Hochgestellten, nach göttlicher Weisheit im rechten Maße geordnet hat.“[10]

Bischof Ketteler weist auf nichts geringeres als die Abhängigkeit des Papstes hin, nicht die von der Kirche, sondern die von dem, der alleine unfehlbar sein kann, und auf die Gefährlichkeit eines Denkens, das diesen „defectus materiae“ (die Abhängigkeit von Bedingungen), dem auch der Papst unterliegt, leugnet.
Zu Kettelers Lebzeiten (+ 1877) noch, ab 1873, begann Heinrich, seine umfangreiche „Dogmatische Theologie“ zu veröffentlichen, deren letzte Bände erst nach seinem Tod erscheinen konnten. Ob und inwieweit Ketteler, der nach der Gründung des Deutschen Reiches in schwerwiegende politische Konflikte verwickelt war, die umstrittenen Passagen darin noch zur Kenntnis nahm, konnte ich derzeit nicht rekonstruieren. Er hat jedenfalls selbst das glatte Gegenteil von seinem Untergebenen gelehrt. Man kann nüchtern feststellen, dass Heinrich seinem Bischof jedenfalls nicht gehorchte…

Aber wir finden auch in anderen Dogmatiken, etwa der sehr bekannten von Ludwig Ott, selbstverständlich genau gegenteilige Aussagen, die die Wahrscheinlichkeitsgrade katholischer Lehrsätze genau auseinanderlegen und abstufen (s.o.). In zahlreichen Werken, die unmittelbar nach dem Vaticanum I verfasst und von Pius IX. anerkannt wurden, finden wir die Aussage, dass die Akte des ordentlichen (alltäglichen) Lehramtes selbstverständlich nicht unfehlbar sind, u.a. auch in einem Büchlein von Bischof Ketteler. Schließlich hat das Dogma von 1870 eine eindeutige Eingrenzung vorgenommen!
In seinem Breve an den Münchener Erzbischof Scherr hatte Pius IX., allerdings aufgrund der Text-Vorgabe seines Ghostwirters Joseph Kleutgen SJ, wesentlich rabiatere Töne angeschlagen, als sie später auf dem Konzil durchgesetzt werden konnten.

Andere Personenkreise wiegeln das explosive Problem ab mit der Meinung, nur wenn der Papst ex cathedra spreche, müsse er unfehlbar sein – ansonsten dürfe er sich irren bis zum Abwinken. Wenn das aber so wäre, müsste man die Frage beantworten, warum auf dem Konstanzer Konzil (Gegen-)Päpste als „Häretiker“ verurteilt wurden, obwohl sie nicht eine einzige Irrlehre ex cathedra verkündet hatten oder wieso Papst Honorius aufgrund seiner Unterstützung des Montheletismus in Briefen – also ohne ex cathedra zu sprechen – dennoch auf dem Konzil von Konstantinopel als Häretiker verurteilt und exkommuniziert wurde, ein Urteil, das mehrfach von Nachfolgepäpsten immer wieder bestätigt worden war und erst im späteren Verlauf der Kirchengeschichte zur Lappalie erklärt worden ist, die eigentlich doch nicht ernst gemeint gewesen sei?
Ein Zirkelschluss aufseiten der oben genannten Sedisvakantisten ist, dass sie einerseits die Häresie des Honorius marginalisieren, weil er ja nicht ex cathedra gesprochen und insgeheim, offenbar von mehreren späteren und selbstverständlich unfehlbaren Päpsten unerkannt, doch rechtgläubig gedacht habe[11], andererseits aber behaupten, alle lehramtliche Äußerung der Päpste müsse unfehlbar sein.
Dass aber Papst Honorius posthum als Häretiker verurteilt und exkommuniziert wurde, und dies mehrfach von Päpsten später bestätigt wurde, ist nun einmal eine lehramtliche Tatsache, und es ist ein Ausdruck des aktuellen Wahnsinns, wenn Sedisvakantisten, die doch sonst die Unfehlbarkeit päpstlicher Urteile und Meinungen totalisieren, sie in einem solchen Falle bis zur Bedeutungslosigkeit umkehren oder gar aufheben wollen, um ihre ideologische Position zu beweisen![12] Der Volksmund kommentiert solche Versuche mit dem Spruch „Reim dich, oder ich fress dich!“ Oder: „Was nicht sein kann, das nicht sein darf!“
Der historische Umgang der Kirche mit häretischen Päpsten zeigt uns in jedem Fall eines ganz genau: Um als Häretiker zu gelten, muss ein Papst nicht erst eine Häresie ex cathedra verkünden. Es genügt, dass er in welcher Weise auch immer kundtut, dass er einer Häresie oder einem Häretiker anhängt.
Die unter Traditionalisten der FSSP und FSSPX häufige Ansicht, solange ein Papst keine Häresie ex cathedra verkündet habe, könne man ihn beruhigt als Papst anerkennen, ist sachlich falsch.
Offen ist nur die Frage, wer den Papst, wenn er Häretisches sagt oder tut, öffentlich dingfest machen kann. In früheren Zeiten erlaubten sich Könige und Kaiser solche Feststellungen. Oder Bischöfe.
Mit der Totalisierung des Jurisdiktionsprimates und der Loslösung des Papstes aus der geistlichen Abhängigkeit von der Kirche ist dies aber ein für allemal verunmöglicht worden. Besiegelt wurde diese Konsequenz aus dem Papstdogma sichtbar darin, dass Pius X. das Vetorecht weltlicher Herrscher bei der Papstwahl unter Androhung der schärfsten Kirchenstrafen gleich nach seiner Wahl vor allem hinsichtlich einer Entgegennahme eines solchen Vetos durch Kardinäle verbot.
Gewiss muss diese Maßnahme als Reaktion auf den Verlust christlicher Regierungen bezogen werden. Ob aber ein Rückzug auf sich selbst eine angemessene Reaktion war, ist für mich trotzdem fraglich.

Andere Bischöfe unternahmen nach dem Vaticanum I teilweise nicht ganz aufrichtige oder gewundene Anstrengungen, um die bis heute in den Herzen nicht ausgeräumte Missverständlichkeit dieses Dogmas, die unbestimmte Angst und die Empörung vieler gebildeter Gläubiger und Kleriker gegen eine Überzeichnung des Dieners gegenüber dem Herrn zu entwirren und eine „wahre“ von einer „falschen Unfehlbarkeit“ abzugrenzen.[13] Sie mussten den Spagat schaffen, etwas, das sie zuvor für unmöglich, „inopportun“ oder sogar regelrecht falsch gehalten hatten, nun den Gläubigen als Wahrheit zu einzuschärfen. Viele, die während des Konzils mit triftigen und keineswegs nur aus taktischen Gründen gewarnt und geseufzt hatten vor einem drohenden Unfehlbarkeitsdogma, mussten es hernach ihren Diözesen erklären. Tiefe Widersprüche in den Aussagen der betroffenen Bischöfe waren die Folge und eine systematisch erzwungene Unaufrichtigkeit.[14]
Neben einer großen Unruhe kam es auch zum Bruch und einer Abspaltung: die altkatholische Kirche entstand und verwuchs mit anderen, bereits zuvor abgefallenen Teilen der Kirche. In die altkatholische Kirche gliederte sich teilweise die „Petite église“ ein, die sich nach den Entgleisungen Papst Pius VII. abgespalten hatte. Hunderttausende Franzosen hatten damals den Eindruck, nach den Konkordaten mit Napoléon und der unbegreiflichen päpstlichen Assistenz zur angemaßten Selbstkrönung des Emporkömmlings zum abendländischen Kaiser liege eine Sedisvakanz vor. Bezeichnenderweise ließ man auf dem Vaticanum I keine Debatte über den schwierigen Pontifikat Pius VII. zu, an dessen Rechtgläubigkeit so offen und von so vielen mit gravierenden Gründen gezweifelt worden war.

Auch der von Leo XIII. rehabilitierte, englische Bischof John Henry Newman war ein ausgewiesener Gegner des Papstdogmas und wurde u.a. deswegen von Infallibilisten schwer verleumdet. Dazu muss hinzugefügt werden, wie oft er betonte, dass er persönlich die Unfehlbarkeit des Papstes immer geglaubt habe.
Die Dogmatisierung lehnte er aus verschiedenen Gründen trotzdem ab. Ein Grund war die dringende Befürchtung, dass das persönliche Gewissen des Gläubigen durch dieses Dogma außer Kraft gesetzt werden könnte. Ein anderer Grund aber ist komplexer und lässt uns vielleicht ahnen, was an dem Dogma so problematisch sein könnte:

Newman erkannte in der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit die „größte Gefahr, der die Kirche je ausgesetzt war[15].
Das mutet erstaunlich an, wenn man bedenkt, dass andere Bischöfe, wie etwa sein ultramontaner Kontrahent Manning sich genau davon die „Krönung“ und ewige, sichernde Versiegelung der Kirche erhofften.
Was bewog Newman zu dieser Sicht?
Er schrieb dazu im Dezember 1869, nach der Konzilseröffnung, folgendes in sein Tagebuch:

„1. Ich habe mich immer an die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes gehalten, aber vage. Warum also sie nicht definiert wünschen(?)
2. und überhaupt: warum vage (.) Ich befürchte, dass man sie schwächt, wenn man sie definiert.
3. Weil man sie in Grenzen stellt. Bis jetzt gibt es nichts, das, wenn er es getan hat, nicht Bestand hätte.
4. Was so viele Katholiken provoziert ist, als ein ganzes Dogma glauben zu müssen, was sie in einzelnen Akten zugestehen würden.
5. Ich frage mich, ob die Immaculata Conceptio und die Assumptio, sobald definiert, den Glaube schlussendlich vermehren, oder nicht vielmehr begrenzen.
6. ‚Quieta non movenda.’ In der alten Kirche waren sie gezwungen zu definieren wegen Arius etc.
7. Aber schau, was für eine Riesenkontroverse sie eröffnet haben – 2 oder 3 Jahrhunderte. Es gibt noch einen anderen Grund, jetzt nicht zu definieren, weil man es nicht sofort machen kann. Das ist es, was ich antworte auf  ‚Warum also sie nicht definiert wünschen?’
8. Das Vermehren der Spötter – das Zurückstoßen der Fragenden.
9. ‚Rettet die Kirche, o meine Väter, vor einer Gefahr die größer ist, als alles, was ihr je geschehen ist.’[16]

Vielleicht kann man Newmans quälende Bedenken (!) folgendermaßen verstehen:
Die göttliche Offenbarung bedarf manchmal präziser Definitionen, vor allem, wenn eine Glaubenswahrheit in Frage steht und die Kirche sich abgrenzen muss von Irrlehren. Es gibt aber auch Dinge, die sich einer genaueren Definition grundsätzlich entziehen. Würde man sie genauer definieren, würde man sie zerstören. Der Glaube lebt eben auch mit dem Geheimnis, das nicht restlos aufgeklärt werden kann. Man hat in den christologischen Debatten der frühen Kirche eindeutig Grenzen erreicht, die die Kirche am Ende sogar als nicht überschreitbar definiert hat. In der Formel von den zwei Naturen Christi etwa, der „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“ sei, die „unvermischt“ und „ungetrennt“ in seiner Gesamtpersönlichkeit real sind – diese paradoxe Formel hat ein für allemal jeden genaueren Versuch der weitergehenden Definition unterbunden.
Möglicherweise ist es bei der Unfehlbarkeit des Papstes ebenso: sie bleibt ebenso wie das Papstamt in einer Vagheit, die kaum aufzuklären ist, ohne dabei neuen Irrtümern aufzusitzen.
Man hat immer geglaubt, der Papst erfahre den Beistand des Hl. Geistes, aber wie genau – das ließ man offen. Warum? In Respekt vor dem Satz Jesu:

„Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh 3, 8)

Der Papst steht hier wie jeder andere unter dieser Nicht-Vereinnahmbarkeit des Heiligen Geistes.
Es ist und bleibt ein Unterschied, ob ich mich darauf verlasse, dass der Heilige Geist im Ergebnis immer das tut, was für die Kirche gut ist und sich des Papstes dabei bedient, wenn auch nicht im Sinne eines Automatismus, oder ob ich menschlicherseits bestimmen will, wann und unter welchen genauen Umständen der Papst „unfehlbar“ den Beistand des Heiligen Geistes beanspruchen und damit im Zweifelsfall auch die Gewissen der Gläubigen erpressen kann.
Der kindliche Glaube der Älteren, dass im Ergebnis alles recht wird, auch wenn der Papst vielleicht, weil er Mensch ist und nicht vollendet, auch an manchen Stellen unbeabsichtigt oder sogar böswillig irren könnte, wurde mit dem Dogma zerstört.
Sie waren nun gezwungen, nichts mehr offenzulassen, was aus Rom kam, wenn sie den Eindruck hatten, es gehe nicht mit rechten Dingen zu. Vor ein unerbittliches Entweder-Oder gestellt zerbrach die Katholische Kirche von innen und verschleuderte immer mehr Meteoritenstückchen in alle Welt. Was man mit blumig-überspannten Worten mit dem Dogma glaubte hervorgerufen zu haben, nämlich eine „kindliche Anhänglichkeit“ an den wahren Glauben, hatte man damit verunmöglicht. Wenn wir uns umsehen, wissen wir, dass dies spätestens mit Pius X. und seiner despotischen Gedankendiktatur nicht mehr möglich war: der Glaube wurde Ergebnis von Kontrolle der letzten Bewusstseinswinkel, Zwang und Drohung.

In postmoderner Politsprache ausgedrückt hat die Idolisierung des Papstes die Kirche in einem Jahrhundert zu einem „failed state“ gemacht, einer gescheiterten, im Innern chaotischen, unregierbaren Institution.

