Mittwoch, 17. Juli 2013

„Unverständliche Worte an die Wand“





Das Mysterium fidei und die visionäre Realisation der leibhaftigen Gegenwart des Herrn in der Alten Messe 






Karl Kardinal Lehmann äußerte sich unlängst über den Alten Ritus und das eucharistische Geheimnis:
„Was ist dieses Geheimnis? Es besteht sicherlich nicht darin, dass ein Priester unverständliche Worte an die Wand murmelt.“[1]
Und weiter sagte er an anderer Stelle zum gleichen Thema:
"Ich habe den Eindruck, die ganze Begeisterung auch für das Latein hat viel mit Prestige und falschen Vorspiegelungen einer vermeintlichen Kulturelite zu tun".[2]
Er hält "ein stärkeres Nebeneinander beider liturgischer Formen heute nicht für sinnvoll, auch weil es nicht von unten gewachsen ist (…) Die Entwicklung geht eher in die Richtung der erneuerten Messe."[3]
Der Kardinal hat also kräftige Hiebe gegen die Alte Messe ausgeteilt. Aber die eigentliche Frage, nämlich die nach dem „Geheimnis des Glaubens“, konnte er nicht beantworten.
Das Mysterium fidei, das in der überlieferten Alten Messe unübertrefflich zum Ausdruck kommt, besteht gewiss nicht darin, dass jemand „unverständliche Worte an die Wand murmelt“.
Das Wort vom Mysterium fidei hat Paul VI. aus dem Kelchwort der Alten Messe herausgelöst und im Novus ordo nach die Einsetzungsworte als Zuruf an das Volk gestellt, das mit den Sätzen „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung…“ antwortet.
In  1. Kor 11,25-26 wird die Teilnahme an der Eucharistiefeier verbunden mit der Verkündigung des Todes des Herrn, bis er (ein zweites Mal) kommt. Um dieser Verkündigung der Teilnehmenden Raum zu geben, vielmehr aber um das Priestertum aller Gläubigen zu betonen, hat Paul VI. die Worte des alten Messkanons umgestellt.
Wenn das „Geheimnis des Glaubens“ durch den Zuruf konzentriert wird auf eine bestimmte, verkündbare Botschaft, wird ihm der Charakter des Geheimnisses genommen. Denn was man einfach so nach außen tragen kann, ist kein Geheimnis. Solange das Wort vom Mysterium fidei in das Kelchwort eingeschoben, förmlich darin versteckt war wie in einem Schatzkästchen, blieb der Geheimnischarakter gewahrt. In aller Regel wird die liturgische Veränderung durch Paul VI. „biblisch“ aus dem Satz des ersten Korintherbriefes rechtfertigt. Es entsteht der Eindruck, man habe so zurückgefunden zu dem „eigentlich“ Gemeinten nach langem Verschüttetsein…
Es stellt sich jedoch die Frage, was der Heilige Paulus wirklich gemeint hat, als er schrieb: Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. Meinte er damit, dass man zusätzlich zur Teilnahme an der Eucharistiefeier auch noch den Tod des Herrn ansagen müsse? Das zumindest wäre die Interpretation seit der Liturgie-Reform. Ich halte diese Auffassung für falsch und flach. Der Heilige Paulus formuliert ja nicht, dass man das Fleisch und Blut Christi isst und andererseits noch etwas dazu sagen, „verkünden“ müsse. Er meint, dass die Tatsache, dass ich teilhabe an der Eucharistiefeier, die Verkündigung des Todes Christi ist, bis er kommt. Dies besagt nichts anderes, als dass mein „alter Mensch“ stirbt und ersetzt wir durch - IHN. Das „Geheimnis des Glaubens“ wird folglich in dem Moment „verkündet“, in dem es durch die reale, mich sichtbar umgestaltende Teilnahme bezeugt wird. Es ist kein Zeichen “im übertragenen Sinne“, kein Symbol. Nein! Es ist ein reales, leibhaftiges Zeichen, dieses Mysterium fidei. Es ist ein Stigma, eine Einzeichnung in den Gläubigen, ein Herzenstausch. Er wird leibhaftig und buchstäblich selbst zu dem, den er isst. Der Zeuge ist leibhaftiges Zeichen, eine sichtbare Außenseite des Herrn, der gestorben (und auferstanden) ist, und zum zweiten Mal kommen wird. Nur so lässt sich auch begreifen, warum der Heilige Paulus sofort anschließt, dass niemand unwürdig den Leib Christi empfangen dürfe – Denn wer davon isst und trinkt, ohne zu bedenken, dass es der Leib des Herrn ist, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt.
Wie sieht es im Novus ordo mit dem „Bedenken, dass es der Leib des Herrn ist“ aus?
Seit der Liturgiereform ist die Beichtpraxis in sich zusammengebrochen. Dieses Faktum ist eindeutiger Beweis dafür, dass der Novus ordo das Geheimnis des Glaubens banalisiert, wenn er es nicht sogar in gewisser Hinsicht ignoriert.
Der Novus ordo hat durch die Verschiebung weniger Worte – ähnlich wie der Protestantismus - einen ganzen Sinnzusammenhang entstellt.

