Mittwoch, 27. November 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Schuhwerk, urbane Schönheit und der Wahnland-Code

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Schuhwerk, urbane Schönheit und der Wahnland-Code

In der Mondlandschaft Karlsruhes, seit zehn Jahren in gigantischem Umbau, überall aufgerissene Krater, babylonische Baumaschinen, — es geht um das ehrgeizige Projekt einer Untergrundbahn von ungefähr dreieinhalb Kilometern für eine Stadt mit weniger als 300 000 Einwohnern — , Lärm, Beton, Stahlträger, seit neuestem hunderte öffentlicher Miet-E-Scooter im Stadtbild, sah ich eine Frau in mittlerem Alter spazieren. Ihr leuchtend roter Mantel war aus weichem, exquisiten Wollstoff, der Schnitt schlicht und elegant. Drunter trug sie eine cremeweiße Siebenachtelhose aus ebenso sichtlich exquisitem Wollstoff. Um die Brust eine Gurttasche mit handgewebtem Trageband in Rottönen. Alles erlesen und lässig getragen. Dazu feine, bequeme Stiefelchen. Der Kopf dominiert von extrem glatt und hellblond aufbereiteten, halblangen Haaren. Eine geradezu feudale Erscheinung.
Ich renkte mir den Hals nach ihr aus.

Am Morgen hatte ich eine kleine Axt gekauft. Zum Holzspalten. Meine Füße lieben den unebenen Waldboden. Die Haut in Regen und Wind, am Haar zerrt der Fauch: „Kleidung muss was aushalten“, ein Schutz sein, Dienerin ihres Trägers, Vermittlerin zur Wildnis. Das Stehen und Gehen in den kalten Monaten braucht Schuhwerk.
Würde die Dame im roten Mantel im Wald überleben, wenn die urbane Kunstwelt zu Staub zerfallen wäre? Nach wenigen Stunden in der Natur wäre die extravagante Montur am Ende, das Gehen in den Stiefelchen unmöglich, die Frisur aufgelöst, eine hässliche Ruine. Würde sie wissen, wie man ein Feuer macht oder Bucheckern öffnet? Kann man mit Fug und Recht von Schönheit sprechen, wenn der Mensch verstümmelt und in der wirklichen Natur überlebensunfähig gemacht wird?
Oder anders gefragt: Eine anfällige Extravaganz, die ohne künstliche Weltblase sofort unterginge — gibt es eine Schönheit des Instabilen und Überblähten? Eine Schönheit, die man nicht nur am (künstlich geschulten) „Auge des Betrachters“ misst?

Diese künstlichen Formungen, die Welten, die Moloche unserer Tage mit ihren technologischen Sensationen und Bequemlichkeiten, der bald stündlich üppigeren Codierung eines zugleich immer stärker verarmten Weltkonstruktes, generieren Lebensformen, die sui generis in der freien Natur nicht lebensfähig sind. Der urbane Mensch ist ein Monstrum der Robotik. Ein Grottenolm. Intelligenter Diskurs von Angesicht zu Angesicht wird ihm unmöglicher mit jeder neuen Generation von Smartphones, die auf den Markt geworfen wird. Obwohl er den ganzen Tag geradezu überladen wird mit Zeichen und selbst pausenlos Signale sendet, ist er sprachlos geworden.