Beim Vaticanum I bereits – ebenso wie später beim Vaticanum II - wurde in Europa davon gesprochen, dass ein „Bruch“ entstanden sei. Nicht von ungefähr appelliert der Chefhistoriker im Vatikan, Kardinal Brandmüller, an den Glaubensgehorsam all jener Kräfte, die nach dem Vaticanum II entweder im „Widerstand“ oder ganz von der „Konzilskirche“ abgefallen sind, mit dem Verweis auf die Wirren um das Vaticanum I: auch damals habe man das Dogma als „Bruch“ empfunden, aber erkennen müssen, dass es in Kontinuität und Übereinstimmung mit der Lehre stehe.[17]
Walther Brandmüller weist auf die Absurdität der Argumentationen postmoderner Traditionalisten und Sedisvakantisten hin und knüpft darin an unser Eingangszitat an: Dieselben ideologischen Kreise, die sich eben noch im Vaticanum I von einem Kadavergehorsam gegenüber dem Papst und einer totalitären hierarchischen Struktur die Rettung der Reinheit der Lehre und Pastoral erwartet hatten und die Möglichkeit, dass der Papst oder gar ein ganzes ökumenisches Konzil irren oder die Kirche verführen könnte, kategorisch ausgeschlossen hatten, dieselben Kreise also hielten genau dies nach dem Vaticanum II in einer geradezu atemberaubenden Kehrtwende eben doch für möglich, in aller Regel unter Zuhilfenahme einer fantastischen, aber unbeweisbaren Verschwörungstheorie, die behauptet, Freimaurer hätten den Vatikan usurpiert. Vielleicht ist es Merkmal der Verwirrung, dass man sich mit derlei Märchen tröstet und halsstarrig den sichtbaren Zusammenhang ignoeriert.
Es kam doch tatsächlich genauso, wie es der spätere altkatholische Bischof Joseph Reinkens es vor dem Vaticanum I vorausgesehen hatte: diese Kreise kündigten dem Papst entweder die Anerkennung bzw. den Gehorsam mit derselben Erbitterung auf, mit der sie zuvor dessen möglichst totale Unfehlbarkeit, solange er ihren Vorstellungen entsprach, mit allen Bandagen versucht hatten durchzusetzen. Der offene Ungehorsam begann schon nach dem Tod Pius X., als die Bischöfe den Kurs Benedikts XV. während des 1. Weltkrieges vielfach ignorierten, verhöhnten oder ihm regelrecht zuwider handelten. Genauso hatten reaktionäre Kreise in der Kirche schon die Soziallehre Leos XIII. topediert und unterlaufen.
Päpste waren überdeutlich vor allem zu Gallionsfiguren gegnerischer kirchlicher Lager geworden, und man kann sich fragen, wie viel Freiheit sie eigentlich hatten.
Die heftigen Kämpfe zum Dogma von 1870 und die große Aufregung, in der sich die gesamte Kirche deswegen befunden hatte, geben bis heute Rätsel auf. Erst nach und nach werden die Quellen erschlossen und offenbaren die tieferen geistigen Zusammenhänge.
Dass es sich dabei aber wohl doch nicht nur um eine Feststellung gehandelt haben könnte, die die Kirche so ohnehin geglaubt hatte, geht alleine aus der verräterischen Formulierung Pius X. 1904 hervor:

Denn wer vermag die geheimen Gnadenschätze zu ermessen und aufzuzählen, die Gott auf die Vermittlung der seligsten Jungfrau hin diese ganze Zeit hindurch der Kirche zugewendet hat? Aber abgesehen davon: Haben wir nicht zur rechten Zeit die Abhaltung des Vatikanischen Konzils erlebt und damit die Glaubenserklärung der Unfehlbarkeit des Papstes, die allen künftigen Irrungen rechtzeitig einen wirksamen Riegel vorschiebt? Sind wir nicht Zeugen ungeahnter und nie da gewesener Beteuerungen der Liebe gewesen, die aus allen Ständen und Länderstrichen die Gläubigen schon seit längerer Zeit hierher zog, dem Stellvertreter Christi Verehrung und Huldigung zu erweisen?[18]

Ob das „Huldigen“ aller Stände und Länder gegenüber dem Papst zwingend ein „geistlicher Wert“ oder ein Zeichen für tiefe Frömmigkeit oder Rechtgläubigkeit ist? Ist es wirklich primäre Frage, ob Menschen den Nachfolger Petri „lieben“? Und dies alles herausgestrichen in einer Enzyklika, die eigentlich der Verehrung der Immaculata, der „Überwinderin aller Häresien“ gewidmet sein sollte?
Wenn die Definition des Vaticanum I jetzt erst „künftigen Irrungen einen Riegel vorschiebt“, dann heißt das logisch, dass dieses Dogma vorher nicht in dieser Weise Lehre der Kirche war und so nicht geglaubt worden war, wie es nun entschieden worden war. Denn hätte die Kirche dies auch vorher geglaubt, hätte dieser Glaubenssatz auch vorher gegolten, brächte er nun ja keinerlei Neuerung oder besondere Hilfe. Er würde nur festschreiben, was vorher schon galt und gegen jeden Widerstand „funktionieren musste“. Pikant ist an der Angelegenheit, dass die Autorität des Papstes in geistlicher Hinsicht nicht in Frage stand und immer wieder einmal auf Konzilien gefestigt wurde.
Man müsste mit Fug und Recht sagen: Das galt schon immer und bewahrte die Kirche schon immer vor Irrtümern. Denn logisch betrachtet gilt dieser Satz ja nicht erst in dem Moment, in dem er definiert wird, sonder er wird definiert als etwas, das sowieso schon immer wirksam war. Wenn dies aber so ist – wozu definieren?
Genau diese letztere logische Feststellung bewog die „Minimalisten“ (die Bischöfe, die eine Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes ablehnten), zu denen auch Newman zu rechnen ist, der eine Teilnahme am Konzil jedoch ablehnte, eine solche Definition für überflüssig zu halten:

Sie würde nur die Gemüter erhitzen, unendlich viele Missverständnisse und Verwucherungen erzeugen und überhaupt nichts bringen, weil sie keine strittige Offenbarungswahrheit im strengen Sinne ausspricht, sondern eine eher administrative bzw. „politische“, und sich qualitativ von allen bis dahin je getroffenen Glaubensaussagen unterscheidet.
Behandelt man dagegen die Unfehlbarkeit des Papstes wie einen Glaubenssatz, erhält der Papst damit automatisch eine „gefühlte“ Göttlichkeit, die ihm aber nach der Lehre niemals zukommen kann, weil er ein noch lebender, noch nicht vollendeter, irrender Mensch ist, dessen Ende offen ist.
Bischof Ketteler von Mainz sah, ähnlich wie Reinkens, voraus, dass dieses Dogma, sofern es im Sinne der Infallibilisten absolutistisch aufgefasst würde (was spätestens mit Pius X. auch offiziell geschah), der Beginn einer Revolution sein würde: Ein hierarchischer Absolutismus in der Kirche würde dasselbe Ende finden, das bereits der weltliche monarchische Absolutismus gefunden hatte und durch einen revolutionären Absolutismus ersetzt werden.[19] Über den Absolutismus sagte er: „Absolutismus hominem ipsum corrumpit.“[20] Das Wesen des Menschen werde in einer absolutistisch missverstandenen oder besser missbrauchten Hierarchie verdorben.
Was mir jedoch noch viel mehr aufstößt ist der Aspekt, dass der Heilige Geist in seiner Freiheit zu wehen, wo er will, suggestiv begrenzt wurde und in einer gewissen Hinsicht dem Dirigat der Hierarchie bzw. des Papstes von der Tendenz her offenkundig gegen seine Beseelung der einzelnen Gläubigen eingegliedert wurde. Anders ist die wahnwitzige Idee Johannes XXIII., die von den Nachfolgern immer wieder bestätigt und neu proklamiert wurde, der Papst habe die Vollmacht, ein „Neues Pfingsten“ zu erzeugen, überhaupt nicht zu begreifen. Was aber Traditionalisten grundsätzlich übersehen, ist, dass dieser Wahnwitz keine „freimaurerische Idee“, sondern eine unmittelbare Folge des maximalistisch missbrauchten Papstdogmas ist. Ohne dieses Dogma hätte kein Papst gewagt, sich soweit aus dem Fenster zu lehnen!

Bis heute befremdet die Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes als „Glaubenswahrheit“ und ist das Dogma, an dem auch die Päpste im und nach dem Vaticanum II mit aller Schärfe festhielten und festhalten, gleich was sie sonst aufgeweicht oder ganz über Bord geworfen haben mögen.
Nicht einmal dem Trienter Konzil, das doch historisch aufgrund der protestantischen Verwerfung des hierarchischen Prinzips am meisten mit einer Totalinfragestellung des Papsttums konfrontiert war, war es in den Sinn gekommen, eine solche Wahrheit als „Glaubenssatz“ zu formulieren. Man hatte sich früh immer zu begnügen gewusst damit, den Primat der cathedra Petri stichwortartig festzuhalten, etwa als Bonifaz I. 422 in einem Brief feststellte:

„Niemals war es erlaubt, über das, was einmal vom Apostolischen Stuhl festgelegt wurde, wiederum zu verhandeln.“[21]

Dennoch vermied man andererseits eine allzu genaue Definition seiner Befugnisse.
Ebenso in der Auseinandersetzung mit den Ostkirchen auf dem Florentinum 1439 in einer Bulle:

„… dass der römische Bischof den Primat über den gesamten Erdkreis innehat … , das Haupt der ganzen Kirche und der Vater und Lehrer aller Christen ist … und ihm ist … die volle Gewalt übertragen worden …“[22]

Man wird einwenden, dies sei aber in einer Bulle keine unfehlbare lehramtliche Definition gewesen und hätte darum noch einer besonderen Definition bedurft, die sie als „infallibel“ qualifiziert. Das dürfte aber bei diesem Gegenstand überflüssig scheinen, da die Kirche immer auf diesem Prinzip bestanden hatte und es an keiner lehramtlichen Stelle je anders formuliert worden wäre. Dennoch legte sie den Primat des Papstes nicht totalitär aus und hielt auch Interventionen des Kaisers, wenn er etwa Konzilien einberief und deren Ergebnisse erst durch seine Unterschrift gültig wurden (und nicht die des Papstes!), für rechtgläubig. Dass einem Papst in Schwäche stets andere Gläubige zur Seite gestellt wurden, teilweise mit prophetischem Auftrag und Vorrang, ist schon im Konflikt zwischen Petrus und Paulus, in dem Paulus das größere Recht hatte, angedeutet, setzte sich aber in der weiteren Kirchengeschichte fort, wenn Katharina von Siena den Papst eindringlich mahnt – ohne dass dies beanstandet worden wäre. Man hielt ein solches Prophetenamt  für möglich und wirklich und ließ zu, dass es in einer bestimmten Hinsicht selbst dem Papst übergeordnet sein konnte. Auch die Diskussion um das Frauenpriestertum kam erst auf, nachdem man die Infallibilität des Papstes dogmatisiert und seinen Jurisdiktionsprimat gleich mitbehandelt hatte. Die unerbittliche Hierarchisierung und Zentralisierung der Kirche nahm vor allem den Frauen ihre bisherigen geistlichen Räume.
Ein Festhalten am „Primat“ des Papstes schloss und schließt allerdings nicht zwingend die totale Unfehlbarkeit in jeder Hinsicht ein. Wie es Ketteler in den Auseinandersetzungen um das Vaticanum I ausdrückte, ist „plena potestas“ nun mal keine „potestas infinita“. In den alten Formulierungen blieb immer noch Raum, mit einem häretischen Papst leichter umzugehen und Konzilien, wie es ja jahrhundertelang geschah, im Notfall auch ohne Papst einzuberufen. Immerhin ist jede Sedisvakanz zwischen dem Ableben eines alten und der Wahl eines neuen Papstes niemals eine „unregierbare Zeit“ gewesen, und es lag immer in der Hand der Bischöfe, einen Papst aus ihrer Mitte zu wählen und die Geschäfte weiter zu führen. Das Vaticanum I versäumte, unverzeihlich, das genaue Verhältnis der Bischöfe zum Papst und die Unfehlbarkeit der gläubigen Herde zu klären.

In der Lesart, die sich mit dem Vaticanum I scheinbar dogmatisch korrekt einschlich, war der Eindruck entstanden, dass ein Papst zwar ganz und gar ein Kind der Kirche sei, das alle Stadien ihrer mütterliche Formung durchliefe, mit seiner Wahl aber wie ein Gasballon endgültig losgelöst und in schwindelnde Höhen entlassen würde, unverbunden mit den Bischöfen und dem Volk, wie ein Quasi-Medium Christi. Der Okkultismus dieser Vorstellung stieß vielen, sehr vielen Menschen auf und sie versuchten auf verschiedene Arten demselben zu entgehen.

Viele Bischöfe wurden erst auf dem Konzil mit der isolierten Debatte über die Infallibilität des Papstes überrascht. Die Einberufungsbulle „Aeterni Patri“ von 1868 hatte dieses Thema nicht erwähnt. Und die vorbereiteten Schemata enthielten es nur als Unterkapitel des Schemas über die Kirche „De ecclesia Christi“. Ebenso enthielt das Schema „De doctrina catholica contra multiplices errores ex rationalismo derivatos“ überhaupt keinen Hinweis darauf, dass die Frage nach der Infallibilität des Papstes an oberstes Stelle geklärt werden müsse. Das Thema wurde schlicht nicht genannt.[23]
Das Vorantreiben einer Infallibilitätsdefinition wurde als hinterhältiges Überrumpeln und das Wirken einer innerkirchlichen Geheimgesellschaft, die nach Belieben ihr missliebige, aber dennoch rechtmäßige Bischöfe ausschloss, gelegentlich sogar als ein Phänomen der Jugend und der Neuerungssucht wahrgenommen. So schrieb etwa der bayerische Ministerpräsident Bray in einem Brief an den römischen Botschafter von Tauffkirchen 1870:

„…man darf sich der Wahrnehmung nicht verschließen, daß, wenn auch die Mehrheit der gebildeten Laien und ein Theil des Clerus, besonders des älteren, der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit entschieden abgeneigt sind, doch die größere Zahl der jüngeren Geistlichen sich dieser Lehre zuneigt…“[24]

Die Frage nach der absoluten päpstlichen Infallibilität und nach dem totalitären päpstlichen Jurisdiktionsprimat war dennoch schon lange ein Politicum geworden:

2. Das drittletzte Dogma: Die „Immaculata conceptio“

Manche Zeitgenossen werteten die formale Vorgehensweise bei der Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Maiens als „Probelauf“ zum Vaticanum I.
Interessanterweise taten sie es kontrovers.
Pius IX. hatte zunehmend autoritäre Akte durchgeführt. Er ernannte im Alleingang, ohne irgendwelche Rücksichten zu nehmen, Bischöfe.[25] Er wechselte 1867 etwa den Rektor des Anglicanums aus, ohne es für nötig zu befinden, die englischen Bischöfe einzubeziehen.[26]
Ebenso wird berichtet, bei der Verkündung des Dogmas von der Immaculata Conceptio sei es weniger um deren Glaubensinhalt gegangen, der ja ohnehin schon fester Bestandteil auch des liturgischen Kalenders und der allgemeinen Glaubensüberzeugung im Volk war, wenn auch einige Exponenten wie Thomas von Aquin und Katharina von Siena sie abgelehnt hatten, sondern um die Art und Weise, wie diese Definition vorgenommen worden war, nämlich durch den Papst alleine.
Anders: Anhand einer im Prinzip unstrittigen Glaubensüberzeugung wurde erstmalig ein solitärer, autoritärer Dogmatisierungsakt durch den Papst alleine „durchgespielt“.
Auf die Frage zweier Bischöfe, ob denn in der Verkündigungsbulle nicht das Einvernehmen mit den Bischöfen erwähnt werden sollte, wurde geantwortet, die Definition durch den Papst alleine beweise dann künftig die Souveränität und Infallibilität des Nachfolgers Petri, mit der Jesus ihn umkleidet habe. Außerdem zeige die spontane Zustimmung des Volkes die Autorität der ganzen Kirche in Lehrfragen. Böse Zungen erkannten natürlich schnell, dass es strategisch dabei weniger um die Unfehlbarkeit des ganzen Kirchenvolkes als um die des Papstes ohne die Bischöfe gehen dürfte.[27]

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Muttergottes von Fatima am 13. Juni 1929 in Tuy die Weihe Russlands an ihr Unbeflecktes Herz eben nicht durch den Papst alleine, sondern „in Gemeinschaft mit allen Bischöfen der Welt“[28] gefordert hatte und daher alle bisherigen solitären Weiheversuche durch Päpste alleine wirkungslos blieben. Es ist, als ob der Gottesmutter dieses absolutistische Gehabe des Papstes so nicht gefallen habe damals, als er ihre unbefleckte Empfängnis zum Dogma erhob!

