Samstag, 30. November 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Die blaue Kuppel

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Die blaue Kuppel

Gegen fünf Uhr ging ich noch kurz einkaufen. Fuhr mit dem Fahrrad durch den Wald hinaus in eisklare Luft. Spürte, wie sie mich mit jedem Atemzug durchfloss.
Im Supermarkt empfing mich Einkaufkonzentration. Familien, die Grünzeug, Kerzen und Kinderpunsch kauften. Ein Geschäftsmann, der auf der Suche nach Diabetikerschokolade war. Fremde Männer aus Osteuropa, die an jedem Arm einen Bierkasten in ihr Wohnheim um die Ecke trugen. Und solche wie ich, die einfach noch Saft, Eier, Sonntagsfleisch, Wintergemüse, Trockenfrüchte, Klopapier, Milchprodukte, Waschpulver und Katzenfutter für die nächsten Tage brauchten.
Mit meinem voll beladenen Bundeswehr-Gebirgsjägerrucksack kam ich wieder aus dem Laden.
Die Eisenbahngleise von Karlsruhe nach Pforzheim, Bretten und Stuttgart können an dieser Stelle nur über eine große Fußgängerbrücke überquert werden. Ich schob mein Fahrrad in den Aufzug und fuhr aufwärts. Empor ...
… ich sah ich mich entrückt in einen blauen Dom:

Es ist eine Bläue, die keinen Namen hat. Es ist die marianische Bläue, die man nach dem Konzil von Trient als liturgische Farbe verboten hat. Wen ich auch gefragt hatte — niemand konnte mir je schlüssig erklären, warum Rom diese Farbe vor 500 Jahren tabuisiert hat.
Ich drehte mich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse: Im Südosten stand die Mondsichel im noch lichten, bereits meerdunkel schimmernden Himmel, der sich nach Süden mit silbrigen Schaumkronen zierte. Im Westen glänzte es rosighellblau, nur manche Hortensienblüte kommt dem nah. Der himmlische Blumengruß sank nach Norden jäh in ein tiefes Samtblau hinab, das sich im Osten in das Urbild aller smaragdfarbenen Gebirgsseen verwandelte. Hoch oben in der Kuppel funkelten immer mehr der goldenen Sterne, die in unseren Abendliedern besungen werden. Lebendige Lichtreflexe, manche rotgolden, manche grüngolden, manche gelbgolden und manche fast silbern, dem Glitzern des Lichtes auf Schneeflächen vergleichbar.

Unterhalb dieser Zauberwelt schnitten Oberleitungen durch die Luft, eine Drohne stand am Himmel über der Autobahn. Auf dem Berg im Norden rotieren die Säbelblätter eines gigantischen Windrades, mit 148 m Höhe knapp niedriger als der höchste Kirchturm Europas, das Ulmer Münster mit 161 m, die Rotorspitzen senden rote Warnsignale aus. Die mittelalterliche Kirche hier am Hang des Turmberges, 48 m hoch, lag in orangewarmer Illumination, ein goldener Hahn krönt die Turmspitze. Sonst überall kaltes, stechendes Licht der LED-Beleuchtungen. Eine Dame ging Gassi, ihr Liebling trug ein grasgrünes Sneakerbug Hundeleuchthalsband.

Im letzten Moment hatte ich mich doch dazu entschieden, einen Adventskalender zu kaufen. Im Wald zurück, freut mich der Nachtmantel, der mich einhüllt. Ich kenne blind den Weg. Ich schiebe das Fahrrad und lege den Kopf in den Nacken. Zahllose Flugobjekte ahmen die Sterne nach — erfolglos, dem geübten Auge erfolglos.

30.11.2019 (Am Spätnachmittag unterwegs in Grötzingen)


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30.11.2019: Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Kolorierter Holzschnitt

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Kolorierter Holzschnitt

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche 

Kolorierter Holzschnitt

Nachdem nun in der vergangenen Woche unter Sturm, Regen und tief hängendem Wolkengrau die letzten Blätter verwirbelt wurden, bleiben die kahlen Äste zurück, schwarzgrau.
Der große Auftritt der Efeuranken und Misteln beginnt, saftig weihnachtsgrün.
Am Wegrand rote Weißdornfrüchte und Hagebutten an blattleeren Zweigen.
Die Welt ist entlaubt, die Dinge treten nackt zutage, bestätigt von der Sonne und einem freien Himmel. Heute ist der letzte Novembertag. Die Natur ein Holzschnitt. Zart koloriert. Poliert durch die Feuchtigkeit.
Die Wochen vor der Wintersonnwende durchlöchern den Spiegel.
Ich denke: Entleerung. Rekonvaleszenz der Farben …
Die Verwandlung naht.