Ja, das Mysterium fidei ist ein Geheimnis in subtilen, vom Heiligen Geist früh ins Ohr der Mutter Kirche eingemurmelten Worten und in Gesten, die die Braut dem Bräutigam entgegenbringt, wenn sie ihn höher achtet als sich selbst und ihm alles zu Füßen legen will. Es ist keine Frage, wie oft vonseiten der Modernisten vorgebracht, dass es nicht Varianten von Liturgien geben oder dass nicht das eine oder andere etwas verändert werden könnte. Solche kleinen „Reformen“ sind ja immer wieder vorgenommen worden.
Bei der Reform 1970 scheint jedoch ein Totalschaden entstanden zu sein. Die Elemente der reformierten Form sind für sich genommen nicht „falsch“. Es sind die verschobenen Gewichtungen, Umstellungen, die zerrissenen Sinnzusammenhänge, die zu dem Niedergang geführt haben, den wir mit Schmerzen sehen.
Der vage oder fehlende Sinnzusammenhang selbst ist es , der zu dem Wildwuchs geführt hat, den wir allenthalben beobachten können. Desorientierte Priester und blasierte Liturgiekreise basteln sich die Liturgie so zusammen, wie es ihnen gerade opportun erscheint. Weltkirchliche Normen, Instruktionen aus Rom interessieren sie schon lange nicht mehr.
Der Novus Ordo ist Ausdruck dafür geworden, dass die Braut sich selbst höher achtet als den Bräutigam. Seine Gegenwart nimmt sie nur noch zähneknirschend hin. Er gibt sich ihr treu, aber sie gewährt ihm Audienz, wann und wie es ihr beliebt. Oder gar nicht mehr. Wozu auch, wenn das „Geheimnis des Glaubens“ vor allem darin besteht, dass ich, ich und noch mal ich es „verkünde“ und mir anschließend die „mir zustehende“ Hostie abgreife?
Das „liturgische“ Treiben, das wir vor allem sonn- und feiertags erleben müssen, hat etwas Babylonisches. Eine obszöne Sprachverwirrung kennzeichnet so manchen „Gottesdienst“. Und es ist kein Zufall, dass insbesondere das Leben in sexueller Unordnung als Kavaliersdelikt betrachtet wird.
Die einheitliche lateinische Sprache hat eine läuternde Wirkung auf alles Frivole und jede Unordnung. Der in sexueller Unordnung Lebende wird es sich überlegen, ob er kniend an der Kommunion im Alten Ritus teilnimmt, nachdem er die erhabenen lateinischen Worte gehört und selbst gemurmelt hat.
Die lateinische Messe ist ihrem Wesen nach intim und keusch. Jeder wahrhaft Liebende offenbart sich der Geliebten nur scheu und in verborgenen Worten. Jesus hat sein Herz ganz weit geöffnet. Die, der er sich zuerst offenbart hat, die Jungfrau und Gottesmutter Maria, hat ihn ohne Zögern und Vorbehalt aufgenommen, in sich wachsen lassen, alles für ihn aufs Spiel gesetzt und ihn geboren. Mit ihm und für ihn ist sie geflohen. Mit ihm und für ihn ist sie den Kreuzweg mitgegangen. Mit ihm und für ihn stand sie unter dem Kreuz, als er starb. Sie hat das Geheimnis, das ihr zuteil wurde, still im Herzen bewegt. Sie hat nichts „verkündet“, nichts aus eigener Vollkommenheit reformiert, umgemodelt oder „gedeutet“. Amtsdiener, die nicht an ihr Maß nehmen, verfehlen ihre Aufgabe.
Aber die Welt, für die Maria den Anfang machte, hat dem Liebenden ins Herz gespuckt. Sie hat es ihm aus dem Leibe gerissen und zertreten, um zu verhindern, dass auch nur ein Mensch ihn weiterhin verstehe oder seine Liebe gar beantworte… Das zertretene Herz Jesu, Quelle seines Blutes und Wassers, ist das Heilmittel, das in der Alten Messe zu uns kommt.
Die hasserfüllte Ablehnung, die der Alte Ritus vonseiten der Hierarchie erfahren hat, als wäre er ein skandalöser Irrtum der Kirche gewesen, den es mit Stumpf und Stiel gelte auszuradieren, folgt der feindseligen Geste des Herzausreißens.
Es ergibt keinerlei Sinn, eine Tradition zu entstellen und ihre lebendig gewachsene Form zu ersticken. Der Novus ordo hängt am Tropf der Alten Messe. Mit der Alten Messe wird jede „reformierte Form“ seit 1970 sterben. Wollen die Hirten den Tod des Leibes Christi? Sie sollen wissen: er lässt sich kein zweites Mal opfern. Er wird stattdessen ein zweites Mal wiederkommen und das angekündigte Gericht halten.

Der Herzenstausch lässt uns teilhaben am „Geheimnis des Glaubens“. Das Wunder besteht darin, dass dies für jeden Menschen möglich gemacht ist. Es bedarf keiner besonderen Befähigungen oder Initiationen, wie sie esoterische Mysterienkulte kennzeichnen. Es bedarf des schlichten Aufhorchens, der Umkehr und der treuen Gefolgschaft. In der Heiligen Messe schenkt uns Jesus wieder und wieder sein Herz.
Das Mysterium fidei erschließt sich im Einverständnis mit dem Herrn, im Stillsein, im Hören, im Betrachten der verständlich-unverständlichen Worte, die auf einer banalen Sprachebene unbegreiflich bleiben. Es sind Worte, die in einer einfältigen Auffassung nah an die Sprache der Engel grenzen. Sie sind kein „Reden“. Sie sind Zeichen eines Geschehens, in das ich hineingenommen werde, das sich in mich einzeichnet, indem ich ihm schweigend zustimme. Die schweigende Zustimmung ist die Verkündigung des Todes und des Kommens des Herrn. Ich schweige und werde – IHM gleich. Das Murmeln des Priesters muss vom Schweigen her verstanden werden.

Die Worte der Heiligen Messe sind, in welcher Sprache auch immer, dem erneuerten und umgestalteten Herzen verständliche Worte.
Stuft man sie auf Lateinisch als „unverständliche Worte“ ein, muss man sie auch auf Deutsch für „unverständliche Worte“ halten. Der Blick in die deutschsprachige Kirche passt zu dieser These. Die Äußerungen des ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz beweisen, dass sich bis in die Kardinalsränge hinauf eine merkwürdige Begriffsstutzigkeit etabliert hat. Unverständigkeit und gelehrt-terminologische Horizontverengung ist eingezogen, seitdem das pilgernde Volk Gottes die Heilige Messe in der Volkssprache und coram publico zelebrieren darf.
Es ist nicht die lateinische Sprache, die nicht verständlich ist. Es ist der Hörer bzw. der Ohr-Abwender, der unverständig ist.
Die Heilige Messe verliert ohne die Bindung ans Lateinische ihren Sinn. Es ist nicht beliebig, in welcher Sprache sich eine liturgische Tradition über Jahrhunderte weg entwickelt hat.
Wenn man sieht, wie einfache bayerische oder österreichische Menschen ohne lateinische Bildung aus weit verbreiteten Büchlein wie zum Beispiel „Maria=Trost“ von Coelestin Mayer OSB vollständig eingeführt wurden in die Sakramente der Kirche und in den lateinischen Ordo, dann kann nur ein Unwissender oder ein Lügner behaupten, sie hätten damals keine Chance gehabt zu verstehen, um was es ging. Sie gingen regelmäßig zur Beichte, viele täglich in die Heilige Messe, ihre Feldarbeit unterbrachen sie zum Angelus. Selbst Knechte und Mägde gingen nach ihrer harten Arbeit stundenlang zu Fuß, um in den Bußzeiten an Messen und Andachten teilzunehmen. Von ausgedehnten Wallfahrten ganz zu schweigen. Die Literatur der deutschsprachigen katholischen Länder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erzählt davon ausführlich. Ob Heimatautoren wie Peter Rosegger oder Ludwig Ganghofer, ob Literaten wie Heinrich Federer, Adalbert Stifter, Oskar Maria Graf oder Hans Carossa – sie alle beschreiben, oft ungewollt, manchmal sogar mit Antipathie, wie sehr die religiöse Bildung und die Frömmigkeit der unteren Schichten zu Zeiten der lateinischen Messe um ein Vielfaches größer war als heute. Das „einfache Volk“ war sprachfähig und religiös gebildet. Nur hochmütiger Standesdünkel lässt uns glauben, diejenigen, die nicht das Privileg „höherer Bildung“ besitzen, müssten uns unterlegen sein an Erkenntnis… Es war so, wie es immer noch ist: ein interessierter Mensch bildet sich selbst und weiß das Vorhandene für sich zu ergreifen. Der wirklich Gebildete ist Autodidakt…