Vor dem Vaticanum stellte Pius IX. eine einseitig-ultramontane Vorbereitungsgruppe zusammen, was bereits im Vorfeld böses Blut hervorbrachte. Wie inzwischen bekannt ist, schreckte er nicht einmal davor zurück, den als formellen Häretiker vom Heiligen Officium verurteilten und an schweren Straftaten (mehrfache Verstrickung in Morde) beteiligten, des fortgesetzten Bruchs des Beichtgeheimnisses und mehrfacher Sittlichkeitsvergehen überführten, aber reaktionären und ultramontanen „Vater der Neuscholastik“, Joseph Kleutgen SJ, erst – ohne dass der einen erkennbaren Akt der echten Umkehr aufgewiesen hätte - zu begnadigen und anschließend mit weitreichenden Konzilsvorbereitungen und der Formulierung von lehramtlichen Texten, unter anderem dem Papstdogma (!), zu beehren. [29]
Ebenso betraute Pius IX. den aus Bayern entfernten, ehemaligen Erzbischof Reisach von München mit der Vorbereitung des bevorstehenden Konzils, obwohl auch er wegen Anhänglichkeit an ein okkult-spiritistisches Medium in Altötting und zahlreiche damit verbundene Unregelmäßigkeiten, die ebenfalls mit einer häretischen Mystik, entgleister Sexualität (mystisch „erlaubtem“ Zölibatsbruch) und einem massiven Missbrauch des Beichtgeheimnisses und des Gehorsamsgelübdes gegenüber Ordensmännern einhergingen, in eine ausgesprochen fragwürdige Position geraten war.[30]
Offenbar galten schon unter Pius IX. in Rom keine Regeln mehr für den Papst, und er konnte sich problemlos über alles hinwegsetzen, was ihm nicht ins Konzept passte. Die rabiate Bulle „Cum ex apostolatus officio“ von Paul IV. aus dem Jahr 1559, ein beliebtes lehramtliches Dokument, mit dem Sedisvakantisten heute beweisen wollen, dass ein Häretiker kein gültig gewählter Papst sein kann, hat jeden und sei es der Papst, der einen Häretiker unterstütze oder gar dessen Rat einhole, selbst als Häretiker verurteilt und automatisch exkommuniziert. Ein Häretiker konnte allerdings – und das ist nicht unmittelbar evident - dieser Bulle zufolge nie mehr „begnadigt“ werden, was seinen Status betrifft, selbst dann, wenn er bereut:

„Bei offenkundigen Zeichen wahrer Reue und Anzeichen gebührender Buße sollen sie aufgrund der Nachsicht und Güte des Heiligen Stuhls in ein Kloster oder an einen anderen Ort mit klösterlicher Ordnung gebracht werden, um für immer beim Brot des Leides und beim Wasser der Trauer Buße zu tun. Als solche Abgefallene sollen sie von allen betrachtet, behandelt und angesehen werden, welchen Standes, Grades, Ranges, Berufes sie auch sein mögen oder von welcher hervorragenden Würde.“[31]

Niemals mehr - jedenfalls müsste strammen Unfehlbarkeitsverfechtern, die dem Papst eine über bloße ex cathedra-Sätze hinausgehende Unfehlbarkeit zuerkennen wollen, hier der Atem stocken – niemals mehr dürfte man einen solchen als Häretiker Verurteilten als Verfasser lehramtlicher Texte, geschweige denn von Dogmendefinitionen einsetzen!
Gerade die maximalistischen Infallibilisten haben sich damit selbst ad absurdum geführt, denn wollte man ihrer Argumentation folgen, wäre Pius IX. eindeutig alleine aufgrund dieser Protektion des Häretikers Kleutgen selbst ein Häretiker und damit automatisch nicht der Papst. Während das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens nach einer solchen maximalistsichen Definition noch gültig wäre, müsste man die Gültigkeit des Papstdogmas von 1870 sicher bezweifeln.

Andere Mahner vor dem Unfehlbarkeitsdogma wie der englische Bischof John Henry Newman, hoben immer wieder darauf ab, dass aber doch gerade aufgrund der Art und Weise, wie Pius IX. sich vor der Definition des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis verhalten hatte, eine so ausdrückliche und unvorsichtige Überzeichnung der „einsamen“ Unfehlbarkeit des Papstes gar keinen Anhalt fände. Pius IX. hatte die Bischöfe der Weltkirche wegen der Frage angeschrieben und deren Beobachtungen über den Glauben im katholischen Volk zu der Frage der Immaculata Conceptio abgefragt. Erst nachdem er überwältigend positive Antworten erhalten hatte, schritt er weiter und verkündete das Dogma. Die Begeisterung in der Kirche, die sich in dieser Definition voll und ganz finden konnte, war überschwänglich, als das Mariendogma verkündet wurde!

Bischof Newman hatte sich wissenschaftlich eingehend mit der Arianismuskrise des 4. Jahrhunderts beschäftigt. Ein erheblicher Teil der Verantwortung für die Wahrung des rechten Glaubens musste demnach sehr wohl in der Hand der Laien liegen, denn sie waren es, die am rechten Glauben festgehalten hatten, während fast die gesamte Hierarchie in Häresie gefallen war. Wenn man die Verantwortung und eine vom Papst möglicherweise unabhängige „Unfehlbarkeit“ des sensus fidei bei den Laien bestreiten will, wie Infallibilisten dies durchweg tun, müsste man konsequenterweise zugestehen, dass der Arianismus folglich der rechte Glaube gewesen sein müsste – eben weil er durch die Hierarchie und nach einigen Schwankungen sogar von Papst Liberius vertreten wurde.
Auch bei Liberius wollen eingefleischte Traditionalisten und Sedisvakantisten dessen häretisches Abdriften bagatellisieren: er habe es ja nur unter Druck so weit getrieben und sei doch eigentlich rechtgläubig gewesen.
Ohne den komplizierten Fall des Papstes Liberius hier aufrollen zu können, erinnert doch die Beschwörung solcher „Eigentlichkeit“ frappierend an die „Eigentlichkeit“, die nachkonziliare Traditionalisten zum Ärger vieler Sedisvakantisten ihren Päpsten zugestehen: Sie seien ja „nur materielle“ und „keine formellen Häretiker“, wie es der der FSSPX „verschworene“ Pfarrer Hans Milch stets in mündlichen Reden betonte, und meinten es ja in Wahrheit schon recht…, ein Glaube, der frappierend an das „Wenn das der Führer wüsste“ vieler Deutscher erinnert, die nicht glauben wollten, dass all die Verbrechen, die die Nazis begingen, mit Wissen und auf Geheiß des Führers passierten. Dies ist jedoch ein klassisches Zeichen des idolatrischen Sektierertums und nicht etwa eines nüchternen Christusglaubens.
Während schon genannte Sedisvakantisten-Autoren dieses Argument hinsichtlich der nachkonziliaren Päpste nicht gelten lassen wollen, bemühen sie es selbst, wenn es um Päpste der Vergangenheit geht – etwa Liberius.
Immerhin aber kann jeder den Glaubensabfall des Liberius in dessen eigenen Zeugnissen im „Denzinger“ und in der Conciliengeschichte – Erster Band von Carl Joseph Hefele[32] nachlesen. Dabei ist die Frage, ob er vor dem Abfall einmal orthodox glaubte, ja kein Beweis gegen den späteren Abfall. Es geht einzig um die Frage, ob man die lehramtlichen oder jurisdiktionellen Äußerungen eines Papstes immer für unfehlbar bzw. „geschützt“ halten muss. Sieht man den Fall des Liberius an, muss man eines zugestehen: Auch ein Papst kann unter Druck oder aufgrund intellektueller Schwäche einknicken, und dies bei klarem Bewusstsein dafür, was er tut.[33] An ihm jedenfalls hatte die Kirche in der Arianismuskrise keinerlei Stütze, und alleine dieses Faktum hätte den Infallibilisten zu denken geben müssen. Wenn ein solch katastrophales Versagen eines Papstes in der Krise einmal möglich ist, ist es prinzipiell immer möglich. Und wenn der wahre Glaube einmal bei wenigen, von diesem Papst mehrfach und ausdrücklich zurückgesetzten und ausgeschlossenen Bischöfen wie Athanasius und vor allem zahlreichen Laien bewahrt wird, dann ist dies als prinzipielle Möglichkeit nicht mehr so kategorisch auszuschließen wie es der traditionelle Papalismus, wie er etwa bei Pius X. formuliert wird[34], tut. Andererseits kann man das Gewissen der Priester und Laien nicht dermaßen diktatorisch und mithilfe einer sektiererisch anmutenden Gedankenkontrolle des Einzelnen auf den Papst einschwören, wie dies insbesondere unter Pius X. dann mit zahlreichen zentralistischen Maßnahmen mit verheerenden Folgen geschah. Hinzu kamen administrative Maßnahmen, deren Segen zweifelhaft geblieben ist: die wohl doch viel zu früh angesetzte Erstkommunion ab 7 Jahren (auch eine nie da gewesene „Neuerung“!), die die weichen Kinderherzen in einem Stadium großer Unreife eher zum „rechten Glauben“ und zu „Gewissensprüfungen“ erpresste als überzeugte, und der berüchtigte Antimodernisteneid für Priester, der nichts anderes hervorbrachte als Bitterkeit, ein präfaschistisches, freimaurerisch anmutendes Spitzelsystem in der Kirche und heuchlerische Lippenbekenntnisse, die – wenn man die Früchte ansieht – nicht nur ohne gute Wirkung geblieben sind, sondern das glatte Gegenteil hervorgebracht haben. Pius X., so teilte es Pietro Kardinal Gasparri bei dessen Seligsprechungsprozess mit, „billigte, segnete und ermutigte einen geheimen Spionagedienst außerhalb und oberhalb der Hierarchie, der gegen Mitglieder der Hierarchie selbst und sogar gegen Ihre Eminenzen, die Kardinäle, spionierte. Kurzum, er billigte, segnete und ermutigte eine Art Freimaurertum innerhalb der Kirche, und dies war etwas, was es bislang in der Kirchengeschichte nicht gegeben hatte.“[35]

Die bereits erwähnte Reaktion Pius X., zum Jahrestag der Dogmenverkündung der Immaculata Conceptio ungeniert nicht vor allem die Gottesmutter zu loben, sondern die mit dem Dogma verknüpfte Konsolidierung der absoluten päpstlichen Macht, zeigt einmal mehr, dass die Verkündigung des Mariendogmas ein Probelauf und Hintertürchen für das folgende Papstdogma war.

Newman hatte in der Geste Pius IX., den Glauben der Laien hinsichtlich der Immaculata Conceptio zu erforschen, ursprünglich eine Berücksichtigung der unfehlbaren Funktion der ganzen Kirche erkannt. Umso weniger konnte er den radikalen Ausschluss der gesamten Kirche, der durch die einseitige und teilweise intrigante Vorbereitung und Durchführung des Konzils selbst die bischöfliche unanimitas für nichts mehr wert erachtete, noch begreifen. Die Strategie, jeden Bischof, der nicht nach dem – wenn auch reaktionär - neuerungssüchtigen Dirigat des Papstes und seiner fragwürdigen Berater sprang, kurzerhand als „Häretiker“ abzuschmettern, auch wenn derselbe zuvor immer treu und rechtgläubig war (im Gegensatz zu der Garde, die Pius IX. um sich scharte!), entsetzte ihn. Worüber heutige Reaktionäre vielleicht bereits vollkommen abgestumpft sein mögen nach 150 Jahren Papstdogma – dem Zeitgenossen wollte dieses autoritäre und rücksichtslose Verhalten nicht in den Kopf.

Newmans Kommentar zu der autoritären Vorgehensweise Pius IX. auf dem Vaticanum I nach den Vorgängen um das Mariendogma lautete:

What have we done to be treated, as the faithful never were treated before?[36]


3. Zwei Versuche, mithilfe Marias die päpstlichen Macht im Erlösungsgeschehen zu erhöhen

Wie Newman mehrfach feststellte, steht und stand der Inhalt der Mariendogmen, auch des erst noch zu definierenden von der Aufnahme Mariens in den Himmel durch Pius XII. 1950, als Glaubenssatz innerhalb der römisch-katholischen Kirche nicht in Frage und wurde ohnehin genauso bereits geglaubt.
Nicht nur bei Pius X. fällt die merkwürdige Verklammerung des Mariendogmas mit der Übersteigerung des Papsttums auf. Die Gottesmutter wurde in seiner Diktion zu einer systemstabilisierenden Funktion des Papsttums.
Wie aber kann das sein, wo die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter doch meilenweit über Engeln und Aposteln, also auch dem Papst, steht und sich jeder funktionellen Vereinnahmung dadurch entzieht?

Weg 1: Die Parallelisierung des heiligen Joseph mit der Gottesmutter

Muss man sich vorstellen, dass der Gottesmutter ein menschlicher „Vater“ zugeordnet werden sollte, etwa wie der heilige Joseph, womöglich in einzigartiger Weise gar noch aufgefasst wie ein „Schatten des himmlischen Vaters in dieser Welt“[37]? Und dies, obwohl der heilige Joseph in der Tradition der römisch-katholischen Kirche bei aller Hochschätzung niemals den Rang der Gottesmutter erreichen konnte und merkwürdig verborgen hinter ihr blieb, eben weil er „nur“ distanzierter und zeitweiliger Beschützer und nicht selbst Träger der Gottesmutterschaft, Bräutlichkeit und vorauserlösten Sündlosigkeit und Erhabenheit Marias war? Ein treffendes Bild für diese Auffassung der Kirche kam zuletzt in den Marienerscheinungen in Mettenbuch im 19. Jh zum Ausdruck. Die Seher-Kinder erblicken dort am 1. Dezember 1876 die Heilige Familie:
Eine der Zeuginnen berichtete, die Muttergottes sei auf einem Thron gesessen, angetan mit weißen und goldenen Kleidern. Hinter ihr sei „ein Mann mit einem langen Bart, einem breiten Mut (sic – meint offenkundig: Hut!), einen Stock in der Hand. Dieser sah auf das Kindlein hervor.“[38] Auch wenn man diese Erscheinung nicht für echt hält, gibt sie doch kund, wie man noch in der zweiten Hälfte des 19. Jh im frommen Kirchenvolk die heilige Familie wahrnahm.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass einer der aggressivsten und dubiosesten[39] deutschen Verfechter der päpstlichen Infallibilität und Macht, Bischof Ignaz Senestrey von Regensburg, eng befreundet mit Kardinal Manning (!), diese Marienerscheinung mithilfe erpresserischer und widerrechtlicher Methoden gegen die Zeugen abwürgte und nicht anerkannte.