Die Digitalisierung der Welt führt in eine Verstümmelung des Menschlichen, wie wir sie nie erlebt haben und funktioniert wesentlich binär (eine Aufstockung zum Ternären ist von wirklicher Vielfalt genauso weit entfernt): schwarz oder weiß, alles Bunte wird auf schwarz oder weiß umgerechnet, und dies nur unter enormer Eroberung von „Lebensraum“. Was man bis dato in einem prägnanten, schlanken Begriff sagen konnte, bedarf heute eines riesigen Areals an chiffrierten Daten. Analog dazu zerfließen immer mehr Zeitgenossen in übergewichtige, megafette Gestalten, wie ich sie noch in meiner Kindheit mir nicht hätte vorstellen können.
Man weicht zurück vor den knappen, aber markigen Sätzen älterer Zeiten, dem verbogenen Heutigen wirken sie wie „Beleidigungen“. In der reduzierten digitalen Schwarzweißwelt gerät man schnell unter Verdacht. Der gehetzte Zeitgenosse unterschreibt seine Emails seit einiger Zeit, mit dem Rücken immer zur Wand, gleich, um was es geht, mit der Schlussformel „liebe Grüße“. Wie ein Kind, das den Alten beteuert, dass es brav ist und bereit zur Unterordnung. Dass dabei gelegentlich die unverschämtesten Inhalte mit „lieben Grüßen“ abgerundet werden, treibt die Absurdität auf die Spitze.
Fehlt nur noch, dass die Wildnis nach Maßgabe von QR-Codes angelegt wird: Irrgärten zur Co2-Reduktion. Es wäre ein neuer Marktsektor, die Wildnis abzuschaffen und die gesamte Welt in einen Bausatz zu verwandeln, im Design und "under construction" von staatlich geprüften Naturexperten. Sind wir nicht großartig, wir Menschen, und so innovativ? La nature, c'est nous! Eins und null - das genügt. Und überhaupt - nach Orwells Neusprech von wegen "Krieg ist Frieden", "Freiheit ist Sklaverei", "Unwissenheit ist Stärke" ist die zeitgenössische Rede von der "Natur" (bzw "Umwelt" oder gar "Klima") durchaus mit Vorsicht zu genießen: "Das Hässliche ist Schönheit." Und "Wahnland ist Natur."

Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass die leuchtend rote Dame kein erhobenes Haupt hatte. Sie ging mit gesenktem Sklavennacken, in ihr teures Smartphone starrend, und scheiterte an der Überquerung einer Straße. 

27.11.2019 (In Karlsruhe)

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Dienstag, 26. November 2019

Neuerscheinung im Zeitschnur Verlag: Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin

Neuerscheinung im Zeitschnur Verlag: Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin


Irmentraud Kiefer: Die Amme der Königin
Erzählung

mit zwei Zeichnungen von Hanna Jüngling
132 Seiten
Format 20,5 x 13,5 cm
Gewicht 180g
ISBN 978-3-940764-23-2
Ladenpreis 12,00 €
Im Buchhandel oder auf Booklooker


Ideal als Weihnachtsgeschenk ...







Rezension:

Irmentraud Kiefer beschreibt in ihrem Vorwort zu "Die Amme der Königin", einer Erzählung, die soeben erscheinen ist, wie sie durch das rätselhafte Verschwinden der Pharaonin Kleopatra V. Tryphaina um das Jahr 69 vor Christus und die merkwürdig widersprüchliche Quellenlage über diese Frau dazu angeregt wurde, sich eine Fortsetzung des abgebrochenen Lebenslaufes auszudenken.

Diese Geschichte, die so schlicht und freundlich erzählt wird, hat es nun allerdings gewaltig in sich. 

Kleopatra V. Trypaina war die Mutter der bekannten "großen" Kleopatra. Nach altägyptischer, kultischer, von den Ptolemäern übernommener Sitte wurde sie mit ihrem Bruder in einer Geschwisterehe verheiratet, die beide unter enorme Zwänge bringt, denen sie auf jeweils eigene Weise zu entkommen suchen. 
Wir erfahren die Geschichte einer Frau, die vermutlich verstoßen wurde oder sich verstoßen ließ, um sich aus den alptraumhaften Bedingungen am ägyptischen Hof zu befreien zu einem normalen, glücklichen, aber auch selbstbestimmten Leben. Was am höfischen Leben der Ptolemäer in zentralen Merkmalen eigentümlich "modern" wirkt, wird in seinen bedrückenden Konsequenzen blitzlichtartig und scharf skizziert. Zugleich mit dem persönlichen Schicksal dieser Frau scheint die Endphase und der Niedergang des politischen Ptolemäerreiches und der Eigenständigkeit Ägyptens auf.

Eine feine Erzählung mit gutem Ausgang für die Heldin, einem steinigen Weg dahin und einer Nachwirkung, mit der der Leser im ersten Moment niemals rechnen würde.

Bibliophile Gestaltung, typisch für den Zeitschnur Verlag, schönes Munken-Werkdruckpapier und Fadenheftung. 

Hanna Jüngling, 26.11.2019

Sonntag, 24. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Räume. Flächen. Strecken.

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Räume. Flächen. Strecken.

