Sonntag, 10. Februar 2013

Künstlerschicksal

Neujahrsbrezel



Als ich am Neujahrsmorgen einen Spaziergang machte und in Gedanken versunken die Straße hinabging, fiel mir eine hochgewachsene, weizenblonde Brezel auf, die lässig mit verschränkten Armen an einem Gartenzaun lehnte, mich mit großen Augen von oben bis unten anschaute und ein Lied dabei pfiff.

Ich war müde von der Silvesternacht, hatte das Bedürfnis, allein zu sein, von niemandem angesprochen zu werden, den Lärm der Feuerwerke, das Geschrei der angetrunkenen Menschen aus meinem Bewusstsein herauszuschlendern.

„Grüß Gott!“ murmelte ich und beschleunigte meinen Schritt, um an der Schönen mit der golden schimmernden Haut vorbeizukommen, ohne in ein Gespräch verwickelt zu werden. Als hätte sie meine Absichten geahnt, wippte sie auf ihrem Brezelrücken mitten auf die Straße und verstellte mir den Weg. „Wie geht es?“ fragte sie mich. „Gestern habe ich Sie auf Youtube gesehen – Sie spielen ja feurig, das muss ich wirklich sagen.“ Auf den Austausch von Komplimenten hatte ich nun gar keine Lust! Ich hob die Hand zum Schweigen. Aber die Brezel redete weiter. Sie wolle mich fragen, ob ich mir vorstellen könnte, bei ihr heute Abend auf einer privaten Feier zu spielen. Das Honorar wäre fürstlich und ein Essen inklusive nobler Unterbringung gäbe es dazu. Das hörte sich nicht schlecht an. Meine Hand sank nach unten und mein Kopf schnellte in die Höhe. Die Brezel bohrte ihren hohlen Blick in meine Augäpfel: „Und, haben Sie angebissen?“ fragte sie mit aufreizender Bosheit. Am liebsten hätte ich ihr krachend in ihren schönen, aufgesprungenen Brezelrücken gebissen! Aber ich beherrschte mich: für uns Künstler gilt Man zahlt und du musst tanzen. Mit gelassenem, komödiantischem Lächeln fragte ich, was es denn für eine Feier sei und was mein Part dabei sein würde.

„Es ist - “, druckste die Brezel herum. „ – es ist - eine kleine Feier zu zweit.“ Eine kleine Feier zu zweit! Mir wurde es ein wenig unwohl. Zu zweit, also mit mir zu dritt. „Darf ich fragen“, gab ich zurück. „Was Sie zu zweit feiern?“ Die Brezel ließ ein paar Salzkörner fallen und säuselte: „Wir feiern unseren Hochzeitstag.“ Aha. Und ich? dachte ich. „Und ich?“ fragte ich. „Was wäre meine Aufgabe?“ Die Brezel zog eine dunkle Brille aus dem Etui, das sie in ihrer Hosentasche getragen hatte, setzte sie vor ihre hohlen Augenlöcher und erklärte ohne Umschweife, sie bräuchten eine richtig wilde und schräge Musik, um in alte Stimmungen zu kommen… Da habe sie gedacht, dass eine Geigerin, die so spiele wie ich, genau das Richtige sei. Sie polierte die Nägel ihrer linken Hand und blies anschließend darüber, als müsse sie den Staub von einem Buch entfernen, das seit Jahrhunderten im Regal gestanden und niemals gelesen worden war.

„Wie viel?“ fragte ich lakonisch.

Sie machte eine großartige Geste: „ Wir dachten an 1000 Euronen.“ Meine Güte! Das ließ sich hören. „Wo findet die Party statt?“ fügte ich gleich hinzu. „Und wo würde ich schlafen?“ Die Neujahrsbrezel legte einen affektierten Ton auf: „Bei mir in meiner Villa, Ihnen stünde dort ein eigenes Luxusappartement zur Verfügung.“

Puh! Ich muss zugeben, dass mir bei der Vorstellung, nicht nur Geige, sondern noch anderes womöglich zu dritt zu spielen, bereits der kalte Schweiß ausgebrochen war. Dennoch blieb ich misstrauisch: „Können wir einen Vertrag darüber machen?“ Die Schöne winkte bereits mit einem Papier. Sie zeigte mit farbigen Nägeln auf die einzelnen Punkte: die konzertante Musik, die sich zum Hintergrundrauschen verdünnen sollte, das Essen, das Luxusappartement im Haus und die 1000 Euronen. Plus die Abgabe an die Künstlersozialkasse, 7% Umsatzsteuer und Fahrtkosten. Wir unterschrieben beide und die Sache war geritzt.

Zur verabredeten Stunde kam ich zum verabredeten Haus, und die Brezel empfing mich wieder mit der Brille auf den hohlen Augenlöchern. Sie war alleine. Sie ließ sich von einem Hausdiener Essen auftragen und speiste königlich. Ich spielte mir die Seele aus dem Leib. Sie trank eine Flasche besten Weines nach der anderen. Ihre Gestalt am Tisch verschwamm wie verhedderte bunte Luftschlangen und sank irgendwann in sich zusammen. Der Hausdiener und ich führten sie behutsam ein Stockwerk höher.

Wieder im Saal unten angekommen, spielte ich dem Mann im Frack noch ein paar meiner neuesten Kompositionen vor und fragte dann nach meinem Zimmer. „Sie sollten etwas essen“, meinte er einfühlsam. „Ihr Magen sang lauter als Ihre Geige.“ Damit hatte er vollkommen recht, und ich ließ mich von ihm gerne verwöhnen mit den Gängen seines vorzüglichen Menüs, den erlesenen Weinen, die ich maßvoll genoss und einem herrlichen Tee zum Schluss.

Meine Unterkunft im Dachgeschoss war wirklich ein Luxusappartement. Ich nahm ein Bad in einer Wanne, die meiner vollen Körperlänge Raum gab, salbte meinen Leib anschließend mit Rosenöl und zog einen weichen Schlafanzug über. Das Bett war ein Himmelbett – auf dem Kopfkissen lag der Umschlag mit den 1000 Euronen.

Als ich zu weit fortgeschrittener Nachtstunde in den Schlaf sank, meinte ich das Schnarchen der Neujahrsbrezel tief unter mir zu hören. Die Schluchzer, die sich wie Nebelschwaden durch mein dunkles Zimmer schoben, waren sicher nur Ausgeburten meiner Träume. 

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