Freitag, 3. Januar 2020

Trinitätslehre auf dem Prüfstand — Brief XV. an Unitarier und Trinitarier I: Sind die Begriffe „Gott“ und „Vater“ als Titel (und nicht ontologisch) zu verstehen?

Trinitätslehre auf dem Prüfstand — Brief XV. an Unitarier und Trinitarier I: Sind die Begriffe „Gott“ und „Vater“ als Titel (und nicht ontologisch) zu verstehen?

I.

Wer ist Gott? — „Von Rang und Namen“

Stephan Gerber, der eine lesenswerte Website zur Frage der Trinitätslehre unterhält, die Sie so erreichen können: http://trinitaet.com/ schreibt in einem seiner eigenen Artikel zur Frage, wer Jesus war, wenn er nicht „Gott“ — iS des Konzils von Nicäa also „wesensgleich mit Gott“ — ist[1], um all den Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, die sich aus der Bezeichnung Gottes als „Vater“ und Jesu als „Sohn Gottes“ ergeben, wenn man diese Begriffe als Namen oder Gattungsbezeichnungen, im weiten Sinne ontologisch versteht:

„Der Sohn des Vaters ist nicht der Vater, sondern eben sein Sohn; der Sohn des Höchsten ist nicht der Höchste; der Sohn des Präsidenten ist nicht der Präsident; der Sohn des Königs ist nicht der König; der Sohn des Chefs ist nicht der Chef, usw. Alle diese Söhne haben aufgrund ihrer Abstammung ein besonderes Ansehen und einen besonderen Stand, aber sie sind nicht in derselben Erhabenheit, in derselben Position wie ihre Väter. Zumal auch nach Gottes eigener Ordnung ein Sohn seinem Vater untertan ist.“

Gerber will damit die Denkwege umgehen, die sich an den Bezeichnungen „Gott“ bzw „Vater“ aufgehängt haben, weil sie sie als „Eigennamen“ oder „Gattungsbegriffe“ verstehen.

Beide Verstehensweisen (als Namen oder Gattungsbegriffe) stellen uns — ich nehme es gleich vorweg — vor unüberwindliche Denkprobleme, sind aber andererseits nicht ohne gravierende Abstürze umgehbar angesichts des antiken und vormodernen Denkens, aber auch einfachster linguistischer Unterscheidungen.
Wir haben etwas offenbart bekommnen, das man nicht denken kann und womit sich folglich nicht argumentieren lässt. Die Gottesfrage steht immer mit einem Bein in völlig unerreichbarem Terrain.
Die kirchliche Trinitätsdebatte ergab sich aus der berechtigten Frage, wer denn Jesus ist, und — wenn wir so fragen — zugleich auch, wer eigentlich Gott ist.

Ich stimme Gerber in jedem Fall zu, wenn er die Folgerungen des Trinitätsdogmas kritisch kommentiert. Diese Kritik müsste aber dazu führen, dass wir nicht unsererseits eine Art „alternatives“ Dogma aufstellen. Beides ist unmöglich.
Ich kann Gerber daher nicht zustimmen, wenn er etwas generalisiert behauptet, es handle sich beim Verhältnis zwischen Gottvater und Sohn Gottes um kein Geheimnis[2], wie die Trinitarier es immer wieder sagen. Ich sage: doch, das ist ein Geheimnis! Es gäbe diese heftige Debatte wohl kaum, wenn hier nicht etwas vorläge, das wir nicht mit den gewohnten Mitteln der Ratio ergründen können. Auch die Maxime, alles aus der Bibel deduzieren zu wollen scheint noch nicht zu der Erkenntnis geführt zu haben, dass so vieles in der Schrift eine Tiefe aufweist, die man erst einmal ergründet haben müsste, um sich allzu sicher zu sein, dass man „biblisch“ argumentiert. Die Bibel ist kein Puzzle und kein Lottospiel, und je älter ich werde, desto mehr Fragen habe ich, desto mehr wird mir bewusst, dass ich so oft eigentlich rein gar nichts verstehe und die Sätze der tiefen Weisheit, die sich in der Schrift finden, nicht in einem Leben ausgeschöpft werden können, obwohl sie doch nur in Menschenwort gekleidet sind. Ich erahne allmählich mit einer tieferen Seelenschicht, warum es heißt, wir könnten Gottes Wort direkt aus seinem Mund nicht ertragen, müssten in seine Licht vergehen. Tausendmal schon haben wir diese Worte der Schrift gelesen und bildeten uns ein, sie verstanden zu haben. Und beim 1001. Mal trat uns Gott in den Weg und zeigte uns, dass wir nichts verstanden haben.

Ich nehme es ebenso vorweg, dass die Aushöhlung der Begriffe „Gott“ und „Sohn Gottes“ auf bloße Funktionen hin (Ranghöchster — Untertaner) eher der animalischen Logik eines Bienenstaates oder Wolfsrudels entspricht und die zentrale Aussage des NTs, etwas vom Wichtigsten in der ganzen Schrift, dass nämlich im Christus das Wesen, besser die Präsenz und Wirksamkeit des Vaters vollkommen aufscheint (1 Kol 1,15)[3], vernachlässigt.
Dass man, wenn man so argumentiert, selbst auf eine schiefe Bahn gerät, ist mehr als gefährlich: Diese angenommene Rangfolge zwischen Gott und seinem Christus schreit geradezu danach, die Positionierung der Menschen wiederum als „Untertanen Jesu“ fortzusetzen, innerhalb derer dann folglich auch wieder Ränge ausgefochten werden müssen. Wir wissen nicht nur aus der Geschichte, dass die Folgen dieses Denkens durchweg negativ und destruktiv waren, sondern dieses Rangdenken ist aufgrund der gesamten Tendenz der Schrift, v.a. der  ausdrücklichen Aussagen Jesu sündhaft und für Gott absolut unangemessen.
Es scheint mir umgekehrt zu sein: Die Verklammerung von „Rang und Namen“, die sich schon in der Redewendung ausdrückt, wird bei Gott nicht um den Namen erleichtert, sondern um den Rang.
„Ränge“ meint nur die Unvollkommenheit und Verkehrtheit zu benötigen.
Vollkommenes Sein  bedarf keines Ranges.
Gott wohnt weder in Palästen noch manifestiert er sich sonst in „standesgemäßem“ Gewand. Das ist uns mehrfach gesagt worden und sollte uns aufwachen lassen aus der Umnachtung all der Zwangsgedanken, die uns Sein (Name) und Schein (Rang) gegeneinander ausspielen lassen. Genau dies war vermutlich der tiefste Grund der Vertreibung aus dem Paradies.

Ich werde das im folgenden ausführlich begründen und mich darauf beschränken, die These, „Gott“ und „Vater“ seien rangbezogene Titel, zu diskutieren, auf andere Aspekte in Gerbers — es sei noch einmal gesagt — lesenswerter Schrift an dieser Stelle aber nur dann eingehen, wenn sie unmittelbar mit der Fragestellung zusammenhängen.

Der chassidische Erzähler Friedrich Weinreb hat einmal ganz zurecht darauf hingewiesen, dass das Rangdenken aus dem Tierreich stammt und für den Menschen in keinem Fall angemessen ist, da jeder Mensch in sich selbst bereits eine Ganzheit ist.[4] Nur Menschen haben Individualnamen und werden von Gott auch als Einzelne bei ihrem Namen gerufen. Man kann an dieser Stelle fragen, ob die Versinnlosung und reine Ästhetisierung der Namen, wie sie in unseren Tagen geschieht, nicht Merkmal gegenseitiger Entwürdigung und schwerer Entmenschung oder auch Entgöttlichung ist. Die Banalisierung des Namens kannte man aber auch bei den Römern, die ihre Kinder oft nur noch „durchzählten“: Primus, Secundus, Tertius etc. Das findet sich bei den Namen der Hebräer in aller Regel nicht. Ich komme darauf später noch einmal zurück.
Namen drücken hier ebenso wie auch bei den Griechen und den Germanen einen Anteil am Sein Gottes bzw der Götter aus, auch wenn dies freilich vielfach verzerrt erscheinen mag. Mir geht es um die Intention der Benennung und ihre Verschränkung des Namensträgers mit dem (angenommenen) Göttlichen. Wenn jemand etwa „Batya“ genannt wurde, meinte das buchstäblich, was es aussprach, nämlich „Tochter Gottes“. Wenn einer „Theodor“ genannt wurde, meinte dies buchstäblich, dass er ein direktes Geschenk Gottes ist. Ein „Sokrates“ meint einen Makellosen, Unantastbaren, weil er in der Kraft der Götter oder Gottes ist. Wenn einer „Godefried“ genannt wurde, dann sollte er unmittelbar den Frieden der Götter leben.
Diese Namen drückten etwas ganz Wichtiges aus: Sie machten den Träger als Teilhaber göttlichen Wesens unantastbar, tabu. Das Wehe, das Gott nach der Sintflut über jedem, der Menschen antastet und ihr Blut vergießt, aussprach (Gen 9,5-7), klingt hier wie eine uralte Menschheitserinnerung nach. Es deutet eher eine Verrohung der Sitten an, wenn Namen nicht mehr in diesem Sinn vergeben werden.
Wenn einer einwenden will „Aber du gibst doch auch deiner Katze einen Eigennamen“, dann frage ich zurück „Würden wir die Katze ‚Sophia’ nennen und dabei mit der Weisheit Gottes markieren wollen? Ich denke, jeder spürt, dass das unangemessen wäre.