Die Choreographie des Novus Ordo ist eine Choreographie der hermetischen Verschlossenheit gegenüber dem Geheimnis. Es ist die zirkuläre Performance des Suppentellers, über dessen Rand nicht mehr hinweggesehen werden kann, der Gummizelle der Narren, die mit dem Kopf durch die Wand wollen und sich an der Erhabenheit des Alten Ritus den Dummkopf blutig rennen. Die Zelebration der Heiligen Messe im Neuen Ritus wirkt wie ein Teig, dessen Bestandteile immer wieder auseinanderfallen. Man verlässt die Kirche und hat eine gespaltene Erinnerung: es war eine gültige Messe, aber sie war ein Zerfallsprodukt. Ihr fehlt der schlagende, nur in der Stille gut hörbare Puls, das Rauschen des Blutes, der Schrei Jesu und das Weinen der Gottesmutter, ihr fehlt das Staunen der Jünger über die Auferstehung, die Freudetrunkenheit an Pfingsten und die Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn und auf das Himmlische Jerusalem. Sie ist bleich, eigentlich nur noch ein schwindender Schatten der ursprünglichen Messe im Rampenlicht des frivol-sentimentalen Unglaubens. Man schafft es nicht mehr hinaus aus der kleinen, runden Welt, die sich Zelebranten und Volk gegenseitig bestätigen. Man hält sich im Gegenüber in Schach, anstatt gemeinsam auf den Herrn zu schauen. Moralin tropft von der Decke, das Kondensat säkularisierter Ausdünstung am entwerteten Altar.

Es verwundert nicht, dass ausgerechnet die am meisten ehrfurchtgebietende Situation, nämlich die Heilige Wandlung, nachlässig, nun auch noch legitimiert durch den neuen Papst Franziskus, mit schlampigen oder fehlenden Kniebeugen geschieht. Die Gläubigen greifen – wie bereits erwähnt - im Vorbeigehen ihre Hostie ab und schieben sie sich zwischen die Zähne wie einen Kaugummi. Noch schmerzvoller ist es, wenn die Kommunion in beiderlei Gestalt stattfindet. Die Kommunikanten tunken ihre Hostien an vielen Orten entgegen jeder Regel etwa so in den Kelch, als säßen sie mit Zwieback und Milchschälchen am Frühstückstisch. Der Novus Ordo hat Messen im Stile von McDonalds-Büffets möglich gemacht. Man schlappt hin und holt sich, worauf man „Bock“ hat. In meiner Pfarrkirche sammelt eine Gläubige nach jeder Messe die Reste der heruntergefallen Hostien, lauter lebendige Stückchen des Leibes Christi, ein und verschluckt sie. Das alles geschieht unter den Augen der Priester und der Bischöfe. Anfragen entsetzter Gläubiger werden nach Wochen erst oder gar nicht beantwortet. Laiengremien in den Pfarreien bestimmen, was liturgisch geboten ist. Mancher Priester, selbst ohne klares Verständnis seines Amtes, legt sich mit dieser Laien-Mafia um Jesu willen nicht an. Er hätte in den meisten Diözesen keinen Rückhalt beim Bischof, wenn er darauf besteht, dass die Regeln der Kirche eingehalten werden. Wir haben den liturgischen Nullpunkt erreicht. Mir ist klar, dass es auch noch unter Null gehen kann.

In diese erschütternde Lage hinein sagt ein Kardinal die zitierten Sätze. Er glaubt, es müsse nun eine „erneuerte Messe“ geben. Die berühmte „Reform der Reform“ also. Das Spiel zwischen dem Fuchs und dem Raben. Es wird so lange von der Heiligen Messe abgestrichen, bis nichts mehr übriggeblieben ist als eine Käserinde, die man dann endgültig fortwirft.
In der Kirche gibt es nur ein Messopfer aller Zeiten. Es muss weder, noch darf es reformiert werden. So wie es tradiert wurde, ist es echt. Anders ist es eine Fälschung, ein Abgott, ein goldenes Kalb, ein Greuelbild.
Ein sachhaltiges Argument gegen die Alte Messe hat der Kardinal nicht vorzuweisen, außer der Behauptung, das Interesse an der Alten Messe sei nicht „von unten“ gewachsen. Es ist eine Lüge: das Interesse ist von unten gewachsen, wenn auch überregional, frei und ohne Konzentration auf bestimmte Seelsorge-Plattenbauten. Die Abschaffung des Alten Ritus im Jahre 1970 dagegen wurde den Herzens-Gläubigen von oben herunter zum Teil brutal aufgezwungen. Mit den Kritikern ging man um wie mit Häretikern, und bis heute müssen sich Gläubige, die tatsächlich „von unten her“ um einen passenden und zentralen Ort für die von ihnen gewünschten Alten Messen bitten, von Dekanen und dem Personal der Ordinariate von “oben herunterputzen“ lassen.
Im übrigen ist es völlig irrelevant, ob die Messe „von oben“ oder „von unten wächst“ – sie ist über Jahrtausende gewachsen und vor 45 Jahren so grausam beschnitten worden, dass sie nicht mehr ausschlagen konnte.