Wohin führen also solche Intentionen, die die einzigartige Stellung der Gottesmutter offenbar zu dem Zweck definieren wollten, um auf diesem Weg die geistliche Rolle des „Heiligen Vaters“ viel höher zu veranschlagen, als es ihm möglicherweise zukommen dürfte? Die Idee, den heiligen Joseph „endlich“ auch angemessen zu verehren und aus seiner Verborgenheit hinter Maria herauszuholen wie eine Figur auf einem strategischen Spielbrett, tauchte tatsächlich erst im Pontifikat Pius IX. offiziell auf. Pius IX. lehnte dessen Einfügung in den Messkanon zwar noch ab, erklärte ihn aber neben der Gottesmutter zum „Schutzherrn“ der Kirche. Dieser Vorgang ist an sich noch nicht abwegig oder befremdlich, denn Joseph war ja der Beschützer Mariens und des Jesuskindes. Merkwürdig ist, dass dies der Auftakt zu einer Verschiebung auf dem strategischen Spielbrett der Kirche wurde, der von Modernisten und Traditionalisten gleichermaßen genutzt wurde:
Parallel zu dieser Aktion Pius IX. ernannte Johannes XXIII. 1962 den heiligen Joseph  zusammen mit der Gottesmutter als Schutzpatron des Vaticanum II. Der Vorrang und die wesentlich anders geartete Stellung Mariens wurde dadurch nivelliert, wie sich bald in dem Konzilstext „lumen gentium“ zeigen sollte. Das Fest „Joseph der Arbeiter“ am 1. Mai führte Pius XII.  1955 als Zugeständnis an die sozialen Bewegungen ein. Das Werk, ihn doch in den Messkanon einzufügen, setzte Johannes XXIII. um, und Johannes Paul II., der dem heiligen Joseph eine Exhortation widmete („Redemptoris custos“ 1989[40]), fügte ihn dann in mehrere der vielen neu erfundenen Hochgebete ein. Heute kann man nun von Gläubigen, die durch die Schule Johannes Pauls II. gegangen sind, durchaus die Meinung hören, der heilige Joseph sei „neben“ der Gottesmutter der mächtigste Fürsprecher im Himmel. Und hier wird deutlich, dass die moderne Josephsverehrung abweicht von der rechten Lehre.
Eine paradoxe Situation entstand: Man komplimentierte die Gottesmutter dem Anschein nach auf der Verehrungsleiter nach oben, um sie auf diese Weise dem Papst unterzuordnen, der sich nicht mehr nur als Nachfolger Petri, sondern als kryptischen Nachfolger des heiligen Joseph ansah, der ihr schleichend vorgelagert wurde, unter dessen Schirmherrschaft der „Heilige Vater“ seit 1870 nun unfehlbar regieren sollte. Das Geheimnis des heiligen Joseph, der in der Schrift immer nur demütiger Diener und niemals Herr ist und nach der vollendeten Kindheit Jesu sang- und klanglos aus den Evangelien verschwindet, wurde seinem fast 2000jährigen Schweigen entrissen und ins Licht modernistischer wie traditionalistischer Lehren gezogen. Er ist zum beliebten Gegenstand progressiver und reaktionärer Theologie und Spekulation geworden, was ein bemerkenswertes Faktum ist!
Der Mann, der freiwillig vollkommen geschwiegen hat und ausschließlich Weisungen befolgte, gewinnt so den Charakter des „ersten Teilhabers“ an den göttlichen Geheimnissen:

„Ich glaube nämlich, das neuerliche Nachdenken über die Teilnahme des Gemahls Mariens am göttlichen Geheimnis wird es der Kirche, die zusammen mit der ganzen Menschheit auf dem Weg in die Zukunft ist, gestatten, ständig ihre eigene Identität im Rahmen dieses Erlösungsplanes wiederzuentdecken, der seine Grundlage im Geheimnis der Menschwerdung hat.“[41]

Es stellt sich die Frage, warum das „neuerliche“ Nachdenken über den heiligen Joseph die „Rolle der Kirche im Erlösungsplan wiederzuentdecken“ helfen soll.
Hat denn die Kirche ihre Rolle im Erlösungsplan vergessen oder niemals richtig erfüllt? Und wenn ja – seit wann? Und warum ist dann ausgerechnet die Besinnung auf die Rolle des heiligen Joseph die Rettung aus diesem Verlust? Galt nicht Maria immer als die „Gussform der Kirche“? Warum genügt es nicht, sich wie schon immer, auf sie zu besinnen?
Johannes Paul II. begründet die besondere Rolle des Joseph so:

„Er wurde (…) in einzigartiger Weise ein Hüter des Geheimnisses, das »von Ewigkeit her in Gott verborgen war« (vgl. Eph 3, 9), so wie es Maria in jenem entscheidenden Augenblick wurde, den der Apostel die »Fülle der Zeit« nennt, als nämlich »Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, sandte, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen« (vgl. Gal 4, 4-5)[42]

Dieser Satz mag noch einsichtig sein, deutet aber doch die Verwischung und Verunklarung der Verhältnisse an. Nach der Schrift und der Natur gibt es im natürlichen und übernatürlichen Geschehen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern, der für jegliche Menschwerdung der Frau einen Part anvertraut hat, den der Mann nur von außen und ohne Vorstellung davon, was dies im Bewusstsein und Werk einer Frau bedeutet, erleben kann. Auch wenn man sicher sagen kann, der heilige Joseph sei in einzigartiger Weise in das Geheimnis der Menschwerdung Jesu Christi eingebunden worden, reicht diese Einzigartigkeit alleine schon aus natürlichen Gründen nicht an die der Gottesmutter heran und ist auch nicht solitär.
Dass der heilige Joseph daher einzigartig „so wie (…) Maria“ teilhatte, vermag ich nicht zu glauben.
Dem scheinen noch triftige andere Argumente entgegenzustehen:
Maria war vorauserlöst und unbefleckt empfangen. Nur diese einzigartige – diesmal wirklich einzigartige Stellung – befähigte sie überhaupt, in diesem vollkommenen Maße Teilhaberin an Gottes Erlösungsplan zu werden. Kein Mensch, der noch unter dem Gesetz der Erbsünde steht, auch wenn er zu den „Gerechten“ zählt wie Joseph, konnte in dieser innigen Weise Teilhaber werden!
Johannes Paul II. bekräftigt jedoch die Teilhaberschaft des heiligen Joseph noch einmal so, als habe er dabei sogar Vorrang vor Maria gehabt:

Der erste Hüter dieses göttlichen Geheimnisses ist Josef, zusammen mit Maria.“[43]

Bei aller Hochschätzung des heiligen Joseph - aber wie ist das möglich angesichts der göttlichen Begnadigung Mariens, von der weder bei Joseph noch sonst bei einem Menschen jemals die Rede war?
Stets galt doch Maria als die erste Hüterin und leibhaftige Trägerin des Geheimnisses, mit dem sie alleine verwoben wurde, und haben wir nicht stets, vor allem im freudenreichen Rosenkranz, nach Maria zuerst Elisabeth und ihr ungeborenes Kind als die zweiten Teilhaber dieses Geheimnisses kennengelernt? Während Joseph noch gar nichts weiß, macht sich Maria nach der Verkündigung auf zu Elisabeth, ihrer Cousine, die als Unfruchtbare und Ältere doch noch ein Kind empfangen hatte, und Elisabeth ist es, die als Erste eine Eingebung des Heiligen Geistes hat und die Gottesmutterschaft Mariens bezeugt! Bestätigung erfährt Elisabeth durch das Hüpfen ihres ungeborenen Kindes in ihrem Leib, als Maria eintritt. Was das auserwählte ungeborene Kind der Elisabeth, Johannes der Täufer, von dem es hieß, es werde „schon im Mutterleib vom Heiligen Geist erfüllt sein“ (Lk 1, 15), durch die Bauchwand seiner Mutter sofort erkannte, blieb den Augen des heiligen Joseph verschlossen, und er musste erst im Traum von Gott eine Weisung erhalten, der er allerdings gehorsam und demütig folgte. Jesus nennt folgerichtig später auch dieses Kind, Johannes den Täufer, den „größten Menschen“ im Alten Bund, als eine Verkörperung Elias (V. 14), und nicht seinen Nährvater Joseph (Mt 11, 11 ff).
Die Aussage Johannes Pauls II., Joseph sei der „erste Hüter des göttlichen Geheimnisses“ gewesen, ist durch diese Fakten aus den Evangelien und aufgrund der frühen  überlieferten mariologischen Definitionen zweifelhaft.

Hat die Kirche 2000 Jahre einen wichtigen Glaubenssatz über den heiligen Joseph verpasst?
Und was hat es für ideologische und dogmatische Konsequenzen, wenn man versucht, ihn weitgehend oder sogar vollständig mit Maria zu parallelisieren?
Gerät nicht das gesamte Gefüge, in das die Muttergottes in einzigartiger – wirklich herausragend und unerreichbar einzigartiger – Weise im Erlösungsplan eingebunden ist, vollkommen aus dem Gleichgewicht, wenn der heilige Joseph in dieser Weise überzeichnet wird?
Die Lehre von den zwei Naturen Christi hinterlässt auch in Maria eine „doppelte“ Anlage: sie ist zwar Braut des Joseph, will und darf ihm aber nicht angehören, wie eine Ehefrau dies normalerweise tut. Ihr wahrer und übergeordneter Bräutigam ist der Heilige Geist, von dem sie auch ihre Leibesfrucht empfängt. Ähnlich „doppelt“ wie Jesus „Gottes- und Mariensohn“ ist, ist sie Gottes- und Josephsbraut zugleich. Joseph erhält durch die Ehe Anteil an der Frucht ihrer bräutlichen Beziehung zu Gott, hinter der er aber vollkommen in jeglichem Anspruch zurücktreten muss und will, den ein Mann sonst an seine Frau stellen könnte.
Wird aus der „Mutter Kirche“, deren Bräutigam und Vater Gott selbst ist, nun eine „Mutter Kirche“, die irgendwie auch „Vater Kirche“ ist oder vor allem durch den „Vater“ und eben nicht durch die „Mutter“, wie es bisher doch gedacht wurde, repräsentiert wird? Und wer ist dieser „Vater“ real und sichtbar, wenn nicht der Papst? Was fangen wir mit dem Gebot Jesu an, wir sollten auf Erden niemand „Vater“ nennen und was mit der Warnung, falls wir es doch tun?

9 Und ihr sollt niemanden unter euch Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist.
10 Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus.
11 Der Größte unter euch soll euer Diener sein.
12 Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.“ (Mt 23, 9)

In jedem Fall ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die moderne Überbetonung des Papstes durch die Überbetonung und Parallelisierung des heiligen Joseph zur Gottesmutter dem Volksglauben nahegebracht werden soll, auch unter der Vorgabe, man wolle damit dem christlichen Familien-Vater ein Vorbild geben, was für sich genommen ehrenwert wäre, in der Kombination mit einer Relativierung der Rolle der Gottesmutter bzw. der Übersteigerung der Rolle des Papstes aber bedenklich wird.
Die christliche Autorität des irdischen Vaters gewinnt überhaupt erst ihr richtiges Maß darin, dass jeder Vater bereit sein muss, vollkommen hinter dem Vater im Himmel zu verschwinden, ja: zu verstummen.
Das ist es doch, was Joseph in größter Reinheit und Gerechtigkeit vorgelebt hat.
Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Wenn der Papst sich schon am heiligen Joseph orientieren will, dann müsste ihn das zu größter Zurückhaltung und einem Hang zum Schweigen angeregt haben.
Genau das ist aber nicht geschehen…

Bischof Graber hat zurecht darauf hingewiesen, dass mit dem Ende des Alten Bundes der Mann, der sich als Sündenfolge über die in der Mutterschaft leiblich zutiefst geschwächte Frau als Herrscher aufschwingen musste und wollte und sie vielfach in unbeschreiblicher Überheblichkeit zum Schweigen  gebracht hatte, zunächst auffallend von Gott selbst ins Schweigen zurückgestellt wurde, kurz bevor der Herr ins Fleisch kam. Zacharias, der nicht glauben will, dass seine alte Frau noch Mutter werden würde (obwohl der Glaube Israels genau das anhand der Gestalt Saras doch immer festgehalten und in den Prophetenbüchern immer wieder reflektiert hatte!), wird von Gott zum Schweigen verurteilt:

„Weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die in Erfüllung gehen, wenn die Zeit dafür da ist, sollst du stumm sein und nicht mehr reden können.“ (Lk 1, 20)

Und Zacharias verstummt und kann nicht mehr reden. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Worte seiner Gemahlin Elisabeth eine ganz andere Kraft, wenn sie, „vom Heiligen Geist erfüllt“(V. 41), - aber wie sollte es auch anders sein, da ihr Kind schon ungeboren ebenfalls von Ihm erfüllt ist! – beim Anblick der Gottesmutter ruft:

„Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr gesagt hat.“ (Lk 1, 45)

Marias Reaktion darauf ist die maximale Lösung ihrer Zunge, die schon zuvor frei war, und sie singt das Magnificat.

Der heilige Joseph ist ein „Gerechter“ des Alten Bundes und muss nicht zum Schweigen gebracht werden, weil er aufgrund seiner Gerechtigkeit von selbst schweigt, wie die Schrift uns erzählt. Sein bereitwilliges Verstummen ist wie ein großes Zeichen für das Verblassen des Alten Testamentes und Raumeröffnens für das Neue. Neque ex voluntate viri, sagt der Johannesproplog, „nicht aus dem Willen des Mannes“, „sed ex Deo“, aus Gott, werden die Kinder Gottes geboren. Der Mann muss schweigen, wenn Gott schafft und die Rolle einnehmen, die ihm angewiesen wird. Joseph ist der Zeuge männlicher Demut und in der Tat das Modell des „neuen Mannes“ in Christus: er schweigt, nimmt sich zurück, gehorcht der Weisung des Herrn prompt und ohne Zweifel zu äußern. Er hat in der heiligen Familie nicht die Hauptrolle und füllt seine Führungsrolle ausschließlich zum Wohl aller und mit Hingabe aus. Auf mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen wäscht Joseph Windeln, führt die Arbeiten eines Knechtes aus und ist das, was man heute „Security“, Leibwächter der Muttergottes und ihres göttlichen Kindes nennen würde.