Gerber übt Kritik an der Auffassung Herbert Jantzens, „dass im hebräischen Denken angeblich unter „Sohn“ jemand mit dem Rang des „Bruders des Vaters“ bzw. „auf gleicher Stufe wie der Vater“ gemeint sei. Eine Begründung hierfür gibt er allerdings nicht an.“[5]
Gerber befasst sich aber mit der These gar nicht weiter und beweist seinerseits nicht, wie es denn damals wirklich war, wenn nicht so, wie Jantzen es meint.

Mit scheint, Jantzen hat an dieser Stelle recht. Gerbers Trennung von Sein und Titel ist dem Altertum vollkommen fremd. Jemand ist im Altertum immer von „Rang und Namen“. Der Name ist sein Rang oder besser Adel.
So enthält die zitierte Folge an Titeln bei Gerber einen historischen Bruch: „Präsident“ und „Chef“ sind moderne Begriffe, die es bis vor 200 Jahren im politischen Sprachgebrauch so nicht gab. „König“ und „Vater“ dagegen gehören in eine andere, ältere Kategorie, wobei „König“ nicht im selben Sinn hierarchisch gedeutet wird wie „Vater“. Der Vaterbegriff ist ein Forschungsgebiet für sich, auf das ich in einem späteren Kapitel eingehen werde.
Es ist — modern gedacht — richtig, dass der Sohn des Chefs nicht der Chef ist und auch nicht zwingend oder mit großer Wahrscheinlichkeit wird.
Der Sohn des Königs aber oder der Sohn des Vaters werden sehr wohl als Anwärter auf das angesehen, was ihre Väter sind, auch dem Titel nach. Das war in unserer Kultur lange auch so und ist noch nicht ganz verblasst: Söhne, auch Töchter übernahmen das Geschäft des Vaters nicht weil sie aufgrund irgendwelcher Qualitätskriterien dorthin gewählt wurden, sondern weil sie die Erben waren und man annahm, dass sie etwas von dessen Fähigkeiten „im Blut“ haben. Die freie Wahl, die heute besteht, völlig auszusteigen aus dem, was die Eltern dem Stand nach waren, gibt es noch nicht lange.  
Und hier irrt Gerber bzw argumentiert sehr unpräzise und v.a. antiken und vormodernen Vorstellungen völlig unangemessen. In der Tat war jeder, der vom „Patriarchen“ als Sohn/Tochter anerkannt wurde, dessen Blut und Rang und wurde als designierter „Vorgesetzter“ angesehen. Es ist falsch zu sagen, der Königssohn sei selbst nicht der König. Er wird eines Tages der König sein und ist es seinem Sein nach jetzt schon. Bis heute drückt sich das im vorderen Orient aus, wenn eine Frau etwa als „Umm-NN“ benannt wird, als „Mutter des NN“, oder Männer als „Abu NN“ oder Söhne als „Ben NN“. Damit wird die Rangverschränkung von Eltern und Kindern ausgedrückt. Selbst im germanischen Kulturraum ist das noch wenigstens erinnerungshalber lebendig, etwa in Island, dessen Nachnamen den Träger als Sohn oder Tochter eines NN ausweisen (NN-son, NN-dottir). Genau das stellt in der Tat Eltern und Kinder auf eine Rangebene. Ein vom Namen entfremdeter Rang ist in diesem Denksystem nicht möglich. Der Prinz wird König sein wie sein Vater, und die Prinzessin gibt man nur einem solchen Mann zur Frau, der ihrem Vater ebenbürtig ist, damit auch sie auf einem Thron sitzen wird.
Bei „Chefs“ und „Präsidenten“ ist dies allerdings tatsächlich nicht so.

Es ist sicher interessant, das der Begriff „Rang“ in dem Sinn, den Gerber meint, ebenfalls ein moderner Begriff ist, der mit dem 30jährigen Krieg aus der Soldatensprache der Franzosen ins Deutsche kam. Es meint eine (militärische) „Reihenfolge“.[6] Es widerstrebt mir außerordentlich, Gott in einer solchen irdischen Rangfolge anzusehen.
Gott nimmt in einer irdisch gedachten, metaphorischen „ordo“ wohl kaum den ihm zugewiesen Rang ein, auch dann nicht, wenn wir ihm den höchsten Rang zugestehen. Alleine der Gedanke ist von Hochmut geprägt. Gott ist Gott — was wissen wir über dessen „Rang“ oder „Titel“? Er hat seinen Namen im Verborgenen gelassen, eben weil er sich nicht einpassen lässt in das durch die Sünde überhaupt erst entstandene Rangdenken. Die Scheu der Juden, den JHWH-Namen auszusprechen hängt damit zusammen. Der Name, im irdischen System aufgrund seiner essentiellen Bedeutung — nach der anderen Seite hin übertrieben — magisch aufgeladen, wird uns entzogen, weil Gott nicht nur nicht als Chef einer Hackordnung, sondern auch nicht magisch verstanden werden will.

Man kann also zusammengefasst sagen: wenn es schon für den Menschen unangemessen ist, seinen Namen vom „Rang“ abzukoppeln, um wieviel weniger ist es Gott und allem, was mit ihm zu tun hat, angemessen, ausgehöhlte, ent-weste Ränge zu vergeben! Auch Gott hat einen „Namen“, der im Zentrum der Anrufungen steht und nach der biblischen Überlieferung sehr wohl geheimnisvoll, unaussprechlich ist, eine Überzeugung, die auch das ganze heidnische Altertum prägte. Die Juden nennen ihn deshalb „der Name“: „haschem“. Jesus lehrte uns beten „Vater unser im Himmel … Geheiligt werde Dein Name“.

Eine Ausblendung der Frage nach dem Wesen bzw der Gegenwart und Wirksamkeit, die im Namen aufscheinen, muss Probleme schaffen. Es ist für mich unvorstellbar, Gott zu preisen oder zu Jesus zu beten, wenn ich mir die Frage danach, wer sie wesenhaft sind, nicht mehr stelle und mich an ein Ranggefüge wende. Im postmodern-irdischen Denken mögen „Instanzen“ ja das Maß sein, aber sie sind immer auch anonym. Sobald aber jemand persönlich hervortritt als eine bestimmte Entität, die einen Namen hat, verblasst auch alles Instanzliche und muss dem, was diese Person ist, weichen. Wahre Autorität kann nur im Sein liegen und nicht im Rang. Wer einen Rang jenseits des seinsbezogenen Namens benötigt, bleibt notwendig hinter dem Sein zurück, das er gerne hätte oder andere ihm gerne zusprechen würden.

Dass Gott und Mensch in ihren Namen unbedingt als „Wesen“ aufgefasst werden müssen, als Seiende, erscheint mir unabdingbar. Die Frage nach dem Namen und Ableitungen aus dem Namen sind sogar ausgesprochen „biblisch“. Unzählige Male wird ausdrücklich Bezug genommen auf den Namen sowohl Jesu (sein Name wurde sowohl seiner Mutter als auch dem Ziehvater jeweils visionär mitgeteilt: Jeshua (Jehoschua) und heißt „Gott heilt/rettet“) als auch Gottes, etwa: in dem „Namen Jesu beugen sich alle Knie“, weil Gott ihm einen Namen über allen Namen gegeben hat (Phil 2,9+10), Job preist den „Namen des Herrn“, den „schem JHWH“ (Job 1,21).
Zahlreiche Individualnamen haben im Hebräischen den Namen Gottes inbegriffen oder zeichnen ihn als Gottgesegneten, weil er Träger göttlicher Energien ist, und zeichnen ihn als Abkömmling Gottes oder Gottgeweihten — alle Namen, die auf „ja“ („jahu“) oder auf „el“ beginnen oder enden: Gabriel, Michael, Rafael, Eliyahu, Netanjahu, Jeremia, Elischa, Eli, Benjamin als „Glückssohn“, David als „Liebling (Gottes)“. Die weiblichen Namen bedeuten häufig das Wesen Gottes oder ebenfalls die direkte Abkunft oder Beziehung von oder zu ihm— etwa mein Name Channa („Hanna“) heißt „Huld/Gnade (Gottes)“ oder die daraus folgende von Gott stammende weibliche „Anmut“, Adaja bedeutet „geschmückt vom Herrn“, Atalya bedeutet „Gott ist erhaben“, Batya bedeutet „Tochter Gottes“, Ahuva bedeutet „Geliebte (Gottes)“, Elischewa, bekannter als „Elisabeth“, bedeutet „mein Gott ist Fülle“, Hadassah bedeutet „Myrte“ bzw „Braut“, der immergrüne Baum steht für das ewige Leben, Fruchtbarkeit, und seine Bedeutung als Brautbaum für die Bräutlichkeit zu Gott. Man könnte es endlos fortsetzen, und all diese Namen sprechen für sich und zeigen uns, dass am Namen sehr viel hängt und nur Menschen und die Erzengel den Namen bzw das Sein Gottes in ihrem Namen tragen. Das ist mehr als nur eine bloße Formalität.