Doch wie sieht es mit „der Wand“ aus, von der der Herr Kardinal spricht?
Spricht der Priester, wenn er am Altar im Alten Ritus zelebriert, „an die Wand“?
Es will mir nicht in den Kopf, wenn ein geweihter Bischof nicht weiß, dass der „Erbe des Alls“ lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Kann es wirklich sein, dass ihm nicht bekannt ist, dass die Zelebrationsrichtung auf den Oriens hin, den wiederkommenden Herrn, nach Osten, jede Wand durchsichtig werden lässt, den Altarraum aufschließt und den Blick in den Himmel freigibt?
In der traditionellen Heiligen Messe tritt der Priester für die anderen und mit ihnen vor den Herrn. Er „dreht“ dem Volk nicht „den Rücken“ zu, sondern schaut mit allen gemeinsam auf den Herrn. Er ist eine Übergangsgestalt: er macht den Herrn am Altar sichtbar für alle und ist Glied ihrer Menge. Ein weiteres Geheimnis: das Priestertum, verwoben mit dem eucharistischen Mysterium fidei. Das Priestertum, Schnittstelle zwischen der Kirche und ihrem Herrn… Ja, auch das Priestertum ist auf den Hund gekommen, wird nicht mehr verstanden, am wenigsten oft von den Priestern selbst.
Ach, es wäre so viel zu erklären, aufs Neue zu entdecken, man weiß gar nicht, wo anfangen. Das wäre die „Reform“, nach der so viele jammern: die Wiederentdeckung der Tradition.
Im wahren Glauben gibt es nicht „alt“ und „neu“. Die Tradition der Kirche ist ewig. Jeder, der daherkommt und „fortschrittlich“ sein will, hat allein in seiner Redeweise offenbart, dass er gebrochen hat mit der ewigen Wahrheit innerhalb Mauern der Kirche.

Das von Kardinal Lehmann so hässlich behauptete „An-die-Wand-Murmeln“ öffnet die Gefängnistore wie einst beim Heiligen Petrus, der in der Nacht von einem Engel aus seinen Ketten befreit und durch die scheinbar unüberwindlichen Mauern und Tore hinausgeführt wurde in die Freiheit.
Plötzlich trat ein Engel des Herrn ein und ein helles Licht strahlte in den Raum. Er stieß Petrus in die Seite, weckte ihn und sagte: Schnell, steh auf! Da fielen die Ketten von seinen Händen.
Der Engel aber sagte zu ihm: Gürte dich und zieh deine Sandalen an! Er tat es. Und der Engel sagte zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!
Dann ging er hinaus und Petrus folgte ihm, ohne zu wissen, dass es Wirklichkeit war, was durch den Engel geschah; es kam ihm vor, als habe er eine Vision.
Sie gingen an der ersten und an der zweiten Wache vorbei und kamen an das eiserne Tor, das in die Stadt führt; es öffnete sich ihnen von selbst. Sie traten hinaus und gingen eine Gasse weit; und auf einmal verließ ihn der Engel.[4]

OHNE ZU WISSEN, DASS ES WIRKLICHKEIT WAR! – Ohne zu wissen, dass es Wirklichkeit ist, zelebrieren wir heute die Heilige Messe. Wehe uns, wenn uns eines Tages die Augen, die wir so zwanghaft geschlossen halten wollten oder vor lauter Verschlafenheit nicht offenhalten konnten, geöffnet werden!Was vorher Gnade war - das offene Auge - , wird nachher Gericht sein.
Die Alte Messe befreit den, der an ihr – glaubend, dass es Wirklichkeit ist - still oder murmelnd teilnimmt, aus dem geistigem Gefängnis, in dem wir alle von Natur her sitzen. In ihr wird das Mysterium fidei sichtbar für den, der bereit ist, Jesus unter allen Umständen Gesellschaft zu leisten in seiner schwersten Stunde, ohne dabei einzuschlafen wie die Jünger am Ölberg. Die Alte Messe hebt den einfachsten Menschen, wenn er alle Sinne, alles was er ist oder meint zu sein, öffnet, auf den Herrn hin öffnet, in den Adelsstand eines Gotteskindes.
Die Alte Messe ist eine visionäre Realisation: nach und nach werden die Wände unsichtbar, die uns umklammern, sie lösen sich auf und weichen zurück wie böse Geister. Der Raum, in dem wir uns wiederfinden, ist unendlich weit und schön. Einzig die Liebe des Herrn umfasst uns. Die Vision ist leibhaftige Wirklichkeit. Der Priester, der hier zelebriert, weiß wieder, warum er Priester ist. Das Opfer Jesu Christi geht durch sein Herz. Welch eine große Berufung, leibhaftiges Zeichen der heilsgeschichtlichen Wende in Christus zu sein!

Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, / da waren wir alle wie Träumende....[5]
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Dieser Artikel wurde inzwischen auch von der katholischen Internet-Zeitung Katholisches.info veröffentlicht: http://www.katholisches.info/2013/07/20/unverstandliche-worte-an-die-wand-das-mysterium-fidei-und-die-visionare-realisation-der-leibhaftigen-gegenwart-des-herrn-in-der-alten-messe
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Eine Zusammenfassung dieses Artikels und einige weitere lesenswerte Überlegungen dazu findet Ihr auf diesem Blog.


[1] http://www.eucharistie2013.de/service/news/news-detailansicht/article/aufbrueche-und-bleibende-herausforderungen.html
[2] Kölner Stadtanzeiger vom 7. Juni 2013
[3] http://pius.info/archiv-news/892-kirchenkrise/7996-kardinal-lehmann-gegen-ausweitung-der-qtridentinischen-messeq-
[4] Apg 12, 7-10
[5] Psalm 126, 1

