Neujahrsbrezel
Als
ich am Neujahrsmorgen einen Spaziergang machte und in Gedanken versunken die
Straße hinabging, fiel mir eine hochgewachsene, weizenblonde Brezel auf, die
lässig mit verschränkten Armen an einem Gartenzaun lehnte, mich mit großen
Augen von oben bis unten anschaute und ein Lied dabei pfiff.
Ich
war müde von der Silvesternacht, hatte das Bedürfnis, allein zu sein, von
niemandem angesprochen zu werden, den Lärm der Feuerwerke, das Geschrei der
angetrunkenen Menschen aus meinem Bewusstsein herauszuschlendern.
„Grüß
Gott!“ murmelte ich und beschleunigte meinen Schritt, um an der Schönen mit der
golden schimmernden Haut vorbeizukommen, ohne in ein Gespräch verwickelt zu
werden. Als hätte sie meine Absichten geahnt, wippte sie auf ihrem Brezelrücken
mitten auf die Straße und verstellte mir den Weg. „Wie geht es?“ fragte sie
mich. „Gestern habe ich Sie auf Youtube gesehen – Sie spielen ja feurig, das
muss ich wirklich sagen.“ Auf den Austausch von Komplimenten hatte ich nun gar
keine Lust! Ich hob die Hand zum Schweigen. Aber die Brezel redete weiter. Sie
wolle mich fragen, ob ich mir vorstellen könnte, bei ihr heute Abend auf einer
privaten Feier zu spielen. Das Honorar wäre fürstlich und ein Essen inklusive nobler
Unterbringung gäbe es dazu. Das hörte sich nicht schlecht an. Meine Hand sank
nach unten und mein Kopf schnellte in die Höhe. Die Brezel bohrte ihren hohlen Blick
in meine Augäpfel: „Und, haben Sie angebissen?“
fragte sie mit aufreizender Bosheit. Am liebsten hätte ich ihr krachend in ihren
schönen, aufgesprungenen Brezelrücken gebissen!
Aber ich beherrschte mich: für uns Künstler gilt Man zahlt und du musst tanzen. Mit gelassenem, komödiantischem
Lächeln fragte ich, was es denn für eine Feier sei und was mein Part dabei sein
würde.
„Es
ist - “, druckste die Brezel herum. „ – es ist - eine kleine Feier zu zweit.“
Eine kleine Feier zu zweit! Mir wurde es ein wenig unwohl. Zu zweit, also mit
mir zu dritt. „Darf ich fragen“, gab ich zurück. „Was Sie zu zweit feiern?“ Die
Brezel ließ ein paar Salzkörner fallen und säuselte: „Wir feiern unseren
Hochzeitstag.“ Aha. Und ich? dachte ich. „Und ich?“ fragte ich. „Was wäre meine
Aufgabe?“ Die Brezel zog eine dunkle Brille aus dem Etui, das sie in ihrer
Hosentasche getragen hatte, setzte sie vor ihre hohlen Augenlöcher und erklärte
ohne Umschweife, sie bräuchten eine richtig wilde und schräge Musik, um in alte
Stimmungen zu kommen… Da habe sie gedacht, dass eine Geigerin, die so spiele
wie ich, genau das Richtige sei. Sie polierte die Nägel ihrer linken Hand und
blies anschließend darüber, als müsse sie den Staub von einem Buch entfernen,
das seit Jahrhunderten im Regal gestanden und niemals gelesen worden war.
„Wie
viel?“ fragte ich lakonisch.
Sie
machte eine großartige Geste: „ Wir dachten an 1000 Euronen.“ Meine Güte! Das
ließ sich hören. „Wo findet die Party statt?“ fügte ich gleich hinzu. „Und wo würde
ich schlafen?“ Die Neujahrsbrezel legte einen affektierten Ton auf: „Bei mir in
meiner Villa, Ihnen stünde dort ein eigenes Luxusappartement zur Verfügung.“
Puh!
Ich muss zugeben, dass mir bei der Vorstellung, nicht nur Geige, sondern noch
anderes womöglich zu dritt zu spielen, bereits der kalte Schweiß ausgebrochen
war. Dennoch blieb ich misstrauisch: „Können wir einen Vertrag darüber machen?“
Die Schöne winkte bereits mit einem Papier. Sie zeigte mit farbigen Nägeln auf
die einzelnen Punkte: die konzertante Musik, die sich zum Hintergrundrauschen
verdünnen sollte, das Essen, das Luxusappartement im Haus und die 1000 Euronen.
Plus die Abgabe an die Künstlersozialkasse, 7% Umsatzsteuer und Fahrtkosten.
Wir unterschrieben beide und die Sache war geritzt.
Zur
verabredeten Stunde kam ich zum verabredeten Haus, und die Brezel empfing mich
wieder mit der Brille auf den hohlen Augenlöchern. Sie war alleine. Sie ließ
sich von einem Hausdiener Essen auftragen und speiste königlich. Ich spielte
mir die Seele aus dem Leib. Sie trank eine Flasche besten Weines nach der
anderen. Ihre Gestalt am Tisch verschwamm wie verhedderte bunte Luftschlangen
und sank irgendwann in sich zusammen. Der Hausdiener und ich führten sie
behutsam ein Stockwerk höher.
Wieder
im Saal unten angekommen, spielte ich dem Mann im Frack noch ein paar meiner
neuesten Kompositionen vor und fragte dann nach meinem Zimmer. „Sie sollten
etwas essen“, meinte er einfühlsam. „Ihr Magen sang lauter als Ihre Geige.“
Damit hatte er vollkommen recht, und ich ließ mich von ihm gerne verwöhnen mit
den Gängen seines vorzüglichen Menüs, den erlesenen Weinen, die ich maßvoll
genoss und einem herrlichen Tee zum Schluss.
Meine
Unterkunft im Dachgeschoss war wirklich ein Luxusappartement. Ich nahm ein Bad
in einer Wanne, die meiner vollen Körperlänge Raum gab, salbte meinen Leib
anschließend mit Rosenöl und zog einen weichen Schlafanzug über. Das Bett war
ein Himmelbett – auf dem Kopfkissen lag der Umschlag mit den 1000 Euronen.
Als
ich zu weit fortgeschrittener Nachtstunde in den Schlaf sank, meinte ich das
Schnarchen der Neujahrsbrezel tief unter mir zu hören. Die Schluchzer, die sich
wie Nebelschwaden durch mein dunkles Zimmer schoben, waren sicher nur Ausgeburten
meiner Träume.
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