Ob man dagegen bei Gott und Mensch theologisch-mystisch gesehen von „Gattungen“ oder „Arten“ sprechen kann, bezweifle ich mit Gerber — wir tun das allenfalls grammatisch oder biologisch, aber dem Geist und Odem nach ist es unmöglich.

Aber Vorsicht — wir reden über Gott in menschlicher Sprache, und er offenbart sich in menschlicher Sprache. Ich habe Probleme mit Gerbers Argumentation wegen der verwirrten linguistischen Begriffe:

Seine Argumentation
„Jesus ist der Sohn des Höchsten, und er redete wiederholt von seinem Gott. Dies passt weder zu Gattung noch zu Name, wohl aber zu Titel und Verhältnis / Beziehung: Sein Gott ist sein Vater < - > Sein Vater ist sein Gott.“[7]
ist aus zwei Gründen einseitig und logisch nicht haltbar.

1. Der erste Grund ist der, dass Jesus eben gerade nicht „wiederholt von seinem Gott redet“. Das ist Wunschdenken des Autors. Jesus spricht in der Tat in den Evangelien fast durchweg und zahlreich von „meinem Vater“ und nur an ganz wenigen Stellen im Johannes-Evangeliun von dem oder „meinem Gott“, wobei gerade dieses Evangelium den Trinitätsgedanken am meisten zu unterlegen scheint. Dagegen findet sich im NT 261mal die Benennung Gottes als „Vater“.[8]

2. Der zweite Grund ist der, dass selbst wenn Jesus „wiederholt“ von „seinem Gott“ geredet hätte, damit nicht bewiesen wäre, dass „Gott“ weder Gattung noch Name sei. Es ist mir nicht verständlich, warum Gerber ohne Begründung ausschließt, dass ein „Name“ selbstverständlich auch in einer solchen Formulierung mitgedacht werden kann, etwa so wie man sagen kann „meine Frau“, aber synonym dafür auch „meine Anneliese“ oder „mein Sohn“ und synonym dazu „mein Karl“. Ich kannte Leute, die ihre Frau als „Frau“ riefen. Oder: „Mama“ ist sicher liguistisch auf einer ersten Ebene ein Gattungsbegriff, aber wenn mein Sohn mich so nennt, ist es linguistisch gesehen ein Eigenname, weil er nur mich so nennt. Die anderen Mamas der Welt sind für ihn keine Mama.
Gerber geht mit linguistischen Begriffen um, die bereits ausführlich diskutiert wurden und werden, berücksichtigt aber diesen Stand der Diskussion nicht. Überhaupt ist seine Unterscheidung zwischen „Gattung“ und „Name“ nicht ohne weiteres klar, erinnert an die Differenzierung in der präzisen Linguistik zwischen „Gattungsnamen“ und „Eigennamen“, aber es bleibt unklar, ob Gerber das meint oder etwas anderes. Davon abgesehen ist seine Differenzierung des Begriffs „Titel“ von „Gattung“ falsch. Titel sind per definitionem immer Gattungsbegriffe. Wenn überhaupt ist hier nur eine einzige Differenzierung möglich, nämlich die zwischen Eigenname und Gattungsname.
Hier wäre kritisch anzumerken, dass Gerber, wenn er sich an das Thema von Eigen- und Gattungsnamen gewagt hat, unbedingt die vorhandene linguistische Unterscheidung hätte beachten müssen, die ich ganz kurz skizzieren will:
In der Linguistik spricht man von Eigenname (nomen proprium) und Gattungsname (nomen appellativum). Es gibt Übergänge von Eigen- in Gattungsnamen und umgekehrt. „Herkules“ ist ursprünglich ein Eigenname, hat aber auch den Charakter eines Gattungsnamens angenommen, wenn wir sagen „Dieser Mann ist ein wahrer Herkules“. Oder andersherum wenn wir sagen „Die Chefin ist auf Dienstreise“ rückt „Chefin“ in die Position eines Eigennamens — so wie oben bei „Mama“.
Der Begriff Gott ist allerdings auf Deutsch und Hebräisch mit ganzer Sicherheit auch ein Gattungsname, weil es mehr als einen davon im Sprachgebrauch gibt. Auch die Schrift gebraucht den Gattungsnamen vielfältig, benennt den Gott Israels und den einen echten Gott als „elohim“, mit demselben Begriff aber auch die Götter der Heiden. Da auf Gerbers Website immer wieder mit genau diesem Argument abgewehrt wird, dass Jesus Gott sei, eben weil „elohim“ oder auch „theos“ auf alle möglichen Entitäten, sogar Menschen, angewandt werden, ist die Behauptung, „Gott“ sei kein Gattungsbegriff, ein schwerer Argumentationsfehler und Widerspruch. Zumal auch der Titel ja linguistisch gesehen immer eine Gattung beschreibt.
Ich persönlich glaube zwar nicht, dass „Gott“ in der spezifischen Rede Jesu als Gattungsbegriff gemeint ist — das ist meine Überzeugung, aber sprachlich-linguistisch lässt sie sich nicht beweisen. Die Rede von „meinem Gott“ beinhaltet dann aber logischerweise keinen Titel oder Rang, sondern schlicht und eigentlich „mein Urbild“. Damit ist eine Beziehung ausgesprochen, aber sie entzieht sich der „ordo“ als „Stufenleiter“ verstanden, weil Urbild und Abbild immer wieder von Jesus als „ineinander“, eben doch auf geheimnisvolle Weise verschränkt benannt werden (Joh 10,30; Joh 10, 38; Joh 14,9-11; 2 Kor 5,19; Kol 1,19; Kol 2,9). Es sind zwei Entitäten, aber man kann sie weder trennen noch einfach zusammendenken. Insofern trifft Tertullian ja durchaus etwas mit der strittigen Formel „wahrer Mensch und wahrer Gott, ungetrennt unvermischt“. Nur hätte Tertullian dann das Ineinander von Vater und Sohn so beschreiben müssen und nicht den Sohn alleine. In ein Einzelwesen projektiert ist die Formel monströs, auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn aber würde sie sogar sehr gut passen: Der Vater ist wahrer Gott, der Sohn ist wahrer Mensch, sie sind eins, ungetrennt und unvermischt.

War das nicht einmal die ursprüngliche und gute Verfassung des Menschen „im Bild“ und „in der Gestalt Gottes“?

=//= FORTSETZUNG FOLGT =//=




[1] Stephan Gerber: Wer ist Jesus von Nazareth? — Was hätten Sie geantwortet? Mai 2017 http://trinitaet.com/images/PDF/Wer_ist_Jesus_von_Nazareth_A5_2017.pdf
[2] A.a.O. Gerber S. 1: „Jedoch redet die Bibel in diesem Zusammenhang an keiner Stelle von einem Geheimnis.“ Das muss sie auch nicht! Es geht um die Erfahrung, dass wir die Relation Vater — Christus tatsächlich nicht ergründen können.
[3] Ein Autor — dem ich allerdings nicht in der ganzen Ausführung an der zitierten Betrachtung folgen kann — kommentiert diese Stelle im Kolosserbrief mit diesen Worten dennoch sehr schön und auch zutreffend: „Jesus ist das Bild, Ebenbild, Abbild des unsichtbaren Gottes und die Sichtbarwerdung der Person des Vaters. Christus ist die exakte Darstellung Gottes, der vollkommene Ausdruck Gottes in menschlicher Gestalt. Der Sohn ist der "Exeget" (Auslegung/Erläuterung) des Vaters und manifestiert in Seiner Person das Wesen des unsichtbaren Vaters (vgl. Joh 6,46 "Nicht dass jemand den Vater gesehen hat, außer dem, der von Gott ist, dieser hat den Vater gesehen").“ Daraus folgt freilich nicht, dass er identisch mit dem Vater ist. Genau dieser Schluss lässt sich nicht so einfach ziehen. https://www.geistlicher-felsen.de/jesus-das-bild-ebenbild-abbild-des-unsichtbaren-gottes-des-vaters/
[5] A.a.O. Gerber, S. 3
[7] A.a.O. Gerber S. 4

Sonntag, 29. Dezember 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Rauhnächte

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: 

Rauhnächte

Der Schornstein singt mit dem Wind.
Das Holz prasselt ihm entgegen.
Regen tropft aus der Dachrinne.
Im Wald riecht es nach Erde.