30.11.2019 (zu Hause)


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27.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Schuhwerk, Urbane Schönheit und der Wahnland-Code

Mittwoch, 27. November 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Schuhwerk, urbane Schönheit und der Wahnland-Code

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Schuhwerk, urbane Schönheit und der Wahnland-Code

In der Mondlandschaft Karlsruhes, seit zehn Jahren in gigantischem Umbau, überall aufgerissene Krater, babylonische Baumaschinen, — es geht um das ehrgeizige Projekt einer Untergrundbahn von ungefähr dreieinhalb Kilometern für eine Stadt mit weniger als 300 000 Einwohnern — , Lärm, Beton, Stahlträger, seit neuestem hunderte öffentlicher Miet-E-Scooter im Stadtbild, sah ich eine Frau in mittlerem Alter spazieren. Ihr leuchtend roter Mantel war aus weichem, exquisiten Wollstoff, der Schnitt schlicht und elegant. Drunter trug sie eine cremeweiße Siebenachtelhose aus ebenso sichtlich exquisitem Wollstoff. Um die Brust eine Gurttasche mit handgewebtem Trageband in Rottönen. Alles erlesen und lässig getragen. Dazu feine, bequeme Stiefelchen. Der Kopf dominiert von extrem glatt und hellblond aufbereiteten, halblangen Haaren. Eine geradezu feudale Erscheinung.
Ich renkte mir den Hals nach ihr aus.

Am Morgen hatte ich eine kleine Axt gekauft. Zum Holzspalten. Meine Füße lieben den unebenen Waldboden. Die Haut in Regen und Wind, am Haar zerrt der Fauch: „Kleidung muss was aushalten“, ein Schutz sein, Dienerin ihres Trägers, Vermittlerin zur Wildnis. Das Stehen und Gehen in den kalten Monaten braucht Schuhwerk.
Würde die Dame im roten Mantel im Wald überleben, wenn die urbane Kunstwelt zu Staub zerfallen wäre? Nach wenigen Stunden in der Natur wäre die extravagante Montur am Ende, das Gehen in den Stiefelchen unmöglich, die Frisur aufgelöst, eine hässliche Ruine. Würde sie wissen, wie man ein Feuer macht oder Bucheckern öffnet? Kann man mit Fug und Recht von Schönheit sprechen, wenn der Mensch verstümmelt und in der wirklichen Natur überlebensunfähig gemacht wird?
Oder anders gefragt: Eine anfällige Extravaganz, die ohne künstliche Weltblase sofort unterginge — gibt es eine Schönheit des Instabilen und Überblähten? Eine Schönheit, die man nicht nur am (künstlich geschulten) „Auge des Betrachters“ misst?

Diese künstlichen Formungen, die Welten, die Moloche unserer Tage mit ihren technologischen Sensationen und Bequemlichkeiten, der bald stündlich üppigeren Codierung eines zugleich immer stärker verarmten Weltkonstruktes, generieren Lebensformen, die sui generis in der freien Natur nicht lebensfähig sind. Der urbane Mensch ist ein Monstrum der Robotik. Ein Grottenolm. Intelligenter Diskurs von Angesicht zu Angesicht wird ihm unmöglicher mit jeder neuen Generation von Smartphones, die auf den Markt geworfen wird. Obwohl er den ganzen Tag geradezu überladen wird mit Zeichen und selbst pausenlos Signale sendet, ist er sprachlos geworden.