Wir bewegen uns physisch in drei Dimensionen. Zumindest erscheint es uns allgemein empirisch so. Der Raum ist eine besondere Form der Konzentration in die Tiefe. Wollte man alle Punkte in einem Raum auf einer Fläche anordnen, nähme sie an Oberflächenausbreitung enorm zu, hätte aber keine Tiefe? Erst recht auf einer Strecke untergebracht wäre diese Punkte-Strecke erheblich länger als die jeweiligen Raum- oder Flächenseitenmaße? Ein Rauminhalt umgerechnet in einen Flächeninhalt?
Ich stelle mir vor, ich gieße einen Liter Wasser aus einem Würfel, der genau diesen Liter enthalten kann, auf eine Ebene: die Ebene hätte erheblich längere Einzelkoordinaten als das Würfelmaß. Aber das Wasser verlöre seine spezifische Konsistenz auf der Ebene in dem Moment, in dem die Höhe h = 0 und damit eine Fläche erreicht wäre, wäre nur noch eine Ahnung, ein theoretischer „Abdruck“ des Wassers.
Oder: Ein großer, aber überschaubarer Tanker auf hoher See leckt und gibt das Öl frei, das fortan als riesiger, unüberschaubarer Teppich auf der Meeroberfläche schwimmt. Auch dieser Teppich, aller, auch der flachsten Räumlichkeit, die auch ein Teppich hat, beraubt, wäre kein Öl im strengen Sinn mehr.
Die Anzahl der Punkte in Räumen und Flächen ist ohnehin unendlich und darum gleich.
Der Übergang von einer in die andere Dimension ist eine Illusion.
Etwa so, wie es illusionär wäre, wenn in der alten Elementvorstellung etwas „nur“ im Feuer oder „nur“ im Wasser oder „nur“ in der Luft existierend vorgestellt wäre.
Alles befindet sich in jedem Element, auch in jeder Dimension, und eine momentane Standortbestimmung trifft immer nur als eine der unendlich vielen Möglichkeiten zu.
Natürlich bietet dies breiten Raum für Spekulationen. Für Alchemie. Esoterik und allerlei naturphilosophische Lehren.
Mein Interesse an den vorhandenen tradierten Spekulationen war stets mäßig.
Die Überzeugung aber, dass der Transformationsmöglichkeiten, um es einmal so modisch zu sagen, unendliche viele sind, ist auch in mir:
Wie anders sollten die Visionen der Propheten verständlich sein, in denen Gott aus einem Feld von Knochen, aus der Erde und dem Meer die Toten zurückruft und wieder sammelt in ihre Gestalt, ganz zu schweigen davon, dass er in der Auferweckung Jesu aus dessen irdischer Gestalt eine himmlische schuf und Paulus davon spricht, es würden nicht alle entschlafen, sondern, wenn der Herr käme, in einem Nu verwandelt werden?
Es ist aus diesem Grunde auch äußerst töricht, wenn wir es für lächerlich halten, dass Maria Jungfrau war und doch einen Sohn gebären konnte, weil die Kraft des Allerhöchsten über sie kam und aus ihrer Gestalt die Gestalt des Christus holte. Es ist mehr als töricht.
In einem gewissen Sinn hat sich das Denken unserer Tage aus der Tiefe in eine totale Verflachung ergossen, so sehr, dass es nicht mehr als echtes menschliches Denken bezeichnet werden sollte. Es ist, wie unser Liter Wasser oben, ohne Tiefenkoordinate seiner selbst beraubt und nur noch ein Abdruck verlorenen Denkens.

24. November 2019 (Sonntagabend, am Ofen)


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Donnerstag, 21. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Morgendämmerung, später November

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

Morgendämmerung, später November

Der Blick vom Berg aus landet weich im Nebel. Äste fließen aus. Die beiden Flutlichter im Landwirtschaftlichen Versuchszentrum sind kalt leuchtende Wattekerne, irrlichternde Ahnungen von Ferne. Warum empfinden wir diese widerstandslose, kantenfreie Weichheit als unheimlich?