Der Schornstein brummt im Wind.
Ein Glutbeet gibt ihm Antwort.
Am Himmel glitzern die Sterne.
Der Wald versteift im Reif.

Der Schornstein schweigt im Wind.
Im Ofen rauchen die Scheite
Unterm Weihnachtsbaum putzt sich die Katze.
Draußen im Wald
leuchtet das Teufelskraut*.


* badische Bezeichnung für die grüne Nieswurz

 Hanna Jüngling, 29.12.2019 (Im Weihnachtswald)


Tagebuchfolgen bisher:



Mittwoch, 25. Dezember 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Augustinus oder Von der Unmöglichkeit eines Schlusses

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Augustinus oder Von der Unmöglichkeit eines Schlusses

„So dachte ich auch von dir, du meines Lebens Leben, du durchdringest als eine Größe die ganze Weltmasse durch gränzenlose Räume, und ragest gränzenlos, unendlich über sie hinaus, so daß dich Erde, Himmel und Alles habe und in dir begränzt sei, während du es nirgends seiest. Wie dem Sonnenlichte die, obgleich körperliche Lust, die über der Erde ist, nicht hindernd entgegensteht, so daß es sie nicht durchdringen und durchschneiden könnte – wie es sie ganz erfüllt, so glaubte ich auch von dir, es sei dir nicht nur Aether, Luft und Wasser zugänglich, sondern selbst die feste, undurchsichtige Erde. In allen ihren größten und kleinsten Theilen sei sie durchdringbar, um deine Gegenwart zu erfassen, der du innerlich und äußerlich alles was du erschufest, geheimnißvoll durchwehest. So vermuthete ich, weil ich mir es nicht anders zu denken vermochte. Aber ich irrte, denn nach dieser Vorstellung besäße ein größeres Geschöpf einen größern, ein kleineres einen kleineren Theil von dir und Alles wäre voll von dir dergestalt, daß der Elephant um so mehr von dir enthielte, als der Sperling, um wie viel er größer ist als dieser; und so würdest du stückweise dich den Einzelnwesen der Welt vergegenwärtigen und hätten die großen große, die kleinen kleine Theile von dir inne. Aber so bist du nicht! Und noch hattest du meine Finsternisse nicht erhellt.“[1]

Von der Unmöglichkeit eines Schlusses

Gott in der Natur und außerhalb ihrer — das sind Hilfssätze für etwas, das man nicht denken kann.
Ist Gott manifest in der Natur, muss sie unendlich sein, weil er unendlich und unbegrenzt ist. Geht er über sie hinaus, muss irgendwo eine Bruchstelle sein: ab da hört die Natur auf, ab hier beginnen die Gefilde Gottes, gewissermaßen wie eine sich ausdünnende Atmosphäre der Natur, die sich im „Vakuum“, in einer Gegend verliert, die atemlos ist. In diesem Fall wäre zu unterscheiden zwischen einer wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Natur oder aber einer Natur, die einen Zaun um sich herum hat in ihrer Begrenztheit. Im Außen wäre Gott, im Innen irgendwie auch. Da Gott immer derselbe ist, müsste sein unsichtbares Sein auch in der Natur unsichtbar sein. Aber dann könnte man die Natur auch „etsi Deus non daretur“ denken. Nur: wenn man sie so denkt, gibt es sie dann überhaupt? Von Nichts kommt bekanntlich nichts und nicht etwas …

Der Garten Eden hatte Grenzen. Er galt als Paradies. In ihm war es „himmlisch“, in ihm war die Natur vollkommen.
Aber ist das wahr?
In welches Außen konnten die Menschen dann vertrieben, hinausgeworfen werden?
Gehört es auch noch zur Natur?
Und dieses Außen — wo endet es?
Und warum wollten sich die Menschen in der Stadt Babel konzentrieren?
Warum wollten sie sich nicht verteilen auf der Erde?
Hatten sie Angst vor der Unendlichkeit?
Oder vor dem Zerstreutsein?
Vor dem Verlust des Ganzen?
Was aber war dann das Ganze?

Augustinus unterscheidet leider nicht Quantität und Qualität in seiner Überlegung. Ein Elefant voller Gott ist wegen seiner Ausdehnung nicht mehr als eine Ameise voller Gott. Gott ist immer Gott, es gibt ihn nicht groß und klein.
Elefant und Ameise sind voller Gott gleich.
War er wirklich so vernebelt vom spätantiken, hellenistischen, in seinem Falle dann neuplatonischen Wahn, der mit finsterer Besessenheit alles in Rangstufen geordnet sehen will, dass er diese einfache Erkenntnis nicht mehr erreichen konnte?

Wir wissen so wenig, so unendlich wenig, je mehr wir wissen!

Und der Fragen werden immer mehr …

Etwa: Ist die physische Erscheinung des auferweckten Jesus nur der Situation seiner Jünger geschuldet, die noch „im Leib“ waren, in Wahrheit sei der Auferstehungsleib aber ein reiner Geist?
Oder ist die Physis des Menschen so zentral für ihn, dass der Mensch ohne Physis nicht denkbar ist? Manche sagen: Jesus sagte, im Himmel seien wir wie die Engel, also nicht-leiblich. Aber wissen wir das so sicher? Wenn der Mensch physisch „als Mann und Frau“ (und das garantiert, dass er leiblich ist), als dieses leibliche Wesen „in der Gestalt Gottes“, sein „Abbild“ ist: wird das dann einfach weggekürzt im Himmel? Erlaubt es uns zu behaupten, Gott könne in keiner Weise Urbild dieser Physis sein?

Wie überlagern sich die schon angebrochene „basileia theou“, das Königreich Gottes, das nicht von diesem „kosmos“, diesem System ist und kein leid mehr kennen wird, und die Natur, die wir kennen, in der auch das Böse wirkt, woher immer es kommt und was immer es ist? Es konnte ja bereits in der guten Natur in Eden ungehindert wirken…?

Und was ist mit diesen 1000 Friedensjahren? Was mit dem von den Propheten angekündigten Friedensreich, das als irdisches, natürliches Reich gezeichnet wird, nur ohne Leid und Tod und Gewalt? Liegt es als Zwischenstufe vor einem reinen Geistreich, oder ist es etwas anderes? Oder war es auch den biblischen Propheten unmöglich, das in Worte zu fassen, worauf wir zugehen?

Fragen über Fragen, und niemand soll sich anmaßen, einfach so von der Natur zu sprechen als wüsste er, wo sie ist und wie sie sein soll!

Hanna Jüngling, 25.12.2019 (Weihnachten)


Tagebuchfolgen bisher:





[1] Aurelius Augustinus: Bekenntnisse VII, 1. In der Übersetzung von Georg Rapp, Stuttgart 1838

Dienstag, 24. Dezember 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: „Etsi Deus non daretur“ oder "Deus sive natura"? Oder beides nicht?

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: „Etsi Deus non daretur“ oder "Deus sive natura"? Oder beides nicht?