Die Digitalisierung der Welt führt in eine Verstümmelung des Menschlichen, wie wir sie nie erlebt haben und funktioniert wesentlich binär (eine Aufstockung zum Ternären ist von wirklicher Vielfalt genauso weit entfernt): schwarz oder weiß, alles Bunte wird auf schwarz oder weiß umgerechnet, und dies nur unter enormer Eroberung von „Lebensraum“. Was man bis dato in einem prägnanten, schlanken Begriff sagen konnte, bedarf heute eines riesigen Areals an chiffrierten Daten. Analog dazu zerfließen immer mehr Zeitgenossen in übergewichtige, megafette Gestalten, wie ich sie noch in meiner Kindheit mir nicht hätte vorstellen können.
Man weicht zurück vor den knappen, aber markigen Sätzen älterer Zeiten, dem verbogenen Heutigen wirken sie wie „Beleidigungen“. In der reduzierten digitalen Schwarzweißwelt gerät man schnell unter Verdacht. Der gehetzte Zeitgenosse unterschreibt seine Emails seit einiger Zeit, mit dem Rücken immer zur Wand, gleich, um was es geht, mit der Schlussformel „liebe Grüße“. Wie ein Kind, das den Alten beteuert, dass es brav ist und bereit zur Unterordnung. Dass dabei gelegentlich die unverschämtesten Inhalte mit „lieben Grüßen“ abgerundet werden, treibt die Absurdität auf die Spitze.
Fehlt nur noch, dass die Wildnis nach Maßgabe von QR-Codes angelegt wird: Irrgärten zur Co2-Reduktion. Es wäre ein neuer Marktsektor, die Wildnis abzuschaffen und die gesamte Welt in einen Bausatz zu verwandeln, im Design und "under construction" von staatlich geprüften Naturexperten. Sind wir nicht großartig, wir Menschen, und so innovativ? La nature, c'est nous! Eins und null - das genügt. Und überhaupt - nach Orwells Neusprech von wegen "Krieg ist Frieden", "Freiheit ist Sklaverei", "Unwissenheit ist Stärke" ist die zeitgenössische Rede von der "Natur" (bzw "Umwelt" oder gar "Klima") durchaus mit Vorsicht zu genießen: "Das Hässliche ist Schönheit." Und "Wahnland ist Natur."

Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass die leuchtend rote Dame kein erhobenes Haupt hatte. Sie ging mit gesenktem Sklavennacken, in ihr teures Smartphone starrend, und scheiterte an der Überquerung einer Straße. 

27.11.2019 (In Karlsruhe)

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Dienstag, 26. November 2019

Neuerscheinung im Zeitschnur Verlag: Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin

Neuerscheinung im Zeitschnur Verlag: Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin


Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin
Erzählung

mit zwei Zeichnungen von Hanna Jüngling
132 Seiten
Format 20,5 x 13,5 cm
Gewicht 180g
ISBN 978-3-940764-23-2
Ladenpreis 12,00 €
Im Buchhandel oder auf Booklooker


Ideal als Weihnachtsgeschenk ...







Rezension:

Irmentraud Kiefer beschreibt in ihrem Vorwort zu "Die Amme der Königin", einer Erzählung, die soeben erscheinen ist, wie sie durch das rätselhafte Verschwinden der Pharaonin Kleopatra V. Tryphaina um das Jahr 69 vor Christus und die merkwürdig widersprüchliche Quellenlage über diese Frau dazu angeregt wurde, sich eine Fortsetzung des abgebrochenen Lebenslaufes auszudenken.

Diese Geschichte, die so schlicht und freundlich erzählt wird, hat es nun allerdings gewaltig in sich. 

Kleopatra V. Trypaina war die Mutter der bekannten "großen" Kleopatra. Nach altägyptischer, kultischer, von den Ptolemäern übernommener Sitte wurde sie mit ihrem Bruder in einer Geschwisterehe verheiratet, die beide unter enorme Zwänge bringt, denen sie auf jeweils eigene Weise zu entkommen suchen. 
Wir erfahren die Geschichte einer Frau, die vermutlich verstoßen wurde oder sich verstoßen ließ, um sich aus den alptraumhaften Bedingungen am ägyptischen Hof zu befreien zu einem normalen, glücklichen, aber auch selbstbestimmten Leben. Was am höfischen Leben der Ptolemäer in zentralen Merkmalen eigentümlich "modern" wirkt, wird in seinen bedrückenden Konsequenzen blitzlichtartig und scharf skizziert. Zugleich mit dem persönlichen Schicksal dieser Frau scheint die Endphase und der Niedergang des politischen Ptolemäerreiches und der Eigenständigkeit Ägyptens auf.

Eine feine Erzählung mit gutem Ausgang für die Heldin, einem steinigen Weg dahin und einer Nachwirkung, mit der der Leser im ersten Moment niemals rechnen würde.

Bibliophile Gestaltung, typisch für den Zeitschnur Verlag, schönes Munken-Werkdruckpapier und Fadenheftung. 