Wenn ich es nicht wüsste, dass es ein ‚Da unten’ gibt, die Rheinebene mit ihren Städten, der ‚Hardt’, dem breiten Fluss mit seinen langen, flachen Frachtschiffen und die Kette der Berge gegenüber, sechzig Kilometer entfernt …
Wenn ich es nicht wüsste, wäre der Nebel mir unsichtbar. Ich wäre im Nebel, ohne zu erkennen, dass da Nebel ist. Hätte ich niemals klare Luft erlebt, wäre der Nebel ein Element, in dem ich mich selbstverständlich und ohne Kenntnis bewegte. Oder sagen wir es schärfer: Ich würde den Nebel wahrnehmen, aber nicht wissen, dass ich ihn wahrnehme.
Die Folgen wären immens. Man sieht nicht nur anders und weniger. Man hört auch weniger. Gerüche würden sich schwerer zu mir hinbewegen, aber sie verflögen auch langsamer. Unter ‚Weitblick’ verstünden wir eine Spanne von wenigen Metern. Unser ganzes Denken würde sich verlagern.
Eine großartige Nebelkosmologie könnte der Naturwissenschaftler sich ausdenken, Mess- und Beobachtungsgeräte würden nebulöse Theorie bestätigen. Und wer weiß, was er, im Nebel tappend, als gäbe es keine Welt ohne Nebel, behaupten würde. Seiner Fantasie wären kaum Grenzen gesetzt. Und prüfen könnte es niemand. Dem Skeptiker, dem Ahnungsvollen, dass da mehr ist, könnte man immer entgegenhalten, dass er doch erst einmal sagen solle, wie es denn dann anders sein könnte als so, wie man es sieht. Und er müsste passen oder aber sehr komplizierte Gedanken anstrengen, denen wiederum viele nicht folgen könnten, verweichlicht durch die konturlose Nebelwelt.
Allein: Auch in einer Nebelwelt tauchen immer wieder Gestalten auf, die uns an ein „Dahinter“ gemahnen. Solange sie dezent bleiben, lassen sie sich verdrängen.
Die Alten mit ihrer Vorstellung vom Äther, diesem unsichtbaren Element, das doch alles zusammenhält, waren vielleicht näher an der Wahrheit als die materialistische Wissenschaft, eine bis an die Zähne bewaffnete Trutzburg verbissener Theorien wider die kommende Erkenntnis und Wahrheit.

Aber der Morgen steigt unaufhaltsam herauf, das Licht jenseits des Nebels zieht in einer feinen Erhabenheit ein in unser dämmriges Nebelreich, wie ein König, dessen Kommen Erlösung bedeutet. Das kosmische Licht, nicht das Flutlicht im Versuchszentrum, löst diese unüberwindliche Schicht auf, die Dinge werden klar und scharf. Fast lautlos trat es heran, mit ‚Macht und Herrlichkeit’, aber was sage ich: Macht ohne Macht, mit graziöser Liebe und Hingabe und der Würde seiner Erhabenheit, die nicht herrscht und den Nebelgläubigen weder zwingt noch treibt, sondern Angebote unterbreitet, die abzulehnen töricht, aber dennoch verbreitet ist.

Wer auf der Nebelwelt besteht, darf zurückbleiben, nackt und bloß, benebelt nun ohne Nebel, ein unvorstellbarer Zustand, aber es gibt ihn — auf eigenen Wunsch dessen, der sich in der Versuchung häuslich eingerichtet hat, gebannt und erstarrt im festgekrallten Augenblick der weichen Täuschung.

21. November 2019 (Zu Hause)


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Montag, 18. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Mistelbaum

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche

Mistelbaum

Ein Windfauch und die Luft knistert von Blättern. Der Uferweg an der Pfinz erhält einen gelbroten Teppich. Ich radle langsam. Die Wolken hängen mir ins Gesicht. Eselsgrau.

Ein Windfauch, wieder. Die Blätter treibts aufwärts. Ein Heer von Regentropfen reibt sie auf. Eine Himmelsfront. Unten Efeu flaschengrün, die Weidenkronen schüttelts, Birken spenden Taler. Grünspan. Irgendwo formt sich ein Krummeck Himmelsblau.

Ein Windfauch, einer gebiert den andern. Ich schau nach oben. Im kahlen Weidengeäst erscheinen sie, so viele Mistelbälle, der Blattfall gibt sie frei. Vergessen der Weg, der Mythenzauber hat mich im Bann. Mein Fahrrad schlingert in den Graben, zu Ende die Luftfahrt. 

Ich stürzte nicht: Ein Engel fing mich auf.
  