„Der Rückgriff auf die Formel: Einerlei, ob es Gott gibt oder nicht, ob die
(christliche) Religion Ausdruck göttlicher Offenbarung oder menschlicher Erfindung ist usf., [es] gilt jedenfalls dies und das, ist im Grunde versperrt, weil diese Formel die Offenheit der Gottesfrage wieder aufhebt.“
[Anmerkung des Autors an dieser Stelle in der Fußnote: „Die Formel zeigt eine auffallende Parallelität zu der berühmten, schon in der Spätscholastik aufgetretenen Formel des Hugo Grotius, daß die vernunftbegründeten Gebote des Naturrechts auch dann Geltung haben würden, wenn es — was zu denken schrecklich sei — Gott nicht gebe. Diese Formel diente als Vehikel für die Ablösung des Naturrechts von seiner theologisch-metaphysischen Grundlage und den Übergang zum rein immanent, von leitenden menschlichen Zweckideen her begründeten Vernunftrecht.]
Dieser Rückgriff liegt zwar nahe, eben weil die Existenz Gottes und einer göttlichen Offenbarung kein Gegenstand […]wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern des Glaubens sei. Man folgt dabei aber, ohne sich dessen vielleicht bewußt zu werden, einem virtuellen Atheismus. Es kommt dann nämlich, […]wissenschaftlich gesehen, auf die Existenz Gottes und einer göttlichen Offenbarung nicht an; sie bleiben — wissenschaftlich — folgenlos, weshalb man sie auch vernachlässigen kann.“[1]

Spätestens seit dem frühneuzeitlichen Gelehrten Hugo Grotius (1583-1645) kam der Gedanke in den wissenschaftlichen Diskurs, dass man Dinge denken können müsse, ohne Gott dabei als feste und objektive Größe anzunehmen.[2] Er mag in Form subjektiv angenommener religiöser Überzeugungen und Annahmen zwar selbst „Forschungsobjekt“ sein, etwa in der Religionswissenschaft, Volkskunde oder Soziologie, aber als objektiver Referenzpunkt wurde er ausgeschlossen.
Es wäre ein Missverständnis, solche „Objektivität“, einen solchen Referenzpunkt zu verwechseln mit einem bekannten und „erfassbaren“ Faktum. Wenn mittelalterliche und auch noch neuzeitliche Forschung Gott als objektives Faktum andererseits einbezog in ihre Überlegungen, ihn überhaupt als verborgenes Maß aller Objektivität ansah, dann ähnlich einem „Äther“-Element, das alles trägt und zusammenhält, aber nicht (erschöpfend) gesehen werden kann, ohne dessen Annahme aber nichts Bestand haben könne. Solche Forschung kommt per definitionem nie an ein Ende und kann auch keine endgültigen, „abschließenden“ Erkenntnisse festlegen. In dieser positiven Formulierung konnte Gott als „absconditus“ und „revelatus“ tragend bleiben. Insofern er sich offenbart hat, kann er diskursiv einbezogen werden, insofern er verborgen bleibt, wird er intuitiv mitgedacht, aber nicht angerührt oder gar missbraucht für menschliche Gedanken und Ideen. Dass der „absconditus“ aber in keinem voluntaristischen Gegensatz zum „revelatus“ steht und mit seiner Verborgenheit nicht unterläuft, was er offenbart hat, wurde ebenfalls selbstverständlich angenommen.

Diese schlichte positive Einbeziehung Gottes konnte mit dem ausgehenden Mittelalter nicht fortgesetzt werden.
Der Bruch in der positiven Bezugnahme auf den großen Gott in der Wissenschaft geschah aus verschiedenen Gründen:

1. Einerseits tradierte man im römisch geprägten Abendland von Anbeginn an eine arkanische Linie, die das „eigentliche Wissen“ über Gott in eine hermetische Lehre verlegte, die das Volk ausschloss und mit sinnlich fassbaren „kleinen“ Mysterien versorgte. Diese Konstellation war schon in den Mysterienkulten der Spätantike vorhanden und setzte sich im Staatskirchentum fort. Glaube hieß für das Volk: Teilhabe an Ritualen, die es nicht im Kern verstehen konnte und sollte, aber passiv empfangen durfte, die Verlagerung des Göttlichen auf mehrere Personen bzw mächtige Heilige (Schutzheilige), die den alten polytheistischen Göttern nachgeformt waren. Durch die Mystifizierung der Ordinierung in ein „Amt“ als „Sakrament“ bzw Weihe-Mysterium wurde eine Priesterkaste ausgebildet, die ein Wesensmerkmal — das des Christus — eingeprägt bekam, das ihr Anteil an „höherem“ Sein zugestand. Der Teilhaber der arkanischen Disziplin kann „objektiv“, auch dann, wenn er subjektiv ein Schwein war, „in persona Christi“ agieren. Er wird in ein rigides, pyramidales, hierarchisches Konstrukt eingespannt. Ihm kommt eine magisch gedachte göttliche Vollmacht gegenüber den Ungeweihten zu. Christus aber, den man zugleich für „homoousios“ (wesensgleich) mit Gott definierte, vergöttlicht den Priester in einer Weise, die dem restlichen Volk nicht zukommt und nicht zukommen kann. Es wurde damit der Weg in eine solch schlichte, oben skizzierte Wissenschaftsmethode versperrt, eben weil dem nicht-geweihten bzw in der Hierarchie nicht sehr weit oben stehenden und in die Welt hinein wirkenden Gelehrten nicht mehr zukam, das, was offenbart war, als objektives Gut zu interpretieren oder gar direkt, „occulte“ (im Verborgenen und persönlich) zu erfahren.

2. Verheerend hatte sich die Wendung zu einer „negativen“ Theologie ausgewirkt, die durch die dogmatische Entwicklung der (West-)Kirche provoziert worden war:

Die negative Theologie des Spätmittelalters wurde einerseits durch Mystiker formuliert, blieb dort aber poetisch und darum in ihrem „Mysterium“, das persönlich und intuitiv erfasst wurde, immer noch positiv wirksam,  konnte (musste aber nicht) zu einem radikalen Monismus führen, der an die hellenistische „hen to pan“-Philosophie (Alles ist eins) anknüpfte und in der Formel Spinozas, „deus sive natura“ dann im Abendland endgültig und offen Fuß fasste, die allerdings so im antiken und spätantiken Kontext wiederum nur „Eingeweihten“ zugänglich war.
Aus anderen Gründen hatte die Kirche selbst solche negative Theologie definiert — auf dem Laterankonzil 1215 (s.u.) und nun „rational“ und diskursiv. Im wesentlichen ging ein Mystiker mit Unsagbarem um, das er in Metaphern und künstlerische Bilder fließen ließ. Das unterschied ihn vom gelehrten „Weisheitsinhaber“ und „Eingeweihten“ der Mysterienkulte. Die Kirche kam mit ihren Definitionen dagegen dem alten Bild des Initiierten wieder nah. Die negativen Formulierungen des Meisters Eckhart etwa wurden von Papst Johannes XXII. 1329 mit einer erschütternden Schärfe verurteilt. Er brandmarkte Eckhart tatsächlich als vom Satan inspiriert, weil er Sätze wie folgende formuliert habe:

„Omnes creature sunt unum purum nichil. Non dico, quod sint quid modicum vel aliquid, sed quod sint unum purum nichil.“
(Alle Geschöpfe sind reines Nichts. Ich sage nicht, dass sie wenig oder irgendetwas seien, sondern dass sie ein einziges, reines Nichts seien.)

Ebenfalls ein Prüfstein für die Trinitätslehre waren Sätze wie:
„Deus est unus omnibus modis et secundum omnem rationem, ita ut in ipso non sit invenire aliquam multitudinem in intellectu vel extra intellectum; qui enim duo videt vel distinctionem videt, Deum non videt. Deus enim unus est extra numerum et supra numerum, nec ponit in unum cum aliquo. Sequitur: Nulla igitur distinctio in ipso Deo esse potest aut intelligi.“
(Gott ist auf alle Weisen und in jedem Betracht nur Einer, so daß in ihm selber keinerlei Vielheit zu finden ist, weder in der Vernunft noch außerhalb der Vernunft; wer nämlich Zweiheit oder Unterschiedenheit sieht, der sieht Gott nicht, denn Gott ist Einer außerhalb aller Zahl und über aller Zahl und fällt mit nichts in Eins zusammen. Daraus folgt: In Gott selbst kann demnach keinerlei Unterschied sein oder erkannt werden.).

Oder gar: „Pater generat me suum filium et eundem filium. Quicquid Deus operatur, hoc est unum; propter hoc generat ipse me suum filium sine omni distinctione.“
(Der Vater zeugt mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Was immer Gott wirkt, das ist Eines; darum zeugt er mich als seinen Sohn ohne allen Unterschied.)