Auf eine atemberaubend totale Weise werden die Frauen hineingenommen in das Wunder der Inkarnation: Maria und Elisabeth sind die ersten Zeuginnen und leibhaftigen Hilfen des göttlichen Wunders der unmittelbaren Fleischwerdung![44] Wie groß die Rolle des heiligen Joseph auch immer sein mag – es gehört nicht zu seiner Berufung, selbst mit seinem ganzen Sein Träger dieses Geheimnisses zu werden. Er kann als Mann nur durch die Frau vermittelt Anteil gewinnen.
Nur eine Frau konnte den Sohn Gottes ins Fleisch bringen. Und so hat es schon das Protoevangelium in der Genesis angekündigt. Die unmittelbare und erbitterte Feindschaft zwischen dem Satan und dem Menschen trägt die Frau aus – so hat es Gott bestimmt. Nur der inkarnierte Gottmensch ist als Mann in der Lage, zu siegen. Der irdische vir muss schweigen oder untergehen.
Es ist problematisch, wenn man diese Ankündigung nun in gewisser Weise „gendernd“ verwässert und den weiblichen Part dem Mann ebenfalls ohne Differenzierung zuschreibt. Ebenso wenig wie eine Frau Priester sein kann, ebenso wenig ist Joseph der „erste Hüter des Geheimnisses (…), mit Maria“. Auch wenn er tatsächlich der Beschützer von Mutter und Kind war, hatte er dennoch nicht die Rolle seiner Frau inne. Dementsprechend verschwindet der heilige Joseph aus den Evangelien nach der Episode mit dem 12jährigen Jesus, zu dem Zeitpunkt, zu dem ein junger Mann als erwachsen und mündig galt und sich der väterlichen Obhut entzieht. Joseph, so muss man annehmen, ist der schützende Begleiter Jesu in der Kindheit, aber danach wendet sich Jesus geistlich ganz an seinen himmlischen und eigentlichen Vater, lässt dagegen den innigen Kontakt zur Mutter nie abreißen. Der junge Jesus gibt dies deutlich zum Ausdruck, als er den Vorwurf seiner Mutter, „dein Vater“ und sie selbst hätten ihn voll Angst gesucht, mit der Frage beantwortet, ob sie denn nicht gewusst hätten, dass er „in dem sein (müsse), was meinem Vater gehört“ (vgl. Lk 2, 48 f). Auch wenn es heißt, er sei ihnen anschließend „gehorsam“ nach Nazareth gefolgt, ist das kein Gehorsam, den er ihnen geschuldet, sondern um ihrer Sorge und vorläufigen Verständnislosigkeit (V. 51) willen zugewendet hat. In jedem Fall wird in dieser Szene eine Konfrontation ausgesprochen, ja vielleicht sogar eine Unvereinbarkeit spürbar zwischen dem Nährvater und seiner Rolle und dem himmlischen Vater: Joseph sollte dem Kind Jesus eine familiäre normale Kindheit garantieren, aber die Vaterrolle war einerseits keine leibliche und andererseits wesentlich beschnitten durch das direkte, unermesslich größere Anrecht des himmlischen Vaters an seinem eingeborenen Sohn. Wenn der heilige Joseph Hochschätzung verdient, dann vor allem für diese Hingabe, die nichts für sich selbst beanspruchte, sich ausleihen ließ ohne einen Lohn in Aussicht zu haben – welcher Mann unter Sünde hätte sich sonst darauf eingelassen? Er war ein heiliger Mann, daran kann kein Zweifel bestehen, musste er doch der erhabenen Gottesmutter und erst recht ihres göttlichen Kindes würdig sein, aber eben in diesem zurückhaltenden Sinn.
Hat man den Eindruck, dass sich das Papsttum daran orientiert hätte?!

Marias Rolle hat demgegenüber wesentlich andere Züge. Sie ist nach ihrem „Fiat“ die leibliche Mutter des Herrn und wird seinen Weg für immer als Hilfe mitgehen. Simeon, ein weiterer Teilhaber des göttlichen Geheimnisses der Menschwerdung, sagt ihr voraus, dass ein Schwert durch ihre Seele gehen werde mit diesem Kind, das am Ende am Kreuz hängen würde und von einer Lanze durchbohrt würde, während sie unter dem Kreuz stehen würde, durchdrungen von Schmerz.
Ein gravierender Einwand gegen eine Parallelisierung des heiligen Joseph mit Maria liegt in der Tatsache begründet, dass alle Weissagungen, die um Jesus herum geschehen, entweder Ihm selbst oder Maria gelten. Keine einzige gilt dem heiligen Joseph. So wird auch mehrfach einseitig berichtet, dass Maria über alles, was mit Jesus zusammenhing, nachdachte. Von Joseph wird keinerlei vergleichbare kontemplative Aktivität berichtet. Marias Rolle im Erlösungsgeschehen endet im Neuen Testament nicht mit der Kindheit Jesu, sondern bleibt für immer bestehen. Sie ist bräutliches adiutorium nicht nur des Kindes, damit es nicht umkommt, bevor es groß ist, sondern sie ist adiutorium des Erlösers bis heute. Sie war mit den Aposteln bis zum Pfingstfest immer zusammen und lebte bis zu ihrer Aufnahme in den Himmel bei dem Jünger, den Jesus liebhatte: Johannes, als geistliche Mutter dieses Jüngers und aller Gläubigen.

Weg 2: Die Parallelisierung des heiligen Petrus mit der Gottesmutter

Weiteren Aufschluss über die merkwürdige Parallelisierung des Papsttums mit der Rolle der Gottesmutter finden wir bei dem Neuscholastiker Mathias Joseph Scheeben in der Schrift, die Joseph Schmitz 1936 unter dem Titel „Maria, Schutzherrin der Kirche“ herausgab, die Scheeben selbst ursprünglich in den „Periodischen Blättern“ 1869/70 veröffentlicht hat.[45]
Dort wird nicht mit dem heiligen Joseph operiert, der diesmal bezeichnenderweise überhaupt nicht beachtet wird, sondern mit dem Begriff der „Makellosigkeit“, die dem „sedes sapientiae“ (Maria) ebenso zukomme wie der „cathedra sapientiae“ (Petrusamt).

Bereits Scheebens Einleitungsabschnitt ist eigenartig gewunden in schlangenartigen Sätzen, die kaum die Schwäche der Argumentation verbergen können, die ihnen innewohnt. Nach der Formulierung der These, es bestünde eine „innige Verwandtschaft“ zwischen der Lehre von der Immaculata und der Infallibilität des Papstes, referiert Scheeben kurz die unentweihte, makellose Reinheit der Heiligen Jungfrau und fährt dann fort:

„Die Unfehlbarkeit des Papstes aber zeigt uns die unbefleckte Reinheit und den übernatürlichen Charakter der Wahrheit auf der Cathedra des hl. Petrus, welche, weil ihr Inhaber zum Stellvertreter des Sohnes Gottes, zum sichtbaren Oberhaupte seiner Kirche und zum stetigen Organ seiner Wahrheit bestellt ist, als die „Mutter und Lehrerin aller Kirchen“ sich in ihrer Lehre, ebenso wie die Jungfrau in ihrem Leben, als unentweihten „Sitz der Weisheit“ und den makellosen „Spiegel der Gerechtigkeit“ offenbaren, und als das Haupt der Braut Christi in ihrer Lehre , durch welche sie die Glaubensreinheit der ganzen Kirche bewirkt, so beschaffen sein muß, wie der Apostel die Braut Christi selbst haben will, „ohne Makel und ohne Runzel oder etwas dergleichen“ – und das aus demselben Grunde, aus welchem die Kirche in ihrem Priestertum, in welchem sie als Mutter und Spenderin der Gnade auftritt und im hochheiligen Altarsakrament ihr Haupt in geheimnisvoller Weise wiedergebiert, trotz aller Sünden und Mängel ihrer Diener ihren vom Heiligen Geist befruchteten Schoß stets unbefleckt bewahrt.“[46]

Während die Jungfrau Maria als Sündlose tatsächlich unmittelbar und ohne „defectus materiae“, nicht nur theoretisch, sondern auch persönlich „unentweihter Sitz der Weisheit“ werden konnte, lässt sich dies von der Cathedra Petri nicht so ohne weiteres sagen, an der die Angeschlagenheit des Menschen zwar nicht den Sieg davon tragen, aber dennoch sichtbar werden kann.
Scheeben argumentiert gebrochen, wenn er hier die Funktion des Priestertums in der Kirche mit der des Lehramtes vermischt. Es trifft zweifellos zu, dass im hochheiligen Altarsakrament das Haupt der Kirche durch die Funktion der Priester – trotz deren Mängel und Sünden – unentwegt wiedergeboren wird. Das hat aber sachlich nichts mit der gefährdeten Rolle des Lehramtes zu tun. Das Lehramt ist kein Sakrament und hat keine sakramentale Zusage Jesu Christi. Es ist ein einfacher Auftrag an Petrus, der den Herrn mehrfach brüskiert und verleugnet hat, die „Brüder zu stärken“ und die „Lämmer zu weiden“.
Wie gefährdet das Lehramt ist, lässt uns die Episode ahnen, die unmittelbar nach der „Tu es Petrus“-Szene berichtet wird. Jesus kündigt nach dem Christusbekenntnis des Petrus sein Leiden an. Petrus nimmt ihn beiseite und will ihm das ausreden:

„Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!
Er aber wandte sich um und sprach zu Petrus: Geh weg von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“ (Mt 16, 22)

Gerade das Lehren hat Jesus, anders als das Binden und Lösen, anders auch als das Feiern des hl. Messopfers, nicht den Aposteln alleine anvertraut und auch nicht als Sakrament formuliert. Jesus hat mehrfach Jünger zur Predigt, zu Botschaften, Weisungen und Lehre ausgesandt, und es waren beileibe nicht immer Apostel im engeren Sinn. Das verbale Zeugnis für den Glauben scheint nach der Schrift Aufgabe aller Gläubigen zu sein. Dabei ist die Autorität, die Lehren zu definieren und zu bewahren, und die, sie zu verbreiten, nicht komplett ein und dasselbe. Man kann aber das eine vom andern auch nicht trennen.

Das Lehren wird immer wieder als gefährlichstes Charisma benannt, weil die Zunge, so klein sie ist, am schwersten zu zähmen ist von allem, was dem Menschen Beschwerden macht. Die Zunge trägt ungehindert nach außen, was im Herzen ist:

„Liebe Brüder, nicht jeder von euch soll ein Lehrer werden; und wisst, dass wir ein desto strengeres Urteil empfangen werden. Denn wir verfehlen uns alle mannigfaltig.“ (Jak 3,1 f)

Oder in V. 3:

„Si quis in verbo non offendit, hic perfectus est vir. – Wenn einer sich im Wort nicht verfehlt, dann ist er ein vollkommener Mann.“

Doch von wem könnte man das – außer von der Frau Maria - sagen?

Und was fangen wir mit der oben erwähnten Warnung Jesu an, der den Jüngern einschärfte, niemand solle sich „Lehrer“ nennen lassen?

„Nec vocemini Magistri, quia Magister vester unus est, Christus. – Lasst euch nicht Lehrer nennen, denn euer Lehrer ist einer, Christus.“ (Mt 23, 10)

Was ist davon zu halten, wenn gerade ein Papst wie Pius X. bald in jedem Text darauf pochte, dass es an ihm sei, das Magisterium der Kirche zu vertreten und dabei jeden anderen herabstufte in einer möglichen Teilhabe?
Nicht, dass ich damit sagen wollte, er hätte nicht die Autorität des Lehrstuhles Petri innegehabt, aber warum hat es ihn so wenig bekümmert, dass Jesus den Lehrern auftrug, sich nicht „Lehrer“ nennen zulassen? Hat Jesus nicht in derselben Textstelle angekündigt, dass die, die sich selbst erhöhen würden, erniedrigt würden? Könnte uns nicht auch dies erklären, warum Pius X. keinen Erfolg haben konnte?
Und was bedeutet uns die Tatsache, das es gerade Maria ist, die über so vieles nachdenkt, kontempliert und dies „in ihrem Herzen“, wo sie auf den Lehrer hört, der der einzige wahre Lehrer sein kann? Zeigt uns nicht ihre Gestalt, wie sehr jeder irdische Lehrer nur ein schwacher, extrem schwacher Famulus des wahren Lehrers sein kann?

Wenn das aber so ist – kommt das in den überspannten Ausführungen Scheebens, in deren Geist später Pius X. ganz ähnlich schreibt und agiert, überhaupt noch zum Ausdruck, oder wurde hier nicht vielmehr die Kirche förmlich auf den Kopf gestellt, indem man den schwachen Verwalter des Herrn wie den Mond vor das strahlende Taggestirn schob, im Wahn, es werde dadurch großgemacht, und es doch nur fast vollständig verdunkelt hat?
Der Mond, wenn er sich nicht der Sonne ergeben beiordnet und durch ihren Glanz strahlend umkleidet wird, so, wie es uns in rechter Weise die Muttergottes doch vollkommen vorlebt, wird schwarz und finster, wenn er sich direkt vor die Sonne stellt… niemals würde sich die allerseligste Jungfrau vor den Herrn platzieren und sich für die Menschen als dessen solitäres Zeichen ausgeben. Niemals! Und weil sie dies nicht tut, lässt Er sie Sein inniges Zeichen sein! Und weil sie dies nicht tut, hat sie auch den Mond unter ihren Füßen…
Was aber mit einem Papsttum, dass sich selbst zu dem erklären will, wozu es immer aufs Neue nur der Herr selbst befähigen kann, wenn Er es in Seiner Allmacht bestimmt und will?
Ist das der Grund für die Scheu Newmans, dieses erhabene und göttliche Wirken auf die Cathedra Petri festlegen zu wollen, noch dazu autoritär durch dessen Inhaber, für den von diesem Moment an gälte „wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden“?
Newman hat dieses göttliche Wirken niemals angezweifelt, sondern unbedingt geglaubt, aber er wusste darum, dass der Papst die Gnade – anders als die sündlose und reine Magd Maria – nicht total, sondern von Schritt zu Schritt aufs Neue würde empfangen müssen, immer wieder empfangen, ohne sie festhalten zu können und nur dann, wenn er dabei auf den Herrn schaut wie Petrus einst auf dem tobenden Meer. Petrus, der auch wegschauen und untergehen, der den Herrn verleugnen und von einem anderen öffentlich und bis heute im NT nachlesbar zurechtgewiesen werden konnte. Wie ein Leitmotiv durchziehen Schwäche und Bedürftigkeit die gesamte biblische Geschichte dieses ersten Apostels.
Dies wundert niemanden, der die Worte des Herrn ernstnimmt, der schon im AT immer wieder kundtut, dass er das Kleine, das Schwache erwählt und die Großen leer ausgehen lässt.

Hat das Vaticanum I uns eine geistliche Sonnenfinsternis beschert? Unwillkürlich muss ich an die Worte aus der Offenbarung denken:

„Und (…) die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut… und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft.“ (Off 6, 12f)

Ein Bild steigt in mir angesichts dieser Worte auf: Ein Papsttum, das sich vor die Sonne der Gerechtigkeit stellt, weil es sich einbildet, es müsse dieselbe mit Zähnen und Klauen in die Herzen hineinzwingen, verfinstert die Sonne und wird selbst finster – rot wie Blut, wie einer, an dessen Händen das Blut der Seelen klebt, und danach fallen die Exponenten, die Hirten und Lehrer in der Kirche vom Glauben ab in großer Zahl, weil sie nichts mehr sehen können in all dieser Dunkelheit.