Hanna Jüngling, 26.11.2019

Sonntag, 24. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Räume. Flächen. Strecken.

Wir bewegen uns physisch in drei Dimensionen. Zumindest erscheint es uns allgemein empirisch so. Der Raum ist eine besondere Form der Konzentration in die Tiefe. Wollte man alle Punkte in einem Raum auf einer Fläche anordnen, nähme sie an Oberflächenausbreitung enorm zu, hätte aber keine Tiefe? Erst recht auf einer Strecke untergebracht wäre diese Punkte-Strecke erheblich länger als die jeweiligen Raum- oder Flächenseitenmaße? Ein Rauminhalt umgerechnet in einen Flächeninhalt?
Ich stelle mir vor, ich gieße einen Liter Wasser aus einem Würfel, der genau diesen Liter enthalten kann, auf eine Ebene: die Ebene hätte erheblich längere Einzelkoordinaten als das Würfelmaß. Aber das Wasser verlöre seine spezifische Konsistenz auf der Ebene in dem Moment, in dem die Höhe h = 0 und damit eine Fläche erreicht wäre, wäre nur noch eine Ahnung, ein theoretischer „Abdruck“ des Wassers.
Oder: Ein großer, aber überschaubarer Tanker auf hoher See leckt und gibt das Öl frei, das fortan als riesiger, unüberschaubarer Teppich auf der Meeroberfläche schwimmt. Auch dieser Teppich, aller, auch der flachsten Räumlichkeit, die auch ein Teppich hat, beraubt, wäre kein Öl im strengen Sinn mehr.
Die Anzahl der Punkte in Räumen und Flächen ist ohnehin unendlich und darum gleich.
Der Übergang von einer in die andere Dimension ist eine Illusion.
Etwa so, wie es illusionär wäre, wenn in der alten Elementvorstellung etwas „nur“ im Feuer oder „nur“ im Wasser oder „nur“ in der Luft existierend vorgestellt wäre.
Alles befindet sich in jedem Element, auch in jeder Dimension, und eine momentane Standortbestimmung trifft immer nur als eine der unendlich vielen Möglichkeiten zu.
Natürlich bietet dies breiten Raum für Spekulationen. Für Alchemie. Esoterik und allerlei naturphilosophische Lehren.
Mein Interesse an den vorhandenen tradierten Spekulationen war stets mäßig.
Die Überzeugung aber, dass der Transformationsmöglichkeiten, um es einmal so modisch zu sagen, unendliche viele sind, ist auch in mir:
Wie anders sollten die Visionen der Propheten verständlich sein, in denen Gott aus einem Feld von Knochen, aus der Erde und dem Meer die Toten zurückruft und wieder sammelt in ihre Gestalt, ganz zu schweigen davon, dass er in der Auferweckung Jesu aus dessen irdischer Gestalt eine himmlische schuf und Paulus davon spricht, es würden nicht alle entschlafen, sondern, wenn der Herr käme, in einem Nu verwandelt werden?
Es ist aus diesem Grunde auch äußerst töricht, wenn wir es für lächerlich halten, dass Maria Jungfrau war und doch einen Sohn gebären konnte, weil die Kraft des Allerhöchsten über sie kam und aus ihrer Gestalt die Gestalt des Christus holte. Es ist mehr als töricht.
In einem gewissen Sinn hat sich das Denken unserer Tage aus der Tiefe in eine totale Verflachung ergossen, so sehr, dass es nicht mehr als echtes menschliches Denken bezeichnet werden sollte. Es ist, wie unser Liter Wasser oben, ohne Tiefenkoordinate seiner selbst beraubt und nur noch ein Abdruck verlorenen Denkens.

24. November 2019 (Sonntagabend, am Ofen)


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Donnerstag, 21. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Morgendämmerung, später November

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Morgendämmerung, später November

Der Blick vom Berg aus landet weich im Nebel. Äste fließen aus. Die beiden Flutlichter im Landwirtschaftlichen Versuchszentrum sind kalt leuchtende Wattekerne, irrlichternde Ahnungen von Ferne. Warum empfinden wir diese widerstandslose, kantenfreie Weichheit als unheimlich?