Es ist von Interesse, wie Johannes XXII. diese Verurteilung begründete: Eckhart habe „mehr wissen wollen, als ihm zukam (plura quam oportuit)“.[3] Diese Aussage ist einigermaßen entlarvend, denn selbstverständlich gesteht der Papst sich selbst und den Gelehrten, die er Eckharts Sätze hat überprüfen lassen, zu, darüber zu urteilen, was ein einfacher Dominikaner wie Eckhart wissen darf und was nicht. Die „mensura fidei“, das Maß des Glaubens, konnte Eckhart keinesfalls aufgrund persönlicher Gotteserfahrung geschenkt bekommen. Er stand nicht an der Spitze der Initiierten, auch wenn er geweihter Priester war, sollte sich daher nicht zu weit vorwagen und erst recht nicht seine Gedanken den „corda simplicium“, den Herzen der einfachen Menschen — also der Nichtgeweihten —  mitteilen.
Der mittelalterliche Mystiker behauptete von sich nicht, in irgendetwas Objektives oder gar diskursiv Sagbares „eingeweiht“ worden zu sein. Seine „unio mystica“ blieb persönlich und im Kern Bestandteil der „absconditas“, oder besser gesagt des „occultum“, das alles Offenbarte umgab. Die okkulte bzw mystische Teilhabe an arkanischen Weisheiten wurde durch Mystiker subversiv in deren persönlichen Bereich verlagert und dem Zugriff der Hierarchie und der magischen Aufbereitung entzogen: wem sich Gott direkt zuwandte, der war erhaben über das Urteil der Kirche, aber auch die rationalisierten Weisheits- und Zauberlehren der antiken Mysterienkulte. Im Gegenteil, nach Meister Eckhart gehörte er zu jenen, die „nichts mehr wissen“. Jesu Seligpreisung der „Armen“ interpretiert er in einem “höheren Sinn“:
„Bischof Albrecht sagt, der sei ein armer Mensch, dem alle Dinge, die Gott je schuf, nicht Genüge tun, und das ist gut gesagt. Aber wir sagen es noch besser und nehmen Armut in einem höheren Sinne. Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiss und nichts hat.“[4] 
Genau diese Idee rüttelte an den Festen der mittelalterlichen Welt, bis sie sich in der Reformation entlud. Die Reformation allerdings war längst durch die Intentionen der Renaissance, durch einen Wust an Erstarrung und Verfälschung der Dinge zurück zu den Quellen der Weisheit zu finden, auf gelehrte Weise also, in den schriftlichen Quellen forschend, „ad fontes“ zurückzukommen, umgedeutet worden und verschärfte den Trend, der der Kirche zuvor so schwer zu schaffen gemacht hatte, noch. Einerseits wird sie geradezu messianisch bis heute gefeiert von ihren Anhängern, als sei mit ihr eine Korrektur in Richtung „Königreich Gottes auf Erden“ geschehen. Solche reformatorischen Gottesstaaten oder Gottesgesellschaften gab es mehrere, etwa den Genfer Gottesstaat, als Vorläufer bereits das florentinische Experiment Savonarolas, verschiedene prä-kommunistische Gemeinschaften wie die Hutterer oder die Amishen, oder das Täuferreich von Münster. All diese Phänomene basierten keineswegs auf der "Wiederentdeckung der Heiligen Schrift", einem braven „sola scriptura“, wie es heutige Reformationsenthusiasten glauben. Die Traditionen, auf die sich diese Bewegungen bezogen, sind bei genauerem Hinsehen noch ungeschminkter heidnischen Ursprungs als die kirchliche Tradition, die sich immerhin dagegen abgrenzen musste gegenüber interner Kritik, die mit der Reformation ausgelagert wurde und darum auch den hemmungsloseren Einbruch älterer heidnischer Tradition in der römischen Kirche ermöglichte. Es ist reichlich naiv zu glauben, einfache, ungebildete Männer hätten plötzlich mit dem 16. Jh einfach so solche Ideen gehabt, quasi aus dem Nichts. Die nüchterne Vernunft muss uns sagen, dass das nicht vorstellbar ist: Im Protestantismus wucherte eine Gelehrsamkeit, die häufig auch mit Alchemie und alten Weisheitslehren umging und eine spezifisch, wirksame Denkweise auf dieser Basis entwickelte (so zB Newton oder Kepler, die beide Alchemisten, Hermetiker und Okkultisten waren) und an alte hermetische Traditionen anknüpfte Mystiker (wie zB der in Pietistenkreisen beliebte Jacob Böhme), andererseits beweinen die Kinder der Reformation heute den angeblichen oder wirklichen Zusammenbruch des "Festhaltens am Wort", das sie der Reformation zuschreiben, in der Postmoderne. Genauso verfehlt ist die Klage der Konzilskritiker im katholischen Bereich: auch sie verkennen, dass das, was sie für "urkatholisch" halten, bereits eine Degeneration des 16. Jh war und ist. Das Geschichtsbild, das man uns bezüglich der Entwicklungen des 16. Jh nahegelegt hat, erscheint mir reichlich verzerrt und unrealistisch.

Dennoch: Es konnte der kirchlichen, arkanisch ausgerichteten Hierarchie nicht gefallen, dass jedermann freier Empfänger göttlicher Ansprache sein konnte, und sie tat alles, um es zu unterbinden.

Die Rationalisierungversuche des Lehramtes, das zu dieser persönlich gefärbten Gotteserfahrung, die ihr ein Dorn im Auge war, gewissermaßen seinen „objektiven“ Kommentar abgeben musste, sorgte so langfristig, aber folgerichtig selbst für die Ausstoßung Gottes aus dem Diskurs der Gelehrten. Auf dem IV. Laterankonzil 1215 hatte man schon den Satz definiert „Quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.“[5] (Denn zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann keine so große Ähnlichkeit bemerkt werden, dass nicht zwischen ihnen eine noch größere Unähnlichkeit festgestellt werden muss.)
Alles, was ist, kann demnach nicht ohne den Schöpfer gedacht werden, aber dieser Schöpfer, der seine Chiffren in der Schöpfung hinterlässt, kann dennoch niemals mit ihnen identifiziert werden. Er ist der Schöpfung unähnlicher als ähnlich. Es ist logisch, dass dieser Gedanke dazu führen musste, Gott am Ende ganz „hinauszudenken“ aus seiner Schöpfung, wenn er sich dem forschenden Geschöpf in der Schöpfung als Schöpfer durch wachsende Unähnlichkeit entzog. Je mehr der homo investigans forscht, desto mehr verliert er seine Gewissheiten über die Chiffren Gottes in der Natur, die wir als „vorgefundene Schöpfung“ meinen. Je mehr er weiß, desto weniger kommt er Gott nahe. Das sind die Folgerungen aus der radikalen Feststellung des IV. Laterankonzils, das diesen Satz im Rahmen einer scharfen Ablehnung der Reflexionen Joachims von Fiore über die Dreifaltigkeit formulierte. Joachim hatte sich im Rahmen der Tradition, die auf das 4. Jahrhundert zurückgeht, in dem man begann, das Trinitätsdogma zu bilden, mit der Frage auseinandergesetzt, wie drei „Personen“ der Gottheit zugleich „einer“ bzw ein „Wesen“ sein könnten, ohne dass dieser „Eine“ als eigene Größe mitgerechnet werde, und eine Analogie zu menschlicher Gemeinschaft hergestellt, die als „eine“ aufgefasst wird, etwa „ein Volk“ oder „eine Kirche“ oder eine „Familie“, dieser Einheitsbegriff aber nicht iS eines Wesens verstanden werden könne, wenn man ihn nicht noch einmal extra setzt neben den Einheiten der einzelnen Mitglieder. Wolle man Gott dennoch — trotz der Trinitätsbehauptung — als „consubstantialis/homoousios“ (eines Wesens) verstehen, müsse man eine vierte Größe annehmen, nämlich die des einen Ganzen. Eben weil dies in der menschlichen Anschauung auch so sei, könne eine Trinität nicht ohne weitere Implikation einer Viereinigkeit angenommen werden.
Nun ist diese von Joachim formulierte Problematik des Konstruktes der Trinität als einer mehr oder weniger philosophischen Spekulation mehr als berechtigt. Und die dogmatische Reaktion der Kirche darauf offenbart, wie absurd und betriebsblind die Kirche argumentiert: Sie verkennt, dass die Ausfaltung der Trinitätslehre, die in diesem Konzil 1215 ihren Abschluss fand (mit der dogmatischen Definition des „Filioque“), ohne permanente Analogieannahmen überhaupt nicht formulierbar wäre. Alle Aussagen über Gott könnten — gelte tatsächlich, dass die Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf immer kleiner als die Unterschiedlichkeit sei — nicht für ernst genommen werden, da auch das Trinitätsdogma aufgrund logischer Analogieannahmen festgestellt wird. Tatsächlich entzieht sich die so definierte Gottheit durch die trinitarische Definition dem Geschöpf immer mehr.
Joachims Frage wurde verworfen, aber sie steht dennoch mindestens seither im Raum wie ein Elefant, den die Kirche durch Umgebungsgeplänkel „unsichtbar“ machen wollte. Die begabteren Denker aber sahen natürlich, dass sich Gott mit der Trinitätsdefinition faktisch für die wissenschaftliche Forschung erübrigte: Gott verlor seinen Charakter als absconditus nicht durch die Offenbarung, zu der er sich selbst herabließ, sondern durch eine menschliche Spekulation, die als „Offenbarung“ ausgegeben wurde. Dadurch war die Offenbarung der Tendenz nach korrumpiert: Gott erschien nicht mehr als der Über-Rationale, sondern als der Irrationale und passte damit nicht mehr in ein Wissenschaftskonzept, das wesentlich rational begründet ist — ein Problem, das im übrigen noch viel mehr der rabiat-unitarische Islam hat, der zwar mit dem radikalen Monotheismus vorgibt, "vernünftig" zu glauben, seinen Gott aber als vollkommen willkürlich und damit für den Blick des Menschen uneingestanden unvernünftig zeichnet. Die Unfähigkeit zu wissenschaftlicher Forschung im Islam hat hierin ihren Grund: der Gott ist hier nicht mehr nur teilweise, sondern überhaupt nicht analog zum Irdischen und Natürlichen verstehbar, er ist der unendlich ferne, dräuende Gipfel des Numinosen, andererseits doch wie Isis der Träger aller möglichen Namen und man kann den islamischen Rosenkranz kaum anders verstehen als in dieser Isistradition, die Isis im "Goldenen Esel" des Apuleius (123-170 n. Chr.) sagen lässt, sie sei die "Höchste der Gottheiten ... Erste der Himmlischen, die alle Götter und Göttinnen vereinigt, alleinige Gottheit ... welche ... unter vielerlei Namen der ganze Erdkreis verehrt ... (alle) ehren ... und nennen mich mit meinem wahren Namen Isis".[6] Die Zuordnung der 99 Namen für den islamischen Gott erinnert unzweifelhaft an diese Tradition.