18.11.2019 (Am Uferweg zwischen Berghausen und Söllingen)


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Sonntag, 17. November 2019

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche: Blinde sehend

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

„Blinde sehend“

Buchenstämme
Elefantenfüße
Grau grün steinblau
Feuchtigkeitsadern auf der Rinde
Leuchtend gelbe Blätter drumherum
Rieseln und knistern
In den Wipfeln Nebelregen
Regennebel
Nebelregen
Herbstgischt
Dazu der Ofenrauch
Wir sehen, was unsere Augen zulassen
In einem blinden Spiegel


17.11.2019 (Zu Hause)


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16.11.2019: Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche: Einleitungsworte

Samstag, 16. November 2019

Wo ist die Natur? - Tagebuch einer Suche

Wo ist die Natur? — Tagebuch einer Suche

„Ich bin in der Natur geboren.“ (Hans Arp)


Die Natur ist in aller Munde, jeder scheint genau zu wissen, was sie ist und was nicht. Sie ist zum politischen und religiösen Kampfbegriff geworden. Schon lange und immer mehr.

Die einen deklarieren sie zur Gegenwelt gesellschaftlicher und ökonomischer Konstrukte, die unbedingt vor dem Menschen „geschützt“ werden müsste. Die Natur als eine der vielen diskriminierten Minderheiten, anhand derer man sich als „Helfer“ profilieren kann. Die Natur als Projektionsfläche für ein Friedensreich, von dem wir glauben, dass sein Bestehen ausschließlich von unserer Aktion abhängt.
Es gibt die „Anwälte“ dieser "Natur als Gegenwelt", aber sie verstehen nicht, dass sie selbst genau das tun, was sie den „anderen“, den „Bösen“ oder Gedankenlosen vorwerfen: sie stellen auch nur ein neues Konstrukt des Natürlichen und Guten her und bleiben den Beweis für ihre Meinungen stets schuldig. Wenn Gentechnik unnatürlich und falsch ist, warum ist dann etwa die heute als „Normalfall“ erklärte Geschlechtsumwandlung natürlich und gut? Warum ist Kernkraft oder das Verbrennen von Kohle und Öl schlecht, der destruktive Überzug der Landschaften mit hässlichen und für zahlreiche Vogel- und Insektenarten tödlichen Windräder gut, zu denen tonneschwere Betonsockel in den Boden verbaut werden müssen, die niemals mehr entfernbar sind? Warum ist es schlecht, wenn asiatische Tier- und Pflanzenarten einheimische allmählich verdrängen, aber gut, wenn bestehende menschliche Populationen möglichst so sehr vermischt werden, dass sie sich auflösen?

Die anderen sehen die Natur nicht als Hort des Guten, sondern als eine herzlose, feindselige Welt, in der alle mehr oder weniger gewaltsam ums Überleben ringen und dabei das Leben der anderen nicht schonen. Die gesamte Tierwelt lebt in einem enormen Stress, ist in ständiger Fluchtbereitschaft und der Angst gefressen zu werden, wenn sie nicht selbst frisst. Der Mensch ist nichts weiter als ein besonders raffiniertes Tier, das es noch schlimmer treibt als alle anderen. Das Recht hat der Stärkere, der „Sieger“. Er bestimmt, wie es weitergeht. Er schreibt die Geschichte. Warum aber lebt doch in uns allen eine tiefe Sehnsucht nach Harmonie, nach so etwas wie einer „Übernatur“? Warum glauben wir, unlogisch, dennoch, sie sei in der Natur, was oder wo immer sie ist, mehr vorhanden als beim Menschen, der auf diese Weise aus dem Natürlichen ausgegliedert wird? Warum ist in vielen die verborgene Überzeugung, dass es das Schwache ist, das am Ende den Durchbruch schaffen wird? Das eines Tages einfach seine bunten Blütenblätter öffnen und strahlen wird, nachdem all die anderen sich gegenseitig zerfressen haben werden? So wie diese Gräser, die ganze Teerdecken heben und schließlich durchbrechen? Asphaltbeläge, die irgendwann überwuchert werden von der Pflanzen- und Tierwelt, als hätte es sie nie gegeben, wenn man sie nicht ständig gewaltsam instand hält? Jeder, der ein klein wenig Erfahrung mit einem Leben in der Natur hat, weiß, dass die Natur sich restlos alles zurückholt, wenn man ihr nicht kleine Zugeständnisse abringt.

Warum fürchten wir, der Mensch könnte es je schaffen, die Natur unwiederbringlich zu zerstören, wo jeder Grashalm unter der Teerdecke uns darüber belehrt, dass es nicht so ist? Entspringt diese Furcht nicht einer Hybris, die mit der Teerdecke verwandt ist und den eigenen irrationalen Naturbegriff konterkariert? Und wird, wenn das so ist, nicht diese Hybris postmoderner Klimaaktivisten und Ökofanatiker folgerichtig eines Tages wieder von natürlichen Zusammenhängen zurechtgerückt werden?
Kann es sein, dass der Mensch zwar seine Verantwortung für die Natur veruntreuen kann, dass deswegen aber dennoch nicht die Natur stirbt, sondern unser … Geist?