Scheeben driftet in schwärmerische Aussagen ab, wenn er beispielsweise behauptet, die Gottesmutter habe ihre „Verherrlichung“ durch das Dogma von der Immaculata Conceptio durch die „Verherrlichung des Heiligen Stuhles“ belohnt, oder wenn er in eine wüste Polemik verfällt, die in einem undifferenzierten, pauschalen Rundumschlag alle möglichen Beschuldigungen gegen Bedenkenträger gegen das Papstdogma schleudert.  Alleine diese schäumenden, hämisch-hasserfüllten Anwürfe in der kleinen Schrift hinterlassen einen unguten Nachgeschmack. Ist es aber nicht geradezu häretisch zuglauben, die Gottesmutter belohne den, der sie verherrlicht, damit, dass sie postwendend ihn auf Erden verherrliche? Die Gottesmutter, die ich jedenfalls verehre, weist immer nur auf Jesus, und alles, was sie interessiert, ist die Verherrlichung Jesu, ihres geliebten Sohnes. Dieses Geschacher um gegenseitige "Verherrlichung" und quasi-diplomatische dogmatische Simonie erscheint mir widerwärtig und ich frage mich, was Scheeben geritten hat, in solche geistigen Niederungen abzustürzen?! [47]

Er feiert die Gottesmutter als den „Stern der Gnade“, den „Morgenstern“, der der „Sonne der Gnade“ vorausgegangen sei und nach wie vor leuchte, um sogleich die „Cathedra des Stellvertreters Christi“ als den „Abendstern“ zu besingen, auf dem die „von der Erde scheidende Sonne der ewigen Wahrheit ihr Licht zurückgelassen (habe)“ .[48]

Diese Passage berührt mich merkwürdig, weil zum Zweck der gewaltsam anmutenden Parallelisierung des Papstes mit der Gottesmutter wesentliche dogmatische und in den Sakramenten wirksame Glaubensgegenstände geschwächt werden müssen, um das Papsttum zu stärken: Ist denn nicht im Pfingstfest das Licht der ewigen Wahrheit in gleicher Weise auf alle Jünger gekommen, nicht nur auf Petrus und auf Petrus auch nicht anders als auf die anderen? Und hat Jesus nicht seine leibhaftige Gegenwart im allerheiligsten Altarsakrament zugesagt, das ebenfalls allen in gleicher Weise zugewendet werden muss? Eine Umlenkung dieses nach dem Zeugnis der Schrift so hell und weit in die Runde der Gläubigen scheinenden Lichtes, als sei es ein „scheidendes Licht“, das gerade noch auf der Cathedra Petri einen letzten Lichtreflex erzeugt, den die sofort förmlich aufsaugen und auf sich festfrieren soll – man möge mir verzeihen: aber das erscheint mir fast blasphemisch, denn so wurde es uns nicht überliefert und so sind auch die Sakramente nicht beschaffen!

Wenn wir uns zurückbesinnen und daran denken, wie Bischof Newman die Definition des Papstdogmas als überstürzt empfunden hatte, wenn wir uns besinnen darauf, wie Pius IX. das Papstdogma aus einem größeren Zusammenhang brach, um es in wenigen Wochen als einziges und klägliches dogmatisches Ergebnis eines groß angelegten Konzils durchzusetzen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sich der Papst – anders als es je zuvor üblich war – ein autoritäres Auftreten und Verhalten angewöhnt hatte, das schleichend Merkmale einer Despotie annahm: wenn wir das vergegenwärtigen und viele der dubiosen Begleitumstände dazu, von denen auch ich hier schon berichtet habe, dann mutet die Einschätzung Scheebens entweder hoffnungslos naiv oder verrückt an:

„Wahr ist’s, daß manche fromme Seelen und tiefblickende Geister längst die doppelte Definition als ein großes Heilmittel für die kranke Zeit herbeigewünscht und befürwortet haben; wahr ist’s ebenfalls, dass Pius IX. sogleich vom Anfange seines Pontifikates an sein Augenmerk auf die volle Klarstellung und Geltendmachung beider Wahrheiten gerichtet hatte; aber eben diese Wünsche und Bestrebungen waren das Werk des die Kirche leitenden Geistes Gottes, und der Papst selbst beeilte sich bei der Durchführung seiner Absicht so wenig, dass namentlich die zweite Definition erst zu einer Stunde stattfand, die er menschlicher Weise nicht zu erleben hoffen durfte, und dass sie durch eine so seltsame Komplikation von Umständen ermöglicht und zugleich unabweislich gemacht wurde, wie ebenfalls kein menschlicher Scharfblick es voraussehen konnte.“[49]

Scheeben tut in der Folge das, was alle Maximalisten getan haben: Er redet sich in einem wahren Infallibilitätsrausch hinein. Er scheut vor der Konfrontation mit den historischen Fakten zurück und behauptet, Gott habe die „Cathedra der Wahrheit“ immer davor bewahrt, von einem „gottlosen Irrtum entweiht“ oder gar zu einer „Cathedra der Pestilenz“ zu werden. Die ganze Geschichte habe das bewiesen. Nun ist es erstens nicht einmal wahr, dass der Nachfolger Petri nicht nachweislich in dogmatische Irrtümer abgeglitten wäre. Der Monotheletismus, dem sich Honorius anschloss, ist wahrlich kein Pappenstiel! Genauso zeigt das Beispiel des Liberius sehr schön, dass Päpste unter dem Druck einer häretischen Mehrheit sehr wohl kippen können. Ebenso hat auch der neuzeitlich-revolutionäre Druck einen Papst wie Pius VII. dazu verleitet, einen offenen Antichristen zum Kaiser des christlichen Abendlandes zu salben. Und weiter muss man die Frage stellen, ob Päpste samt deren zahlreichen Gegenpäpsten bei ihrem sehr häufig moralisch ausschweifenden Leben noch angemessene Lehrer sein konnten. So sehr gilt, dass der persönliche Lebenswandel die Sakramentenspendung nicht beeinträchtigt, so sehr weiß jeder Mensch, der bei Verstand ist, dass dies bei der Funktion als Lehrer nicht mehr der Fall sein kann. Die Sakramente spendet der Priester, indem er seine Gestalt an Christus verleiht, der der wahre Spender des Sakramentes ist und bleibt.
Wer dagegen hurt, mordet, Völlerei betreibt, Ämter verschachert und andere um ihr Hab und Gut beraubt, wie dies viele Päpste getan haben, dessen Geist ist durch die Sünde so verdunkelt, dass er mit Sicherheit auch nicht mehr als Lehrer geeignet ist. Nicht umsonst fordert doch der heilige Paulus, die Männer, die zu Bischöfen gewählt würden, sollten sittlich untadelige Männer sein! Ein unsittlicher Lebenswandel mag nicht zu definierten Irrlehren geführt haben, aber in jedem Fall zu irrigem und schwer sündhaftem Verhalten in der Regierung der Kirche. Eine durch die Verstrickung in schwerste Sünden bedingte Lehr-Unfähigkeit bedeutet im letzten Ende auch so etwas wie eine „Sedisvakanz“.
Wir müssen das Schriftwort des kleinen Apostels Johannes schon ernst nehmen, wenn er – ein Zeugnis für die jedem Gläubigen auch verheißene, direkte Belehrung durch den Heiligen Geist - schrieb:

„Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.
Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. (…) Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand lehrt; sondern wie euch seine Salbung alles lehrt, so ist's wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt in ihm.  (1 Joh 1, 6-8; 27)

Da die Infallibilisten aber auch die Jurisdiktion und exekutive Gewalt verabsolutieren, kann man die Verstrickung in schwerste Sünden auf der „cathedra Petri“, auch wenn diese schweigt, nicht marginalisieren, wie dies Traditionalisten und Sedisvakantisten mit Scheeben gemeinsam tun. Die cathedra Petri liegt, wenn der Papst persönlich in Finsternis lebt – und von manchen müssen wir das zweifellos aufgrund ihrer schweren Sünde annehmen – ebenfalls für diese Zeit im Finstern. Denn wie, um in der Diktion des kleinen Apostels Johannes zu sprechen, vertragen sich Licht und Finsternis?
Und seien wir doch aufrichtig: Wie viel „kindliche Anhänglichkeit“, von der in den ultramontanen Texten des 19. Jh soviel und so schwärmerisch die Rede ist, kann ein Gläubiger gegen solche kriminellen Subjekte auf der Cathedra Petri gehabt haben, ohne selbst verfinstert zu werden? Man konnte einen solchen Mann nur in der sorgfältigen inneren Distanz aushalten, bis Gott Abhilfe schaffen würde!
Nun hat aber das Papstdogma genau diese gesunde innere Distanzierungsmöglichkeit fragwürdig gemacht. Und Pius X. hat sie dem Gläubigen gleich rundum verboten:

„Alle Gläubigen müssen mit aufrichtiger Unterwerfung des Geistes und des Herzens gehorchen. In diesem Gehorsam gegenüber der höchsten Autorität der Kirche und des Papstes, die uns die Glaubenswahrheiten vorlegt, und die Kirchengesetze auferlegt und uns all das, was zu ihrer guten Leitung notwendig ist, anordnet, in dieser Autorität liegt die Regel unseres Glaubens.“[50]

Merkwürdig in diesem Zusammenhang auch der Vorwurf des Antimodernistenpapstes in der Enzyklika „Pascendi“ von 1907. Pius X. unterstellt den „Modernisten“, sie würden folgendes lehren und verneint daher pauschal die Notwendigkeit, ein persönliches Gewissen im Glauben zu wahren, um nicht auf Verführung hineinzufallen:

„Indessen muss der Katholik sich so verhalten, dass er öffentlich zwar sich als gehorsamsten Sohn der Autorität bekennt, aber dabei doch seinem eigenen Willen folgt.“[51]

Wie aber sollen die Gläubigen, wenn ihr Gewissen vollständig an den Papst delegiert wird, in der Lage sein, noch die Stimme des wahren Hirten zu hören, falls der Papst zum Verführer wird?
Man hätte diese Möglichkeit vor 100 Jahren kategorisch ausgeschlossen bzw. tabuisiert. Wir wissen alle, dass sie inzwischen jahrzehntelange Realität geworden ist. Wenn das aber so ist, muss der Zwang zum „Kadavergehorsam“ Teil des Verführungsprogrammes (gewesen) sein. Nur der Kadavergehorsam sichert dem Verführer die größtmögliche Ausbeute bei seinem bösen Werk!

Ein zweites Mal verleumdet Scheeben die Bedenkenträger und setzt sie mit den Marienverächtern des Protestantismus gleich, was nicht nur unsachlich, sondern von der Tendenz her bösartig ist – denn logisch und sachlich haben die Bedenken gegen das Papstdogma rein gar nichts mit dem Mariendogma zu tun. Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis wurde überall freudig begrüßt, wie Scheeben doch selbst in seiner Einleitung sagt und sein Bedauern gilt dort der Tatsache, dass dies mit dem zweiten Dogma leider nicht der Fall sei[52]. Eine Gleichsetzung der Bedenkenträger mit den wenigen, die auch das erste Dogma für nicht notwendig hielten, ist daher seinen eigenen Worten gemäß falsch. Hinzu kommt, dass bei dem Papst-Dogma weniger der Inhalt der Definition als die Notwendigkeit einer Dogmatisierung in Frage stand und die Art und Weise, wie Pius IX. dabei vorgegangen war:

„Die Gegner der Unfehlbarkeit haben sich vielfach angestellt, als ob die Unfehlbarkeit (…) die Erhabenheit Christi beeinträchtige. Ganz dasselbe hörte man früher von der unbefleckten Empfängnis sagen. Wie man aber den Protestanten mit Recht entgegenhielt, dass die Herabsetzung der Mutter Christi bei ihnen der erste Schritt zur Verleugnung seiner Gottheit gewesen, so haben andererseits katholische Gegner der Unfehlbarkeit, welche es ernst mit dem Glauben meinten, eingestanden, dass die Leugnung der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht besonders dazu diene, den christlichen Glauben zu bewahren.[53]

„Die“ Gegner der Unfehlbarkeit waren zumeist keine Leugner der Unfehlbarkeit, sondern lediglich Gegner der Dogmatisierung. Was diese angeblichen „Gegner der Unfehlbarkeit“ „eingestanden“ haben sollen, weist Scheeben nicht nach. Selbst der Schlusspassus Pius IX. nach der Dogmenverkündigung 1870 gesteht den Gegnern des Dogmas zu, dass sie in der persönlichen Überzeugung von der Unfehlbarkeit meist nicht abständig gewesen seien:

„Diejenigen die jetzt in Aufregung urteilen (gemeint sind die Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas) mögen daher wissen, dass „im Sturm der Herr nicht ist" (1 Kön 19, 11). Sie mögen sich erinnern, dass sie noch vor wenigen Jahren mit Uns und dem Großteil dieser erhabenen Versammlung die entgegengesetzte Ansicht eifrig verfochten haben: damals urteilten sie „im sanften Wehen des Geistes" (1 Kön 19,12) ...“[54]

Der Leser hätte bei Scheebens starker Formulierung vom „Eingestehen“ ein starkes Argument erwartet und muss sich das schlappe Gerede davon anhören, dass die „Leugnung der Unfehlbarkeit“ nicht „besonders nützlich“  sei, wenn man den christlichen Glauben bewahren wolle. Man könnte aber zurückfragen, ob denn die dogmatische Behauptung der päpstlichen Unfehlbarkeit der Bewahrung des christlichen Glaubens nützt: Ist ein Glaube, dessen Wahrheit daran hängt, dass man den apostolischen Garanten als infallibel erklärt, wirklich gut bewahrt?
Es ist eine ernsthafte Frage, ob die Wahrheit nur deswegen wahr ist, weil der, der sie behauptet, mit einer Immunität sondergleichen versehen wird, die logisch jede Nachfrage durch eine schnöde Tautologie umschifft. Die Welt kennt dafür den Witz: „Regel 1: Der Chef hat immer recht. Regel 2: Hat er nicht recht, gilt Regel 1.“ Es bleibt bestehen, dass der Akt des Glaubens immer noch von jedem einzelnen persönlich vollzogen werden muss – Papstdogma hin oder her.
Newmans Befürchtung, dass man mit dem Dogma die Spötter mit Stoff für ihre Possen beliefert, war wohl nicht ganz falsch.