Diese Entwicklung hatte eine wiederum verheerende Folge für die Wissenschaft selbst: sie nahm den Charakter eines Glaubenskonkurrenten an, der das, was der Glaube nur „andeutete“, endlich ins rechte Licht der Wahrheit rückte. Man glaubte den Irrsinn zu „entdecken“, das „Opium“, das „Wahnhafte“ des Glaubens: dass die Erde nicht so alt ist, wie es aus den Religionsmythen hervorgeht, sondern „Milliarden Jahre“. Nicht Gott habe die Welt geschaffen, sondern aus einem Urknall sei eine Evolution hervorgegangen, die auch ohne Gott „funktioniert“ habe (Ideen, die übrigens aus dem Jesuitenorden stammten — v.a. Georges Lemaître SJ, auch Teilhard de Chardin SJ). Jungfrau Maria? Geht gar nicht — die „Wissenschaft“ hat schließlich festgestellt, dass die alte irre Vorstellung, nur der Mann zeuge, falsch ist. Eine Frau, die schwanger wird, muss vorher mit einem Mann zusammengekommen sein, damit ihre Samenzellen mit denen eines Mannes zu einer erfolgreichen Zeugung kommen können. (Hierbei ist allerdings die Meinung, die Frau habe keine Samen, eher eine spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Frauendiskriminierung gewesen als tatsächlich altes Wissen, das sehr wohl längst erkannt hatte, dass Frauen Keimzellen haben, wovon schon Gen 3, 15 zeugt!). Und weiter: Die Welt habe nicht die Gestalt, die in Genesis 1 beschrieben wird, sondern die, die Kopernikus nach Ptolemäus erfand. Davon abgesehen: Engel kann es nicht geben, jedenfalls nicht als „Männer mit Flügeln“. Und die Auferweckung Jesu geschah nur im Gedächtnis der frühen „Gemeinde“. Derselbe kann auch nicht übers Wasser gelaufen sein: technisch unmöglich!
Die Alten, die aber notorisch solche Dinge selbstverständlich und entspannt berichteten, hielt man für solche, die dies und jenes eben „noch nicht wussten“. „Heute weiß man, dass…“ ist eine beliebte Einleitung typischer, wissenschaftsreligiöser Sätze. Es hat eine Offenbarung stattgefunden, die der Menschheit klarmachte, dass nur das, was nach der „Methode“ der modernen Wissenschaft betrachtet wird, „wahr“ sein kann. Nur, was vor ihr standhält, ist ernstzunehmen. Beweis war vordergründig die Technik. Sie „funktionierte“, also mussten die zugrunde liegenden Prämissen gelten. Poppers berühmte Rede von der Wissenschaft, die immer falsifizierbar sein muss, um als solche gelten zu können, war nur ein hübsches Feigenblatt. In Wirklichkeit denken wir seit Jahrzehnten schon, dass die Wissenschaft objektive Wahrheit hervorbringe.

Die „objektive Wahrheit“ hat selbstverständlich viele wertvolle neue Erkenntnisse gebracht — das soll hier nicht einfach negiert werden.
Es handelt sich um ein heilloses Knäuel an Wertvollem, Falschem und vor allem: erneut Mythischem. Gewiss sind manche Erkenntnisse der Biologie kaum von der Hand zu weisen. Manche. Und manches, was die Archäologie zutage brachte, dürfte in jedem Fall eine Bereicherung und Vertiefung vorherigen Wissens sein. Ebenso ist die Bibelwissenschaft ein Korrektiv für vorschnellen, frühneuzeitlichen Biblizismus (den es zuvor so nicht gab). Die Technisierung hat Vorteile gebracht. Das alles soll nicht in Frage gestellt werden. Neben diesen eher nüchternen und sachorientierten Wissenschaften, kamen aber Dinge auf, die man nur als den Versuch werten kann, alte durch neue Mythen zu ersetzen, ohne deshalb den Charakter der alten Mythen wirklich zu überschreiten, wie man vorgab:
Die Evolutionstheorie, ebenso wie die moderne Astronomie und Kosmologie, ebenso gewisse Sozialwissenschaften, beruhen auf reinen Mythen bzw philosophischen Annahmen, die auf keinerlei empirischer Realität fußen. Sie entziehen sich einer empirischen Überprüfung, lassen sich nicht in Experimenten nachvollziehen und nehmen so gigantische Zeiten und Räume an, dass sie alleine deswegen nicht wirklich nachvollziehbar sind außer in Rechenmodellen, die aber auch blanker Wahn sein können und allenfalls eine Eigenrealität als bloßes Rechenmodell haben. Nur weil Dinge sich in kleinem Rahmen überschaubar entwickeln können, muss sich deshalb nicht die ganze Welt in Jahrmillionen gottlos entwickelt haben — der Schluss vom einen auf das andere ist unsinnig und logisch komplett abwegig. Eine Annahme, man müsse alles, was in der Natur ist, auch ohne Gott erklären können, „etsi Deus non daretur“ (als ob es keinen Gott gäbe), führte notwendig dazu, für die „letzten Dinge“ eine Erklärung zu finden. Man kann sie nicht offenlassen, weil man sonst immer mit der Erklärung der religiösen Offenbarung konfrontiert wäre. Wie soll man sich also eine Erschaffung der Welt vorstellen „etsi Deus non daretur“? Und wie das „All“, wenn man es nicht, wie bei den Alten, als himmlische Gefilde der Götter bzw eines einzigen Gottes und seiner Heerscharen vorstellen will, zu denen wir keinen sinnlichen Zugang haben? Im Thomas-Evangelium, das wahrscheinlich zeitgleich mit den anderen Evangelien entstand und ihnen in vielem ähnelt, sagt Jesus: „Dieser Himmel wird vergehen, und der (Himmel) oberhalb von ihm wird vergehen.“ (Logion 11,(1)).[7] Das, was darüber ist aber, gehört nicht mehr dieser Schöpfung an. Dies stimmt überein mit der Aussage Pauli, er sei entrückt worden bis in den „dritten Himmel“, also die Zone, die nicht mehr dieser Schöpfung und Natur angehört, und fragt sich darum auch, ob er in seinem natürlichen Leib dort war oder außerhalb seines Leibes.[8]
Es ist einigermaßen eigentümlich, wenn evangelikale Christen („Kreationisten“) heute versuchen, die biblischen Beschreibungen der Natur ebenfalls methodisch „etsi Deus non daretur“ zu rekonstruieren, um zu „beweisen“, dass die Bibel doch „recht hat“. Das Anliegen, die Schriftaussagen nicht einfach unbesehen und arrogant aufgrund vermeintlichen Besserwissens vom Tisch zu fegen, kann ich zwar unterstreichen. Aber wenn „die Bibel recht hat“, hat sie recht, aber ganz gewiss nicht methodisch durch Ausklammerung des „Vielleicht“ aller wissenschaftlichen Erkenntnis, die sich vor Gott weiß. Die Schöpfungserzählungen sind literarische Berichte über ein unsagbares Geschehen und ähneln eher den Texten der Mystiker als einem modernen Wissenschaftsprotokoll. Dabei überrascht es mich immer wieder aufs Neue, dass solche Christen mit schweren Geschützen gegen die Evolutionstheorie angehen, sich aber gleichzeitig für einen militanten Kopernikanismus starkmachen, der den Schöpfungserzählungen und zahlreichen anderen Schriftstellen im AT und NT objektiv noch fremder ist als der Darwinismus. Neulich las ich gar in einem evangelikalen Blatt, diejenigen, die das kopernikanische Weltbild bezweifelten, seien Opfer satanischer Verblendung — das erinnert an den Duktus Johannes XXII. gegen Meister Eckhart! Das ist schizophren und sollte aufseiten der Betroffenen aufrichtig überprüft werden.