Donnerstag, 4. Juli 2013

Das Feuer der Genderer

Wenn ich sie im Selbstmitleid versinken sehe, die Genderer, dann marschieren vor meinem inneren Auge bunte Gartenzwergarmeen auf, so wie beim Christopher Street Day, die mit ihren kleinen Spaten und Hacken an einem kitschigen Arkadien bauen. Es sind lauter Homunculus-Zwergerln, gerade in Reagenzglasgröße. Wehe, Sie lachen, wenn ein vollbärtiges Manderl Ihnen weinend gesteht, es habe sich schon immer für die Prinzessin auf der Erbse gehalten und fühle sich vom Schneewittchen ausgegrenzt, weil es, also das Zwergerl, weder lesbisch noch schwul, sondern „a Genderer“ sei und mit Wesen des dritten Geschlechts verkehren wolle.
Also, noch mal zum Mitschreiben:
Das Zwergerl fühlt sich diskriminiert, weil das Schneewittchen sich einbild’, alleine Prinzessin zu sein daheim, und entlässt eine dicke Krokodilsträne über sein stoppeliges Mannsgesicht… 
Ich gebe ihm den Werbeflyer „ Cyber-Love-Playground“ für geschlechtergerechten Sex: Lustorgane leiht das dritte Geschlecht künftig nur noch aus – so wie man Schlittschuhe und 3D-Brillen an den Kassen der Film- und Eispaläste ausleihen kann… Es gibt übrigens brandneue Desire-Organe (von studierten Joy- and Gaydesignern entworfen und gestaltet). Der Genderer schließt sich über Elektroden mit einem Cyber-Love-Computer kurz und verschafft sich über einen Touchscreen die angestrebten Lustsensationen. 24-Stunden-Karten für bis zu 5 Personen sind besonders preiswert.
Das weinende Zwergerl setzte alle Hebel in Bewegung: Das Schneewittchen wurde gleich am selben Tag noch verhaftet. Erst hieß es „wegen dringenden Tatverdachts der Homophobie“. Man sperrte das Möchtegern-Weib bei Wasser und Brot im Hochsicherheitstrakt für politische Gefangene in eine Einzelzelle. Das Zwergerl protestierte und wandte sich mehrsprachig an eine globale Internet-Zeitung: es sei nicht schwul, sondern gender, schöner, feinsinniger und vor allem hochgewachsener Adel, aber geschlechtslos, und das Schneewittchen sei genderophob zu ihm gewesen, es, also das Zwergerl, habe es deutlich gesehen, wie sie, nein es, also das Schneewittchen, in ihr, oder besser sein Zimmer gerannt und dort in einen Lachanfall ausgebrochen sei, als es, das Zwergerl, ihm, dem Schneewittchen unter Tränen und dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt habe: Du, Prinzi, weißt, ich bin auch eines von deiner Art…
Eine Schockwelle ergreift das ganze Land. Wer hätte das von dem bislang unbescholtenen Schneewittchen gedacht? Ja, pass auf, liebes Zeitgenosserl, der oder soll ich sagen das Feind lauert überall! Abende lang flimmerten Talkshows zum Thema Genderophobie über die Bildschirme. Einem völlig desorientierten katholischen Bischof, der vergessen hatte, sich vorher DBK- und ZdK-programmieren zu lassen, entfuhr der leidenschaftliche Hinweis darauf, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen habe und er, also er, der Bischof, im übrigen ein Er sei, ein Mann, ein Mann im Zölibat, und das sei seine Berufung, als Mann Priester zu sein und keusch zu leben – die Talkgäste saßen wie vom Donner gerührt da…Mann…keusch…Zölibat…der spinnt doch…mit dem stimmt was nicht…die Sendung musste unterbrochen werden und das sehr ernste Moderatoren-Menschenkind warf den schwarzrockigen Sex-Verzichts-Manns-Teufel salbungsvoll aus der Sendung, denn hier sei man schon immer „gegen rechts“ gewesen, und das bleibe auch so. Das verlange die moralische Verantwortung. Wehret den Anfängen. Die katholische Kirche ist unser Unglück. Wer ein Geschlecht hat, ist verdächtig, aber wer nicht sext, der ist verhext. Kauft nicht bei Piusbrüdern und Traditionalisten, bei dieser vorkonziliaren Schande, diesen hochgefährlichen Leuten, die mit dem Rücken zum Volk die Heilige Messe feiern und Kondome verbieten. Und das auch noch auf Lateinisch. Das elitäre Pack! Ein weiterer Talkgast, seines Zeichens Star-Gender-Designer, fragt scheu, was ein Kondom sei? Man erklärt es ihm – das gab’s mal früher, als es noch Männer gab, zur Verhütung vor Aids, das war Safer-Sex. „Ach so“, nuschelt das junge Gemüse und wird grün im Gesicht. „Danke, das wusste ich nicht.“
Anschließend kann man sich erholen. Endlich ist man unter sich. Sogar die Alibi-Muslima, - wir sind tolerant, weltoffen, nicht islamophob und debattieren mit allen gesellschaftlichen Kräften - halt, hm also, ja wie sagt man das gerecht, also das Muslimum, das ebenfalls an der Sendung teilnahm, mit Kopftuch, beeilte sich ein ums andere Mal zu versichern, dass im Islam auch Männer seit neustem ein Kopftuch tragen täten. Strafender Blick des talkenden, evangelischen Pfarrers im grammatischen Neutrum: „Was, bei euch gibt’s noch Männer und Frauen!? Damit geht es mir nicht gut.“ Das Muslimum schnappte nach Luft in all seinen Tüchern und haspelte atemlos: „Ich…nein…hehe…wollte nur sagen, dass wir inzwischen alle ein Kopftuch tragen…hmm.“ Der Augenblick der Gefahr war vorüber. Man entspannte sich, sank erleichtert zurück in die Studiosessel und kam auf das Thema der erweiterten Ehe: ein Gartenzwergerl und ein Feuersalamander hatten sich frisch vermählt und zeigten ein 3D-Hochzeitsvideo. Alle setzten ihre Brillen auf, auch die Zuschauer zu Hause, und das Muslimum beruhigte seinen Atem. „Daheim in Arabien hätte man das ganze verkommene Gesocks einen Kopf kürzer gemacht, damals, bevor unser Öl explodierte und alles in Schutt und Asche legte“, rumpelte ihr äh ihm durch den Kopf und es verbarg das Gesicht schnell in den Kopftuchfalten.
Ist das nicht eine schöne Vorstellung, diese Gartenzwerg-Idylle? Vor allem, dass man sich sein Geschlecht jetzt frei kaufen und nach Gebrauch einfach in die Restmülltonne werfen kann, finde ich ganz groß. Der Fortschritt lässt sich eben nicht aufhalten. Das Schneewittchen, das ohnehin nichts mehr zu verlieren hat (es bekam 120 Jahre ohne Bewährung) ließ immer wieder Kassiber aus dem Knast schmuggeln. Auf einem stand: „Ihr Deppen, wie wollt ihr so noch Kinder kriegen? Wer soll euch später pflegen, wenn ihr nicht mehr könnt und keine Nachkommen da sind?“
Ein typischer Fall von Kurzsichtigkeit! Auf dem globalen Markt ist alles möglich. Die Kinder kaufen wir den Menschen in den armen Ländern zu fairen Preisen ab. Bevor die Chinesen weiterhin bereits geborene, überzählige Kinder umbringen, bieten wir ihnen ein lukratives Geschäft an. Bevor irgendwelche Afrikaner kleine Kinder klauen, um sie zu Kindersoldaten auszubilden, holen wir sie zu uns… Ihr Geschlecht montieren wir ihnen bei der Einreise ab. Das brauchen sie ja nun nicht mehr.
Das Geschlecht ist das Zeichen einer ungerechten, gewalttätigen Welt, wie sie in der Finsternis früherer Zeiten dem unaufgeklärten, durch die Kirche verdorbenen Blick als natürlich erschien. Das haben wir überwunden, ein für alle Mal! Der Geschlechterkampf ist vorbei, seitdem es keine Geschlechter mehr gibt. Logisch.
(Übrigens gibt es durch die progressiven Entwicklungen Kastratensänger in großer Zahl und eine Renaissance der historischen Aufführungspraxis all jener Werke, die ursprünglich von Kastraten gesungen wurden. Aber das nur am Rande.)
Viel interessanter ist, dass die Beschneidung beider Geschlechter wiederentdeckt und endlich zu ihrer verdienten Würdigung gekommen ist. Die tiefe Weisheit der vorchristlichen Kultur, die durch die Sakraldiktatur der katholischen Kirche grausam zerstört worden ist, leuchtet wieder ungedimmt. Die Beschneidung, weiterentwickelt zur Totalbeschneidung, ersetzt die vormalige Taufe. Die Totalbeschneidung gilt als Bundeszeichen der gerechten Friedenswelt. Hässlich ist, was noch festgewachsene, natürliche Geschlechtsorgane trägt. Es ist wie vormals eine Frau mit unrasierten Beinen, oder ein Priester im Zölibat. Das Schönheitsideal der Zukunft ist haarlos, geschlechtslos, unkeusch und – hirnlos. Nein, Moment, bevor Sie sich aufregen - das ist nicht diskriminierend! Es ist gerade andersherum: das Gehirn will partout nicht geschlechtsneutral sein, also weg damit, macht kaputt, was euch kaputt macht! Oder sagen wir es noch besser mit einem anderen Kassiber Schneewittchens: „Selbst ein Skelett zeigt, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Ungerechtigkeit sitzt einfach drin – schafft euch doch einfach ganz ab, ihr Idioten, verbrennt euch bei lebendigem Leib, erst dann gibt es keine Geschlechter mehr.“
Aber auf diese Idee waren die Genderer schon selbst gekommen: sie inszenierten eine riesige Flash-Rainbow-Goodbye-Party und verbrannten die inzwischen ergraute, nachkommenfreie Menschheit in einem Akt kollektiver Selbstbestimmung. Es war ein gigantisches Feuerwerk. Sie hatten gehofft, es bleibe nichts übrig. Das Feuer, so dachten sie, brenne herunter über ihren entstellten Leibern und sie könnten eines Tages aus ihrer Asche aufsteigen wie große freie Vögel, ihre Schwingen im Zeitlupentempo der Sonne entgegenhalten. Sie täuschten sich: das Feuer brennt. Punkt. Es hört nicht auf zu brennen und sie hören nicht auf zu sein. Und das schlimmste ist, dass durch die starke Hitze die beschnittenen Geschlechtsmerkmale ebenso wie die rasierten Haare wachsen, riesig, überdimensional, man weiß gar nicht wohin mit soviel Geschlecht und Haar! Und wenn Sie wissen wollen, warum das Feuer ewig brennt, dann spitzen Sie die Ohren. Es ist unglaublich, aber wahr: der gigantische Müllberg von verbrauchten Geschlechtsorganen, Sie erinnern sich, diese Discount-Einweg-Organe, die man anschließend in die Restmülltonne werfen konnte, haben einen Brennwert, den die Welt noch nicht gesehen hat. Da sitzen sie, die Genderer, und brennen in ihren Zoom-Geschlechtsteilen, den festgewachsenen wie den abnehmbaren. Es ist zum Verrücktwerden. Und schon gibt es wieder Trouble zwischen Männern und Frauen, wegen allem und jedem. Ich will es nicht ausschmücken. Auf der Erde war es halt doch schöner, da konnte man mit Hacke und Spaten nach Schätzen graben und sich eine kitschige Welt im Postkartenformat erträumen. Und in der Abendkühle ein rotes Zipfelmützlein aufsetzen, in sein kleines Bett zwischen rotkarierte Kissen sinken und seinen Mann-Frau-Kummer verschlafen.