Wenn ich es nicht wüsste, dass es ein ‚Da unten’ gibt, die Rheinebene mit ihren Städten, der ‚Hardt’, dem breiten Fluss mit seinen langen, flachen Frachtschiffen und die Kette der Berge gegenüber, sechzig Kilometer entfernt …
Wenn ich es nicht wüsste, wäre der Nebel mir unsichtbar. Ich wäre im Nebel, ohne zu erkennen, dass da Nebel ist. Hätte ich niemals klare Luft erlebt, wäre der Nebel ein Element, in dem ich mich selbstverständlich und ohne Kenntnis bewegte. Oder sagen wir es schärfer: Ich würde den Nebel wahrnehmen, aber nicht wissen, dass ich ihn wahrnehme.
Die Folgen wären immens. Man sieht nicht nur anders und weniger. Man hört auch weniger. Gerüche würden sich schwerer zu mir hinbewegen, aber sie verflögen auch langsamer. Unter ‚Weitblick’ verstünden wir eine Spanne von wenigen Metern. Unser ganzes Denken würde sich verlagern.
Eine großartige Nebelkosmologie könnte der Naturwissenschaftler sich ausdenken, Mess- und Beobachtungsgeräte würden nebulöse Theorie bestätigen. Und wer weiß, was er, im Nebel tappend, als gäbe es keine Welt ohne Nebel, behaupten würde. Seiner Fantasie wären kaum Grenzen gesetzt. Und prüfen könnte es niemand. Dem Skeptiker, dem Ahnungsvollen, dass da mehr ist, könnte man immer entgegenhalten, dass er doch erst einmal sagen solle, wie es denn dann anders sein könnte als so, wie man es sieht. Und er müsste passen oder aber sehr komplizierte Gedanken anstrengen, denen wiederum viele nicht folgen könnten, verweichlicht durch die konturlose Nebelwelt.
Allein: Auch in einer Nebelwelt tauchen immer wieder Gestalten auf, die uns an ein „Dahinter“ gemahnen. Solange sie dezent bleiben, lassen sie sich verdrängen.
Die Alten mit ihrer Vorstellung vom Äther, diesem unsichtbaren Element, das doch alles zusammenhält, waren vielleicht näher an der Wahrheit als die materialistische Wissenschaft, eine bis an die Zähne bewaffnete Trutzburg verbissener Theorien wider die kommende Erkenntnis und Wahrheit.

Aber der Morgen steigt unaufhaltsam herauf, das Licht jenseits des Nebels zieht in einer feinen Erhabenheit ein in unser dämmriges Nebelreich, wie ein König, dessen Kommen Erlösung bedeutet. Das kosmische Licht, nicht das Flutlicht im Versuchszentrum, löst diese unüberwindliche Schicht auf, die Dinge werden klar und scharf. Fast lautlos trat es heran, mit ‚Macht und Herrlichkeit’, aber was sage ich: Macht ohne Macht, mit graziöser Liebe und Hingabe und der Würde seiner Erhabenheit, die nicht herrscht und den Nebelgläubigen weder zwingt noch treibt, sondern Angebote unterbreitet, die abzulehnen töricht, aber dennoch verbreitet ist.

Wer auf der Nebelwelt besteht, darf zurückbleiben, nackt und bloß, benebelt nun ohne Nebel, ein unvorstellbarer Zustand, aber es gibt ihn — auf eigenen Wunsch dessen, der sich in der Versuchung häuslich eingerichtet hat, gebannt und erstarrt im festgekrallten Augenblick der weichen Täuschung.

21. November 2019 (Zu Hause)


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Montag, 18. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Mistelbaum

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche

Mistelbaum

Ein Windfauch und die Luft knistert von Blättern. Der Uferweg an der Pfinz erhält einen gelbroten Teppich. Ich radle langsam. Die Wolken hängen mir ins Gesicht. Eselsgrau.

Ein Windfauch, wieder. Die Blätter treibts aufwärts. Ein Heer von Regentropfen reibt sie auf. Eine Himmelsfront. Unten Efeu flaschengrün, die Weidenkronen schüttelts, Birken spenden Taler. Grünspan. Irgendwo formt sich ein Krummeck Himmelsblau.

Ein Windfauch, einer gebiert den andern. Ich schau nach oben. Im kahlen Weidengeäst erscheinen sie, so viele Mistelbälle, der Blattfall gibt sie frei. Vergessen der Weg, der Mythenzauber hat mich im Bann. Mein Fahrrad schlingert in den Graben, zu Ende die Luftfahrt. 

Ich stürzte nicht: Ein Engel fing mich auf.
  

18.11.2019 (Am Uferweg zwischen Berghausen und Söllingen)


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