Eine Natur-Auffassung „etsi Deus non daretur“ muss am Ende das „reine Nichts“ offenbaren. Meister Eckhart hatte sehr wohl recht mit seinem Satz, wenn man ihn richtig einordnet: „etsi Deus non daretur“ gäbe es nichts, keine Natur, mich nicht, dich nicht, gar nichts. Man kann die Natur nicht ohne Gott als den denken, der sie geschaffen hat und sich von ihr unterscheidet, ohne damit in schwerste Irrtümer über die Natur abzustürzen. Die Vergötterung der Natur ist der Gipfel des Absturzes (s.u.). Wenn es aber Gott gibt und wir ihn mitdenken, ohne ihn rationalisieren zu können, weil er zwar einen Bereich des „revelatum“ gibt, zu dem auch die Natur gehört, dieses „revelatum“ aber mit einem „absconditum“ umgeben und durchwirkt ist, das wir hier in diesem Äon nicht aufdecken können, dann ist uns das Seiende auch mit Gewissheit (nicht „objektiver Sicherheit“) seiend.
Es ist wichtig, dieses Mysterium, dieses Verborgene abzugrenzen von dem, was man in der Antike unter einem Mysterium verstand:
Während in den Mysterienkulten eine Kaste „Eingeweihter“ existierte, die in der „ganzen Weisheit“ gelehrt waren, wie Mose etwa durch seine Erziehung am pharaonischen Hof[9], bleibt im NT das, was in diesem Leib noch nicht erfasst werden kann, allen verborgen, auch den Klügsten, ja: vor allem ihnen. Jesus betet nach dem Bericht des Matthäus-Evangeliums folgenden Lobpreis: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen.“[10]
Jesus wirft in diesen Worten das gesamte antike Bild von Weisheit und den Inhabern der Weisheit über den Haufen. Er kritisiert nichts schärfer als dieses alte Bild. Er setzt es eben nicht fort, wie manche meinen oder „vollendet es“ gar noch. Nein: er stürzt es um. Seine Worte bedeuten, dass alles, was die Weisen meinen zu wissen, worein sie „eingeweiht“ wurden, nichtig ist. Es kann im Grundsatz solche von den „Laien“ oder Niedrigen abgehobenen Weisen nicht geben und folglich auch keine so verstandene Weisheit.

Eine „hen to pan“ („Alles ist eins“)-Vorstellung, die etwa erhofft, durch akribische „Natur“-Wissenschaft Gott zu finden, weil Gott — platt ausgedrückt — „die Natur ist“, kann man aus der christlichen Überlieferung schwerlich ableiten, auch wenn sich diese hermetische Formel gerade im Abendland fortgesetzt und in Geheimgesellschaften überlebt hat und mächtig blieb. Eine solche Auffassung kann mit dem unbestreitbar Verborgenen nur so umgehen, wie es die alten Mysterienkulte taten: Sie beten Isis an, die Allmutter, die „alles“ ist, das kein Sterblicher je erblickt habe (Verschleiertes Bildnis zu Sais[11]), das Synonym für die Allnatur, und schaffen eine Kaste, die in deren Mysterium eingeweiht wird. Im allgemeinen ist hier das „absconditum“ verborgen, aber ein paar wenigen ist es bekannt. Diese wenigen sind identisch mit den Mächtigen, die eine Wissensmagie über alle anderen haben. Diese Konstellation ist heute mächtiger als je, wo nicht nur innerkatholisch eine solche Arkankaste existiert, sondern auch in zahlreichen Logen, die die Welt konkret über das elitäre Finanz-, Medien- und Regierungswesen beherrschen und doch ausschließen aus ihren innersten Zirkeln und Gedanken. Der Gott, auf den diese Leute vertrauen, ist nicht der, der sich den Unmündigen offenbart hat. Diese Eliten werden niemals damit fertig werden, dass der wahre Gott sie verlacht und sich denen offenbart, die von den Weisen und Eingeweihten, den Reichen und Mächtigen beherrscht werden. Diese Mächtigen können den Kleinen das nicht entreißen, was ihnen umsonst, gratis geschenkt wird. Nicht zuletzt davon zeugt auch die Weihnachtsgeschichte.

Hanna Jüngling, 24.12.2019 (Heiliger Abend)


Tagebuchfolgen bisher:





[1] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Politische Theorie und politische Theologie. Bemerkungen zu ihrem gegenseitigen Verhältnis. In: Jacob Taubes (Hg.): Religionstheorie und politische Theologie. Band 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen. München, Paderborn, Wien, Zürich 1983: Wilhelm Fink / Ferdinand Schöningh. S. 17
[2] „…etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum aut non curari ab eo negotia humana… »
[3] „Auf dem Acker des Herrn, dessen Hüter und Arbeiter Wir nach himmlischer Verfügung, wenn auch unverdientermaßen, sind, müssen Wir die geistliche Pflege so wachsam und besonnen ausüben, daß, wenn irgendwann ein Feind auf ihm über den Samen der Wahrheit Unkräuter sät, sie im Entstehen erstickt werden, bevor sie zu Schößlingen verderblichen Keimens aufwachsen, damit, nachdem der Same der Laster abgetötet und die Dornen der Irrtümer herausgerissen sind, die Saat der katholischen Wahrheit fröhlich aufgehe.
Fürwahr, mit Schmerz tun Wir kund, daß in dieser Zeit einer aus deutschen Landen, Eckhart mit Namen, und, wie es heißt, Doktor und Professor der Heiligen Schrift, aus dem Orden der Predigerbrüder, mehr wissen wollte als nötig war und nicht entsprechend der Besonnenheit und nach der Richtschnur des Glaubens (plura voluit sapere quam oportuit et non ad sobrietatem neque secundum mensuram fidei), weil er sein Ohr von der Wahrheit abkehrte und sich Erdichtungen zuwandte. Verführt nämlich durch jenen Vater der Lüge, der sich oft in den Engel des Lichtes verwandelt, um das finstere und häßliche Dunkel der Sinne statt des Lichtes der Wahrheit zu verbreiten, hat dieser irregeleitete Mensch, gegen die helleuchtende Wahrheit des Glaubens auf dem Acker der Kirche Dornen und Unkraut hervorbringend und emsig beflissen, schädliche Disteln und giftige Dornsträucher zu erzeugen, zahlreiche Lehrsätze vorgetragen, die den wahren Glauben in vieler Herzen vernebeln, die er hauptsächlich vor dem einfachen Volke in seinen Predigten lehrte und die er auch in Schriften niedergelegt hat.“ (Bulle von Johannes XXII. von 1329)
Die oben zitierten Sätze Eckharts finden sich ebenfalls in dieser Quelle:

[4] Eckhart führt den Gedanken in jener berühmten 16. Predigt weiter aus:Nun ist die Frage, wovon allermeist die Seelheit abhänge? Etliche Meister haben gesagt, es komme auf das Begehren an. Andere sagen, es komme auf Erkenntnis und auf Begehren an. Aber wir sagen, sie hänge nicht von der Erkenntnis noch von dem Begehren ab, sondern es ist ein Etwas in der Seele, aus dem fliesst Erkenntnis und Begehren, das erkennt selbst nicht und begehrt nicht so wie die Kräfte der Seele. Wer dies erkennt, der erkennt, wovon die Seelheit abhänge. Dies Etwas hat weder vor noch nach und es wartet nicht auf etwas Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren. Darum ist ihm jegliche Möglichkeit ganz und gar benommen, in sich zu wirken, es ist vielmehr immer dasselbe Selbe, das sich selbst in der Weise Gottes verzehrt. So, meine ich, soll der Mensch quitt und ledig dastehen, dass er nicht weiss noch erkennt, was Gott in ihm wirkt, und dann kann der Mensch Armut sein eigen nennen. Die Meister sagen, Gott sei Wesen und zwar ein vernünftiges Wesen und erkenne alle Dinge. Aber ich sage: Gott ist weder Wesen, noch Vernunft, noch erkennt er etwas, nicht dies und nicht das. Darum ist Gott aller Dinge entledigt, und darum ist er alle Dinge. Wer nun des Geistes arm sein will, der muss alles seinen eigenen Wissens arm sein, als einer, der nichts weiss und kein Ding, weder Gott, noch Kreatur, noch sich selbst. Dagegen ist es nicht so, dass der Mensch begehren solle, den Weg Gottes zu wissen oder zu erkennen.“

[5] DH 806
[6] Zitiert nach Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a.M. 2007 (6. Auflage), S. 77
[8] 2 Kor 12, 2-4
[9] Apg 7, 22. Dazu auch die lesenswerte Studie von Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a. M. 2007, 6. Auflage.
[10] Mt 11, 25