Scheebens Schrift ist theologisch äußerst dürftig, dafür umso polemischer. Wiederholt behauptet er, das Unfehlbarkeitsdogma sei eine explizite Antwort auf die „sich auf sich selbst zurückziehende Vernunft“, auf die „sich selbst vergötternde Vernunft“[55]. Ebenso stößt er den Verweis auf die Unfehlbarkeit der Gesamtkirche zurück mit der Begründung, sie sei vage und meist nur im Sinne einer „Übereinstimmung vieler Geister“ vorgestellt. Diesem angeblich von den Verfechtern rein natürlich gedachten Konstrukt setzt er ein streng hierarchisches Modell der Erkenntnisführung entgegen, das dazu diene, den Menschen zu der Vergöttlichung zu führen, die Gott für uns wolle.
Ungereimt daran ist, dass die philosophische und theologische Diskussionslage viel komplexer war, als er es darstellt. Ungereimt ist auch die Meinung, nur eine natürliche hierarchische Ordnung könne die unsichtbare himmlische Ordnung abbilden und den Menschen vergöttlichen. Sie findet sich in der Schrift nicht ungebrochen, eben weil jede menschliche Vorstellung von Hierarchie ebenfalls von einem rein natürlichen Meinen ausgeht. Scheeben erfasst hier nicht, dass die Vergötzung des sichtbar Hierarchischen nicht weniger ein Versuch ist, sich auf rein Menschliches zu verlassen als eine Überzeichnung der natürlichen Vernunft, der man die Erleuchtung durch den Heiligen Geist zwar zuspricht, dabei aber vor allem deren Möglichkeiten zur Bedingung der Wahrheit setzt. Wenn Gott, der Herr der Heerscharen, in einem unzugänglichen Licht wohnt und unsichtbar ist, wie es in der alten Präfation für Weihnachten heißt, dann bedeutet „Hierarchie“ in seinem Reich nicht einfach das, was der Mensch sich darunter vorstellt. Immerhin betet Jesus an einer zentralen Stelle die denkwürdigen Sätze:

„Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.
Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen.“ (Mt 11, 25)

Es ist schwer vorstellbar, dass das Schriftmotiv, dass immer wieder die Großen und Weisen in der Welt und im alten Volk Gottes abweist und deren Sturz ankündigt, mit der Kirche plötzlich seine Brisanz verloren haben oder gar aufgehoben sein sollte. Vielmehr sind die Sätze der Gottesmutter und Jesu zu dem Thema immer wie ein Mahnwort über die Hierarchie gestellt:

„Deposuit potentes de sede, et exaltavit humiles – Er stößt die Mächtigen vom Thron, die Niedrigen erhöhet er…“ (Magnificat)

Oder:

„Habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. (…) Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ (Mt. 20, 15f + 22, 14)

Scheeben aber preist die „Erniedrigung“, die das Papstdogma der „übrigen Menschheit“ ebenso wie die Erhöhung Mariens über alle anderen Menschen zumute, und stellt nicht ohne eine unterschwellige Häme fest, dass das ja nur zum Besten der Menschen sei. Zur Festigung seiner Ansicht dämonisiert er jedes ernsthafte Fragen und Bedenken:

„Es ist einer der boshaftesten Kunstgriffe des Teufels, dass er den Menschen gerade das, was Gott zu ihrem Heile, zu ihrer Verherrlichung und Erhöhung eingesetzt hat, als Schmälerung ihrer Würde, als Benachteiligung und Übervorteilung ihrer Interessen darstellt und so den Honig der göttlichen Gaben in eine Quelle bitteren Neides und gemeiner Eifersucht verwandelt.“[56]

Propagandistischer könnte es kein Sektenführer aussprechen! Man fragt sich, woher er so gut die Kunstgriffe des Teufels kennt und warum ihm entgeht, dass seine Argumentation ein altbewährter Kunstgriff von Sektierern aller Art war und ist: Man dämonisiert die Frage danach, ob eine Ideologie denn nicht problematische Folgen haben könnte, anstatt sie fair so zu entkräften, dass die menschliche Vernunft dabei nicht vollkommen brüskiert wird. Denn wenn man dem Menschen die natürliche Einsicht raubt und an ein Idol delegiert, bleibt ihm keinerlei Urteilsmöglichkeit mehr. Blind wird er auf dasjenige Idol zuerst hereinfallen, das ihn am schnellsten erwischen konnte. War es das, was Scheeben wollte?

Und hat deshalb Pius X. das Mindestalter für die Erstkommunion so weit vorverlegt, dass man zum Zwecke des Blindglaubens unter Dämonisierung der Vernunft die Kinder möglich als „Erster“ erwischt? Hatte aber nicht das Vaticanum I auch die Notwendigkeit des vernünftigen Glaubens ebenfalls formuliert?
Ist die jesuitische Saat vom „Blindglauben“ im 19. Jh mit dem Vaticanum I dennoch endlich aufgegangen?
Hat sie den gewünschten Erfolg gebracht?
Anders gefragt: waren Bischöfe wie Newman, Hefele oder Ketteler auch in die Fänge des Teufels geraten? Oder haben sie einfach nur Bedenken gehabt, auf die man eher hätte hören sollen?
Wie immer man es drehen und wenden will: Die Vorgänge seither widerlegen Scheebens blumig-sektiererische Ausführungen und bestätigen die der Mahner!

„Das Weib und der Felsenmann“ - Maria und der Papst

Um die Parallelisierung Marias und des Papstes herzustellen, verändert Scheeben die biblischen Textzeugnisse subtil.
Maria und der Papst sind für ihn Provokationen des Übernatürlichen in einer Welt, die einem „falschen Naturalismus“ huldige.
Zweifellos ist die Zeit seit dem 18. Jh von einem schleichenden und falschen Naturalismus geprägt – bis heute. Ob aber die „Maßnahmen“ dagegen, die Scheeben in der Verkündung der beiden Dogmen erblicken will, nicht selbst menschliches Machwerk sein könnten, fragt man sich als Zeitzeuge fast 150 Jahre später. Ob dieses allerfrömmst gemeinte Konstrukt nicht auch dem alten Sprichwort unterworfen sein könnte: „Der Mensch denkt und Gott lenkt“?

Scheeben zitiert das Protoevangelium der Genesis über die Feindschaft zwischen Frau und Schlange, aber er zitiert schon hier nicht ganz sauber:

Das Weib wird in Gemeinschaft mit ihrem Samen der Schlange den Kopf zertreten.“[57]

In der Genesis heißt es vollständig und ohne eine Betonung auf „das“, denn weder im Hebräischen noch im Lateinischen gibt es eine Betonung, die auf eine bestimmte Frau hinweisen würde, einfach nur: „die Frau“. Vielmehr legt der Text in beiden Sprachen eine verallgemeinernde Bedeutung des Wortes „Frau“ (mulier) nahe. In der Tat wird das weibliche Geschlecht im Alten Testament in vielen Exponentinnen nach dem tiefen Absturz Evas als eine sich allmählich aufrappelnde, aber auch schwer geschlagene Vorhut für Maria dargestellt, was zum Beispiel in den Fresken der berühmten „Gnadenkapelle“ in Beuron vor Augen gestellt wird:

Inimicitias ponam inter te et mulierem et semen tuum et semen illius; ipsum conteret caput tuum, et tu conteres calcaneum eius. » (Gen 3, 15) – Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, und deinen Samen und ihren Samen; jener wird dir den Kopf zertreten, und du wirst dessen/deren Ferse treffen.“

Erheblich ungenauer zitiert er das Wort an Petrus und reichert es zugleich mit Assoziationen aus dem Neuen Testament an, die gar nicht auf Petrus gemünzt sind, sondern auf einen anderen:

„Du bist der Fels, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen und die Mächte der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ Das Weib und der Felsenmann, die Mutter und der Stellvertreter des Sohnes Gottes erscheinen in diesen Prophezeiungen als dessen bevorzugte Werkzeuge im Siege über die Hölle, welche, wie sie kraft ihrer nahen Verbindung mit ihm vor allen andern Zeugen seiner Gottheit waren, so auch die vorzüglichsten Bekenner seiner Gottheit sein und in Kraft seiner Gottheit die Hölle bekämpfen sollen. Maria und der Stuhl Petri sind daher aufs engste im Plane Gottes und in der Geschichte der Kirche verbündet. An dem Tage, an welchem Christus den Heiligen Petrus zum Bollwerk des Glaubens an seine eigene Gottheit einsetzte, vertraute er ihm auch die Ehre seiner Mutter an, während Maria ihrerseits den Stuhl Petri, der die Ehre ihres Sohnes aufrecht erhalten sollte, unter ihren besonderen Schutz nahm. Unserer Zeit war es vorbehalten, das Zusammenwirken und die wechselseitige Unterstützung beider, Marias und des Heiligen Stuhles, im Kampf und Sieg über die Hölle glänzender als je zu zeigen.“[58]

Scheeben fantasiert sich förmlich in Motive und Intentionen Mariens hinein, wenn er etwas später schreibt, die heilige Jungfrau habe,

„indem sie durch ihren wunderbaren Schutz die Definition der Unfehlbarkeit des Heiligen Stuhles ermöglichte und herbeiführte, von neuem die Hölle jene Macht fühlen lassen, die ihr in der Definition ihrer unbefleckten Empfängnis zuerkannt war; sie hat von neuem der alten Schlange den Kopf zertreten, indem sie den Felsen Petri ihr auf den Kopf wälzte, an dem die Schlange schon so oft sich verwundet, der aber nie mit solcher Wucht ihr auf den Kopf gefallen ist und nie so schwer darauf gedrückt hat, wie jetzt. Und wie sie in ihrer unbefleckten Empfängnis die Reiche des Lichtes und der Finsternis schroff voneinander abgeschieden, so hat sie auch durch die nun nicht mehr zu verdunkelnde Lehrautorität des Heiligen Stuhles in der Kirche einen Leuchter aufgestellt, dessen strahlendes Licht die Finsternis aufhalten, die Schlange des Irrtums in allen Schlupfwinkeln, in die sie sich eingenistet, vertreiben und unter allen Masken, mit denen sie sich bedeckt, erkennbar machen soll.“[59]

Dem heutigen Katholiken schaudert es bei diesen Worten alleine schon deswegen, weil ihre faktische Irrigkeit sich längst erwiesen hat. Der Stuhl Petri ist alles, nur kein Schutz gewesen, gerade ab der Zeit nicht, als er als solcher definiert worden war! Wir haben offenkundige Häretiker auf der Cathedra Petri, solange ich zum Beispiel, in der Lebensmitte stehend, auf der Welt bin!

In Scheebens exaltierter Herleitung sind jedoch mehrere gravierende und, für einen Theologen bestürzende haltlose Behauptungen und regelrechte Verdrehungen inbegriffen.:

Zunächst sind auch hier die Worte Jesu an Petrus richtigzustellen:

15 Dicit illis: “ Vos autem quem me esse dicitis? ”.
16 Respondens Simon Petrus dixit: “ Tu es Christus, Filius Dei vivi ”.
17 Respondens autem Iesus dixit ei: “ Beatus es, Simon Bariona, quia caro et sanguis non revelavit tibi sed Pater meus, qui in caelis est.
18 Et ego dico tibi: Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo Ecclesiam meam; et portae inferi non praevalebunt adversum eam.
19 Tibi dabo claves regni caelorum; et quodcumque ligaveris super terram, erit ligatum in caelis, et quodcumque solveris super terram, erit solutum in caelis ” (Mt 16, 15 ff)

(Er fragte sie: Für wen aber haltet ihr mich ?
Da antwortete Simon Petrus und sagte: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.
Da antwortete ihm Jesus aber: Selig bist du, Simon, Sohn des Jona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist.
Und ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden.
Dir gebe ich den Schlüssel zum Himmelreich, und was immer du auf Erden binden wirst, wird im Himmel gebunden sein, und was immer du auf Erden lösen wirst, wird im Himmel gelöst sein.“

Die einfache Beziehung des „Felsen“ auf Petrus ist hier schon oft in ihrer tiefen Bezugnahme auf die Cantica, Psalmen und Prophetensprüche durchleuchtet worden.
In der religiösen Sprache Israels ist Gott selbst der Fels:

„Quia nomen Domini invocabo:
date magnificentiam Deo nostro!
Petra, perfecta sunt opera eius,
quia omnes viae eius iustitia.
Deus fidelis et absque ulla iniquitate,
iustus et rectus. » (Dt. 32, 3ff)

(Denn ich will den Namen des Herrn anrufen:
gebt unserem Gott die größte Ehre!
Ein Fels, vollkommen sind seine Werke,
denn alle seine Wege sind Gerechtigkeit.
Gott ist treu und ohne jegliche Bosheit,
gerecht und gerade.“

Wechselweise werden Christus (1. Kor 3, 11) und die Apostel und Propheten (!) als Gesamtheit (Eph 2, 20) als das Fundament bezeichnet, auf dem die gesamte Kirche aus Juden- und Heidenchristen steht. Der Ehrentitel "Eckstein" steht dabei ausschließlich Christus zu.
Jesus sagt dem Simon auf sein Christus-Bekenntnis hin, dass er ihn „Petrus“ nennt und auf „diesen Felsen“ (hanc petram) seine Kirche bauen wird. Die Aussage, dass die Kirche nicht von den Pforten der Hölle überwunden werden wird, steht allerdings alleine und wird grammatisch mit dem Petrus-Wort nicht verbunden. Es bleibt also offen oder merkwürdig „unpräzis“, inwiefern dieser Fels Petrus ein Schutz vor der Hölle ist und vor allem: Ob er es alleine und immer sein wird. In jedem Fall muss aber dem Petruswort das Christusbekenntnis vorgelagert werden, das den eigentlichen und niemals wankenden Felsen, der Christus selber ist, auch dem Petrus vorauslagert. Ohne diesen fürbittenden „Eckstein“, der der Herr für Petrus immer sein musste, damit er nicht untergeht, gibt es auch Petrus als Felsen nicht: „Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.“ (Lk 22, 32) Diesen Worten Jesu geht eine Debatte unter den Jüngern voraus, wer von ihnen der „Größte“ sei. Jesu Antwort sagt uns besonders etwas über die Grenzen des Petrus: „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste und der Führende soll werden wie der Dienende.“ (V. 26)

In Scheebens Worten stößt am meisten auf, dass Christus in ihnen keinerlei konstituierenden Charakter mehr erhält. Er schließt Christus förmlich aus seinen Überlegungen aus. Er spricht allgemein von Gott und ansonsten von seinen Idolen: der heiligen Jungfrau und dem Papst.

Die Verbindung des Papsttums mit dem „Stein“, der dem Satan den Kopf zerschmettere, ist in der Schrift eindeutig nicht Petrus, sondern Christus selbst zugeordnet. Jesus sagt den Jüngern nach dem Gleichnis von den bösen Winzern in Lukas 20 folgendes:

„Was bedeutet das Schriftwort: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden?
Jeder, der auf diesen Stein fällt, wird zerschellen, auf wen der Stein aber fällt, den wird er zermalmen.“ (Lk 20, 17 ff)

Die eigenartige Formulierung Scheebens, die Immaculata habe dem Satan „von neuem“ den Kopf zertreten, „indem sie den Felsen Petri ihr auf den Kopf wälzte, an dem die Schlange schon so oft sich verwundet, der aber nie mit solcher Wucht ihr auf den Kopf gefallen ist und nie so schwer darauf gedrückt hat, wie jetzt“, leitet eine Funktion, die eindeutig alleine Christus zugeordnet ist, restlos auf Petrus bzw. den Papst um.
Ist das nicht eine unsaubere Argumentation? Was Scheeben hier dem Petrus zuspricht, ist in der Schrift dem Eckstein, also nur Christus zugesprochen. Ebenso hat die Kirche den „Samen der Frau“ immer auf den neuen Adam, also Christus hin gedeutet: er wird mit der Frau zusammen dem Satan den Kopf zertreten. Tun der neue Adam und die neue Eva dies ein für allemal oder im 19. Jh „aufs Neue“? Ich gestehe, dass ich mit dieser Behauptung, die Immaculata tue dies nun „aufs Neue“ ebenso große Schwierigkeiten habe wie mit der Rede vom „Neuen Pfingsten“ auf dem Vaticanum II.