Wir erleben eine bruchstückhafte und habgierig vereinnahmte Mischung aus beiden Sichtweisen: eine bestürzende Sentimentalität neben einem haarsträubenden Moralismus, der dem Bauch hinterhertreibt, in dem die Winde der Tagespropaganda und des medialen Trigger-Stundengebets die Segel blähen und in täglich neue Auswüchse der Begehrlichkeiten nach moralischer Überheblichkeit und zugleich Selbstzerstörung drängen? Der „Klima“-Hype ist ein perfektes Beispiel dafür: der Natur entfremdete Menschen hüpfen auf Kommando „gegen Kohle“, - nota bene: einen der zentralen und lebenswichtigen Baustoffe der Natur (nach allem, was wir derzeit wissen!) - haben Panik vor einem lebenswichtigen Spurengas (Co2), haben keine klare Vorstellung davon, was hier eigentlich natürlich wäre oder auch nicht, aber eines glauben sie gewiss: Sie glauben, es gäbe starre Naturgesetze und „Forscher“, die sie besser erkennen und deuten als alle jene, die ihnen widersprechen. Die Frage, warum sie das glauben, ob es überhaupt wahr ist, erübrigt sich, weil man ihnen gesagt hat, das erübrige sich. Wir erleben ein gespenstisches Revival ignatianischer-frommer Selbstverdummung und Autoritätshörigkeit bis in die letzten Fasern des Bewusstseins hinein. Wir erleben eine geradezu finster-säkulare Kirchlichkeit, die verlangt, dass wir das Schwarze für weiß halten, wenn die Autorität es uns zu glauben heißt. Nur staatlich geprüfte Indoktrinatoren wissen, was die wahre Wahrheit ist. Und wir hängen an ihren Lippen und fürchten uns, selbst zu denken, weil man uns den vollen Teller entziehen könnte und den seelischen Missbrauch, den wir mit Anerkennung verwechseln. Es ist unglaublich, wie sang- und klanglos so viele, auch akademisch verbildete Menschen, zurücksinken in den Zustand, der den Begriff der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ noch euphemistisch erscheinen lässt. Solange der Teller gefüllt ist und Alltagsdrogen sichergestellt sind einschließlich der Freiheit zum ewigen Sex, sind sie gerne Sklaven einer ganz sicher nicht natürlichen „öffentlichen Meinung“ und lernen aufgrund der neuen medialen Volksbildung all jene zu hassen, die noch selbst denken.

Viele haben aber auch die Nase voll von dieser antiaufklärerischen Apostasie, nicht alle lassen sich von der Geisteskrankheit anstecken, und verlassen die urbanen Räume und ziehen sich zurück in die wirkliche Natur. Als „Überleber“, als „Survivaltrainer“. Sie ahnen, dass wir vielleicht schneller in die Natur zurückgeworfen werden könnten, als die meisten Klimahüpfer es wahrhaben wollen. Sie trainieren das Überleben in der echten Natur — nicht der veganen Kitschwelt, in der der Messwert und der Grenzwert das oberste Gesetz sind.
Aber ist das wirklich eine Alternative?
Kann der Mensch überhaupt einfach so ganz natürlich und gut leben? Ist er nicht gezwungen, sich in ihr regelrecht zu behaupten? Ist sie denn diese Mammi, an deren Busen man sich nur zu legen braucht, und schon ist alles wieder gut?
Hier verschwimmen die Linien, die Gedanken, die Erfahrungen …

Ich werde daher der Frage danach, wo die Natur ist, in tagebuchartigen Aufzeichnungen nachgehen. Die Frage nach dem „Wo“ soll den utopischen Charakter unterstreichen, den sie aus meiner Sicht deswegen hat, weil auch sie, wie der Apostel Paulus schrieb (Röm 8,18), ihrer Erlösung harrt:

„18 Denn ich denke, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. 20 Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden - nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin, 21 dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt. 23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft; die Erlösung unseres Leibes.24 Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet worden. Eine Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung. Denn wer hofft, was er sieht?25 Wenn wir aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit Ausharren.

Die Tagebuch-Fragmente erfolgen in loser Folge auf diesem Blog.


Hanna Jüngling, 16. November 2019