Samstag, 29. Juni 2013

Weihnachts-RAP



Leseprobe aus "Singsang im Klangbassin" 

 

Der No-Go-Christkind-Song der bitteren Mandeln



Gott

den wir immer fragen,

warum er all das Schlechte zulässt,

das wir Menschen schaffen,

ist nicht, nicht? Nicht! warum nicht?!

siegreich

mit Pauken und Trompeten

rädäbäng schnättärätäng

Tschingdarassa bumm

in unsere Welt

einmarschiert

links zwo drei vier

Sieg und Heil

NIEDER MIT

StieFelTritt
DEN FEINDEN

Und er

macht nicht

kaputt

was uns kaputt macht

was bliebe sonst noch übrig

von uns Selbstgerechten

(der Feind,
die Gesellschaft
die Kapitalisten
die Eltern die Schule
die Kirche ja genau die
der Erbfeind wird auch wieder ausgegraben zu seiner Zeit
die Kommunisten und alle Ewiggestrigen
und deeeeeeeeer Islam
und die Christen die sind noch schlimmer
oder umgekehrt,
wen könnte man noch nennen...?
ich hab noch wen -
die Fundamentalisten, der Ausbund der Verirrung
die Hexen nein die Hexenverfolger
Linkshänder Rechtshänder
Vegetarier Fleischfresser
und nicht zu vergessen die Juden
die Linken die Männer die Frauen der Osten
vom Westen nur die Amerikaner –

wir Guten sind von denen Kulturäonen entfernt
die Minderheiten Mehrheiten Nazis Kondomgegner Körperlose

der alte Mann in Rom derwilldassalleungeschütztsexhabenwoerdochgarnichtmitredenkann
die Frontalpädagogen die Gewaltfreien und
immer wieder die Konservativen

Sagt bescheid, wenn Euch noch wer einfällt…)

Ich melde mich schon mal freiwillig,
denn irgendwann bin auch ich dabei.