Die Formulierung Scheebens suggeriert tatsächlich, es sei hier eine ganz neue Lehre entfaltet worden, die es zuvor so nicht gegeben habe, wenn er meint: „Unserer Zeit war es vorbehalten, das Zusammenwirken und die wechselseitige Unterstützung beider, Marias und des Heiligen Stuhles, im Kampf und Sieg über die Hölle glänzender als je zu zeigen…“ Man fragt spontan: Wann wurde denn je dieser Zusammenhang aufgezeigt? Er wurde nie aufgezeigt – das ist das Problem daran.
Gewaltsam wirkt daher der Versuch, die Rolle, die der sterbende Herr eben nicht dem Petrus, denn der hatte ihn verleugnet und stand nicht zu Ihm, als Er da am Kreuz hing, sondern dem kleinen Jünger Johannes zugesprochen hatte, eben doch dem Petrus zuzuschustern: „An dem Tage, an welchem Christus den Heiligen Petrus zum Bollwerk des Glaubens an seine eigene Gottheit einsetzte, vertraute er ihm auch die Ehre seiner Mutter an, während Maria ihrerseits den Stuhl Petri, der die Ehre ihres Sohnes aufrecht erhalten sollte, unter ihren besonderen Schutz nahm…“
Dieser Zusammenhang ist reine Phantasie Scheebens, denn Jesus vertraute an dem Tag, an dem er zu Petrus sein berühmtes Wort sprach, seine Mutter keineswegs dem Petrus an. Vielmehr vertraute der Herr seine Mutter später vom Kreuz herab dem Johannes an: „Frau, siehe dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger (Johannes): Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (Joh 19, 26 f)
Dass es sich bei Scheeben um eine regelrechte neue Lehre handeln muss, verraten auch seine Worte, die heilige Jungfrau habe „auch durch die nun nicht mehr zu verdunkelnde Lehrautorität des Heiligen Stuhles in der Kirche einen Leuchter aufgestellt, dessen strahlendes Licht die Finsternis aufhalten, die Schlange des Irrtums in allen Schlupfwinkeln, in die sie sich eingenistet, vertreiben und unter allen Masken, mit denen sie sich bedeckt, erkennbar machen soll…“
Seinen Worten gemäß muss es zuvor möglich gewesen sein, die Lehrautorität des Heiligen Stuhles zu verdunkeln. Das kontrastiert mit seiner früheren Behauptung, genau das sei niemals in der ganzen Geschichte geschehen – andernfalls hätte man das Dogma nie definieren dürfen!
Der „Leuchter“ der nun ganz freigelegten Lehrautorität deutet eine wachsende Herrschaft des Lichtes über die Finsternis an, die sich hier auf Erden innerhalb der sichtbaren Kirche abspielen soll. Diese Meinung befremdet nicht nur deswegen, weil sie sich nicht erfüllt, sondern in ihr Gegenteil geführt hat, sondern auch deswegen, weil uns das Neue Testament doch ankündigt, dass das mysterium iniquitatis immer deutlicher zutage träte, um am Ende den homo iniquitatis zu offenbaren (den Menschen der Bosheit), den am Ende der Herr Jesus selbst, weil die Auserwählten mit Mühe und Not vor der Verführung gerettet würden, „mit dem Hauch seines Mundes töten“ würde (Der Herr selbst – nicht der Papst!). Der heilige Paulus kündigt uns doch einen großen Glaubensabfall an und nicht etwa eine endgültige Reinigung von jedem Irrtum vor der Zeit! (vgl. 2 Thess 2) Was Scheeben lehrt, erscheint mir als regelrechte Irrlehre, denn sie entwirft eine Zukunftsvision, die derjenigen der Schrift gerade entgegengesetzt ist und hat sich im übrigen längst unzweifelhaft als falsch erwiesen.

Maria und Johannes

Maria und der Papst sind noch aus zwei anderen Gründen nicht so leichthin aufeinander zu beziehen wie Scheeben es tut:

a. Die Stellung Marias im Heilsgeschehen ist und bleibt einzigartig. Sie steht über den Aposteln, auch über Petrus. Das bekennen wir in der lauretanischen Litanei. Man kann sie mit keinem anderen Menschen parallel setzen, weder mit Joseph noch mit Petrus.

b. Die Päpste werden von Menschen gewählt, und wir wissen, wie viele Intrigen und menschliche Unvollkommenheiten dabei eine Rolle gespielt haben und spielen. Maria dagegen ist von Anbeginn an von Gott erwählt, rein erhalten und geheiligt worden, um Ihm würdige Mutter und Braut zu werden. An ihr ist kein Makel zu finden, keine Runzel und keine Sünde, keine Schwäche, keine Intrige und kein Machtspiel. Sie ist „immerwährende Jungfrau“ und als solche vollendet. Man kann dies aber von den Päpsten nicht sagen, ohne zu lügen. Man kann es auch nicht vom „Heiligen Stuhl“ sagen, denn dort ging es oft nicht mit rechten Dingen zu, wie wir anhand einiger Beispiele gesehen haben. Es ist eher ein Wunder, dass die Kirche trotz des Heiligen Stuhls nicht unterging oder in Irrtümern versank.

Ein mögliches Versagen des Petrus am Ende der Zeiten wird uns in einer Episode im Johannes-Evangelium aufgezeigt. In einem sonderbaren Nachtrag zum Evangelium wird nach dem Epilog noch einmal eine Episode erzählt: Der auferstandene Herr erscheint den Jüngern noch einmal am See Tiberias. Nach einem wunderbaren Fischfang auf sein Geheiß fragt er Petrus dreimal, ob er ihn liebhabe und Petrus bejaht dreimal. Jesus bekräftigt dreimal das Petrusamt: „Weide meine Lämmer!“ Jesus kündigt Petrus einen Märtyrertod an. Und dann folgt ein denkwürdiger Schluss:

21 Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus lieb hatte, der auch beim Abendessen an seiner Brust gelegen und gesagt hatte: Herr, wer ist's, der dich verrät?
21 Als Petrus diesen sah, spricht er zu Jesus: Herr, was wird aber mit diesem?
22 Jesus spricht zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach!
23 Da kam unter den Brüdern die Rede auf: Dieser Jünger stirbt nicht. Aber Jesus hatte nicht zu ihm gesagt: Er stirbt nicht, sondern: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? (Joh 21)

Wird darin nicht angedeutet, dass Petrus untreu werden könnte, wenn Jesus ihm einschärft: „Folge du mir nach!“?
Und was bedeutet in diesem Zusammenhang die Aussicht, dass Johannes bleiben wird, bis der Herr wiederkommt, Petrus aber, der zurechtgewiesen werden muss, offenbar nicht?

Wir erinnern uns: Johannes ist der, dem Maria unterm Kreuz anvertraut wurde unter den Jüngern, nicht Petrus! Und Johannes ist auch der, der andererseits der heiligen Jungfrau besonders anvertraut wurde, nicht Petrus!
Johannes, das Urbild des kleinen Priesters - wird er bis zum Schluss bleiben, auch während des großen Glaubensabfalls, wenn Petrus schon von der Bildfläche verschwunden sein wird?
                                   
                                                © Copyright by Hanna Maria Jüngling am 27.12.2015


[1] Paul Wenzel: Das wissenschaftliche Anliegen des Güntherianismus. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte des 19. Jh. Essen 1961, S. 131: J. Reinkens in einem Brief an Nickes.
[2] „»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.“ Abgerufen am 27.12.2015 auf http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-fabel-171/1
[3] John Cornwell: Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat. München 1999, S. 27
[5] Manning: „Die Häretiker kommen zum Konzil, um angehört und verurteilt zu werden, aber nicht, um an der Formulierung der Lehre teilzunehmen!“, zitiert nach Schatz, a.a.aO., S. 28f, Anm. 68
[6] Gottfried Maron: Ignatius von Loyola. S. 137 f – die berühmte „Regel 13“ der „Geistlichen Übungen“ im Kapitel „Sentire in ecclesia“, das auch Franziskus gerne bemüht. S.a. Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Hg. Alfred Feder SJ. Regensburg 1922, 2. Auflage, S. 161. Ignatius benennt allerdings den Papst nicht als den solitären Garanten der Braut Christi, auch wenn das aufgrund seines 4. Gelübdes nahliegt.
[7] Pius IX. schrieb an den Erzbischof Scherr von München 1863, ein Katholik, der als Autor arbeite, müsse sich nicht nur an die von der Kirche als zu glaubende Lehrsätze vorgelegten Vorgaben halten, sondern auch an alles, was das „ordentliche“ Lehramt“ vorlege: „…dass es für katholische Gelehrte nicht genügt, die vorher genannten Lehrsätze (…) anzunehmen und zu achten, sondern (…) sich sowohl den Entscheidungen zu unterwerfen, die als zur Lehre gehörig von den päpstlichen Kongregationen vorgelegt werden, als auch den Lehrkapiteln, die in gemeinsamer und beständiger Übereinstimmung der Katholiken als theologische Wahrheiten und derart sichere Schlussfolgerungen festgehalten werden, dass Meinungen, die diesen Lehrkapiteln entgegengesetzt sind, zwar nicht häretisch genannt werden können, jedoch eine andere theologische Zensur verdienen.“ DH 2880
[9] Vgl. Ludwig Ott: Grundriß der katholischen Dogmatik. Freiburg 1952, S. 11
[10] Zitiert nach Klaus Schatz: Kirchenbild und päpstliche Unfehlbarkeit bei den deutschsprachigen Minoritätsbischöfen auf dem I. Vaticanum, Rom 1975, S. 268
[11] Der Prozess der Marginalisierung der Häresie des Honorius wird dargestellt bei Joseph Hefele, Conciliengeschichte,
[12] Etwa in dem Artikel „Nachtrag zum Vatertag“ von 2014, abgerufen am 24.12. 2015 hier: http://www.antimodernist.org/am/2014/06/01/nachtrag-zum-vatertag/
[13] So etwa Bischof Ketteler von Mainz mit seiner Schrift „Das unfehlbare Lehramt des Papstes“, im Januar 1871 erschienen oder Bischof Feßler von St. Pölten „Die wahre und die falsche Unfehlbarkeit der Päpste“, ebenfalls 1871 erschienen, oder J.H. Newman, der zahlreichen besorgten Fragestellern ebenso zahlreiche erklärende Briefe schrieb (vgl. Lüchinger a.a.O.)
[14] Schatz beschreibt diesen Prozess in seiner Schärfe bei einzelnen Bischöfen aufgrund der Quellenlage. Die gravierenden theologischen Widersprüche der Minoritätsbischöfe wurden deshalb später sowohl von der Kirche, als auch den Betroffenen teilweise selbst auf die „Inopportunitätslegende“ herunterbeschwichtigt – in Wahrheit ging es aber nicht nur um Inopportunität des Papstdogmas, sondern um ernsthafte theologische Probleme damit. Zwar ist die Formulierung des Dogmas so ausgefallen, dass fast alle damit leben konnten, die Ausgestaltung und die Folgen aus der Definition fielen aber auf lange Sicht doch genau so aus, wie es die Väter nicht definiert hatten, sondern so, wie es die Maximalisten wollten. Schatz, a.a.O., S. 18 ff
[16] In eigener Übersetzung und zitiert nach Lüchinger, a.a.O., S. 268, Anm. 1136
[17] Walther Brandmüller: Postkonziliare Interpretationskonflikte. Hermeneutik des Bruchs und Hermeneutik der Reform in Kontinuität nach dem I. Vatikanischen Konzil. Veröffentlicht auf kath.net am 18. Februar 2013
[18] Pius X.: Ad diem illum laetissimum, 1904
[19] Klaus Schatz: Kirchenbild und päpstliche Unfehlbarkeit bei den deutschsprachigen Minoritätsbischöfen auf dem I. Vaticanum, Rom 1975, S. 267
[20] Ebenda – vgl. Anm. 50
[21] Denzinger: Enchiridion symbolorum. Hg. Peter Hünermann. Freiburg 1991. vgl. DH 323
[22] Denzinger: Enchiridion symbolorum. Hg. Peter Hünermann. Freiburg 1991. vgl. 1307
[23] Mansi 50
[24] Klaus Schatz, a.a.O., S. 22f, Anmerkung 32
[25] Friedrich Heyer: Die katholische Kirche von 1648-1870. S. N 151
[26] Friedrich Heyer: Die katholische Kirche von 1648-1870. S. N 152
[27] Ebenda, S. N 152
[28] Gérard Mura et al.: Fatima –Rom-Moskau. Stuttgart 2010, S. 99
[29] Vgl dazu Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant’Ambrogio
[30] Ausführlich darüber in Otto Weis: Weissagungen aus dem Jenseits
[31] Zitiert nach https://gloria.tv/?media=394504 am 16.12.2015
[32] Carl Joseph Hefele: Conciliengeschichte. Erster Band, S. 657 ff Kapitel § 81 Papst Liberius und sein Abfall
[33] Hefele, a.a.O., S. 672 ff
[34] Vgl. Anm.
[35] John Cornwell: Pius XII., München 1999, S. 59
[36] Newman in einem Brief an Bischof Ullathorne am 28.1.1870, zitiert nach Adrian Lüchinger, Päpstliche Unfehlbarkeit bei Henry Edward ;Manning und John Henry Newman. Freiburg Schweiz 2001, S. 269, Anm. 1143
[37] Diese höchstbedenkliche Idee vertritt Hermann Weinzierl hinsichtlich des hl. Joseph in dem Aufsatz „Der Vorsehungsglaube des heiligen Joseph“, abgerufen am 27.12.2015 auf http://www.antimodernist.org/am/2015/03/01/der-vorsehungsglaube-des-hl-josef/
[38] P. Gebhard Heyder OCD: Advent-Muttergottes in der Waldschlucht. Regensburg 1986, S. 29
[41] A.a.O.
[42] A.a.O.
[43] A.a.O.
[44] Rudolf Graber: Maria im Gottgeheimnis der Schöpfung, Ein Beitrag zum Wesen des Christentums, Friedrich Pustet Verlag. Regensburg 1949
[45] Matthias Joseph Scheeben: Maria, Schutzherrin der Kirche. Paderborn 1936. Hg. Joseph Schmitz, S. 14
[46] A.a.O. S. 22 f
[47] Scheeben, S. 24
[48] A.a.O., S. 26
[49] Scheeben, S. 27
[50] Pius X.: Großer Katechismus. Zitiert nach: Anton Holzer: Die katholische Glaubensregel und der Kanon des hl. Vinzenz von Lérins. Über eine unter Traditionalisten verbreitete Irrlehre. Handschrift 2001, veröffentlicht auf http://www.antimodernist.org/am/wp-content/uploads/Can_lerin.pdf (27.12.2015)
[52] Scheeben, S.24
[53] Scheeben, S. 34 f
[54] Pastor aeternus, Schlussansprache, abgerufen auf www.kathpedia.
[55] Scheeben, S. 38
[56] Scheeben, S. 42
[57] Scheeben S. 92
[58] Scheeben, S. 92
[59] Scheeben, S. 93ff