Piffpaff

Wooooooamm!

Skandal!

Er gebiert sich durch

eine von uns

zu uns Feinden

in Windeln

und kann sich gerade noch

vor uns

getragen von ihr

durch die Wüste
aus dem Volk Gottes

zu den Ungläubigen

nach Ägypten retten.

SKANDAL!

Das soll eine Religion sein?
Mit einem Gott, auf den man immer nur warten
warten warten warten
darf bis er kommt,

der einfach nicht so will
wie wir denken?
In all den genannten Feindseligkeiten

Nicht totzukriegen
seitdem der Ruf:

Sei Maria

die niedrige Magd

und sing
ihr Lied
magnificat
anima mea dominum
und wie geht es weiter?
Ich meine, wie geht es weiter,
wenn man nicht von vornherein
und auch nicht zwischendurch
mit Verweis auf die anderen Übeltäter
sagt, es lohne ja doch nicht?



(Weihnachten 2010)

Freitag, 17. Mai 2013

Zwiesprache und Wahrheit



 
Rolf Breitinger: Schulz von Thun lässt grüßen. Edding-Zeichnung April 2013


Zwiesprache und Wahrheit
Eine Skizze über Dialog(un)fähigkeit im (vormals?) christlichen Abendland

Es ist unsere glanzvolle Freiheit, alles zu erfinden, die Geschichte, die anderen, das Gespräch mit ihnen und die Heilige Kuh der Postmoderne dazu: das heroisch inszenierte Selbst. Alles, alles, was mich betrifft, ist in mein Ermessen gestellt. Was denkbar, wünschbar ist, muss auch möglich sein. Die grenzenlose Kreativität der Selbstinszenierung ist der bedeutendste Wirtschaftsfaktor.
Unser anderes Leben, jenes, das uns erbarmungslos zwingt, unsere Selbstverwirklichung den kriminellen Energien von Wirtschaft und Staat zu unterwerfen, weist in ganz andere Richtungen. Während wir selbstmitleidig und heroisch um unsere ganz persönlich wahre Selbsterschaffung kämpfen, unser ganzes Vermögen dafür hinblättern, ziehen Strukturen, die wir nicht mehr im Blick haben können bei all den aufwühlenden privaten Wahrheiten und Wichtigkeiten, die Schnüre immer enger und enger. Der einzelne, verstrickt in die Fiktionen seiner Selbst und zunehmend all seiner emotionalen Stützen in Glauben, Familie und Gemeinschaft beraubt, an den Wochenenden damit belastet, seine Kinder vom getrennten ‚Ex’ zu holen oder wieder hinzubringen und an den Werktagen die überbordende Bürokratie seiner Existenz zu organisieren, hat kaum mehr die Kraft, Gedankenketten über seine eigene Problematik hinaus zu schaffen. Geschweige denn, profunde Gespräche zu führen, sich mit dem anderen zu berühren. Und dies eben nicht in der atemlosen Levitation über der Oberfläche, sondern in der Tiefe, in der ruhigen gemeinsamen Hingabe an unteilbar einzige Wahrheit.

Hören Sie es auch? Hören Sie auch den vielstimmigen Einwurf, es gebe keine alleingültige Wahrheit, jeder habe seine eigene Wahrheit, es könne nur viele Wahrheiten geben?
Was ist Wahrheit? fragte schon diplomatisch Pilatus und leitete damit seine dem eigenen Machterhalt gewidmete Entscheidung, Jesus hinrichten zu lassen, obwohl er ihn für unschuldig hielt, ein. Jesus hatte von sich behauptet, er sei die Wahrheit. Pilatus wusch sich seine Hände symbolisch in Unschuld, nachdem er ihn zum Tode verurteilt hatte. Er schob die Schuld an diesem Urteil den Juden zu. Die Kirche hat zu Recht im Glaubensbekenntnis nicht formuliert Gelitten unter dem jüdischen Hohen Rat… (obwohl der wesentlich beitrug zum Todesurteil!), sondern Gelitten unter Pontius Pilatus… Die Juden hatten sich in ihrem eigenen Wahrheitsanspruch so verrannt, dass ihnen Jesu Anspruch todeswürdig erschien. Pilatus aber war der, der nüchtern ‚keine Schuld an ihm’ finden konnte und doch das Urteil fällte. Er kannte die unteilbare Wahrheit (hier über die Unschuld dieses Menschen) und löste sie argumentativ in viele Wahrheiten auf, um seine Machtinteressen zu rechtfertigen. Des Pilatus eigene ‚Wahrheit’ war, dass es Gründe gab, seinen politischen Stand nicht aufs Spiel zu setzen.
Es ist überraschend für unser Denken, dass Jesus der Wahrheit sein persönliches Gesicht gab. Wahrheit kann nur unteilbar sein, so unteilbar eben wie eine Person. Es ist philosophischer Unfug, von ‚vielen Wahrheiten’ zu sprechen. Es gibt meinetwegen viele Meinungen über die Wahrheit oder viele Perspektiven auf eine Sache. Aber lassen Sie uns redlich bleiben: Wahrheit ist Meinungen und Teilwahrheiten gegenüber, die unter dem Verdacht der Verzerrung stehen (‚halbe Wahrheit’), der vollständige Sachverhalt und Zusammenhang. Wahrheit ist das Ganze, der Gegenstand, dem wir nachspüren sollten, anstatt ihn zu verteilen wie eine selbstgebackene Geburtstagstorte.
Jesus sagte, er selbst sei wahr. Und zwar umfassend wahr: niemand komme an ihm vorbei zu Gott. Für diese Aussage wurde er vonseiten der Juden als todeswürdig betrachtet. Sie war und ist bis heute der Stein des Anstoßes. Daran stießen sich nicht nur damalige gelehrte Juden, sondern die Verneinung dieser Rolle Christi ist auch die Geburtstunde des Islam, der, durch innerchristliche Kämpfe um die Natur Jesu Christi inspiriert, dies ausdrücklich ebenfalls als Blasphemie und Verrat am Monotheismus wertet(e) und sich von Gott dazu berufen sah und sieht, diese Ungeheuerlichkeit der Christen zurechtzurücken… Man verstand und versteht Jesu Wahrheitsspruch als überheblich und Ausdruck der totalen menschlichen Hybris. Der moderne, agnostische Mensch sieht darin vor allem einen ausgewachsenen Wahrheitswahn, eine pathologische Selbstüberschätzung.
Man kann Jesu Ausspruch aber auch als Rätselspruch, als Code deuten, der erst in mystischer Hingabe verstehbar wird. Wenn man in diesem Rätselspruch keine private Meinung eines Menschen über sich selbst sieht, wenn man ihm eine Verstehenschance gibt, wohlwollend tiefe Wahrheit des Glaubens in ihm annimmt, kann er unser Denken in eine andere Dimension als die bloß individualitätsbetonte Geisteshaltung führen. Spürt man dem Code im Neuen Testament nach, stößt man auf Sätze, die zu diesem Wahrheitsspruch passen: Im Johannes-Evangelium wird Jesus der ‚Logos’ genannt, das Wort, der vollständige Sinn, der am Anfang stand. Jesus sagt, wer an ihn, die leibhaftige Wahrheit, also das Ganze glaube, sei gerettet. Gerettet woraus oder wovor? Der Heilige Paulus sagte, Jesus sei der Erbe des Alls. Aus ihm seien alle Dinge geschaffen. Er sei die Wahrheit, das Ganze, das All(es) dieser Schöpfung. Er ging an der Ignoranz und Wahrheitsfeindlichkeit ‚seines Eigentums’ zugrunde: Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf  (Joh 1, 10f). Der menschliche Geist ertrug die Wahrheit nicht, so sehr lief sie seinen Teilwahrheiten und temporären Meinungen zuwider…. Es ist uns in der Tat unmöglich, die Wahrheit zu wissen. Unser Erkennen ist und bleibt bruchstückhaft. Es ist des ungeachtet ein Fehlschluss, an die Harmonie aller Widersprüche zu glauben, aus der Not der vielen Widersprüche eine Tugend zu basteln und die Kompatibilität aller Meinungen und Teilwahrheiten zu deklarieren. Damit soll und darf andererseits die Bedeutung der Paradoxien oder scheinbaren Widersprüche nicht aufgehoben werden.
Wir sind vor die schwere Aufgabe gestellt, zu lernen, wie man das eine vom andern unterscheidet. Diese Unterscheidung wird nur durch Vernunftarbeit, durch respektvolle Zwiesprache mit Gott, Mensch und Schöpfung zu leisten sein. ‚Vernunft’ kommt von ‚vernehmen’. Vernunft ohne Dialog wäre eine sich selbst aufhebende Vorstellung. Wir werden diese Fragen nicht mit uns selbst abmachen können, ohne zu versiegen.

Es scheint mir, davon abgesehen, aus dem Blick geraten zu sein, dass es nicht nur viele Auffassungen über die Wahrheit, also den vollständigen, uns meist nicht bekannten Sachverhalt, gibt, sondern auch die Lüge, die bewusste Verneinung dessen, was uns als wahr erkennbar ist. Die Grenzen zwischen Illusionen über sich selbst, Irrtum, Verblendung und krasser Lüge sind manchmal nur schwer zu ziehen.
Wie viel Zwiesprache ist in der Welt postmoderner Wahrheitsexplosionen möglich? Auf wie viele Dinge, die man gemeinsam für wahr hält, kann man sich einigen? Die Zahl wird geringer. Gespräche schaffen oft mehr Missverständnisse und Zerrüttungen, als dass sie zu Annäherungen führen würden. Im Getümmel der vielen Wahrheiten erträgt kaum jemand mehr die diskursive Infragestellung seiner individuellen Auffassungen. Die rein theoretische Infragestellung individuellen Lebenswandels wird als ‚Diskriminierung’ verstanden.
In letzter Konsequenz bedeutet der Glaubenssatz, dass es keine absolute Wahrheit gebe, dass es auch keinen sinnvollen Diskurs mehr über die Dinge geben kann. Jeder verschanzt sich in ‚seiner’ Wahrheit. Diskussionen haben allenfalls Spaßcharakter. Sie sollen und wollen angesichts der postulierten Relativität aller Dinge keinen gemeinsamen Erkenntnisgewinn anstreben. Der pointierte Satz Schön dass wir mal darüber geredet haben! nimmt dies humorvoll aufs Korn.
Die einsame Selbstinszenierung ist instabil. Man will sein Leben völlig autonom gestalten und sehnt doch das Wohlwollen, den Beifall und die Aufmerksamkeit der anderen herbei.
Eine maßlose, gesellschaftliche Toleranzmaxime schafft neben gelegentlich befreiender Koexistenz des Verschiedenartigen ganze Gebirge neuer Absurditäten. Wegen der verbreiteten Gedanken- und Sprachlosigkeit artet Toleranz in das altgediente Unter-den-Teppich-kehren, in Ignoranz aus.
Die Wahrheitsinflation bietet - wie angedeutet - keine Basis mehr fürs Gespräch. Das Drama der vielen Wahrheiten zieht die Freigabe aller gesagten Sätze zur lizenzfreien Verdrehung nach sich. Jeder hat das Gesagte eben so verstanden, wie er es verstanden hat. Oder: Es kam eben so rüber - auch wenn’s nicht so gesagt wurde. Es ist nahezu gleichgültig, was einer sagt. Es interessiert vielmehr, was ich verstehen will. Das genaue Hinhören, das Nachfragen, der Vorrang der Sachinhalte sind out. Und die Möglichkeit, dass ich unrecht habe, mein Leben aufgrund meiner Fiktionen verpfusche, darf nicht ausgesprochen werden. Es wäre der postmoderne Tabubruch. Meine Gefühle können sich nicht irren. Gefühle sind der zeitgenössische Kaffeesatz, aus dem bedenkenlos die persönliche Wahrheit abgelesen wird.
Viele Menschen retten sich in die These: Im Grunde meinen wir doch dasselbe. Leider meinen wir aber ganz und gar nicht dasselbe, nicht einmal das gleiche, nicht selten sogar das Gegenteil… Wieso sollte man zum Beispiel ohne weiteres unterstellen, alle Religionen meinten ‚im Grunde’ dasselbe? Ist dieses ‚Im Grunde’ womöglich die verfremdete, insgeheim ersehnte absolute Wahrheit? Es gibt keinerlei sachlichen Hinweis auf die Richtigkeit dieser These. Religionen kommen dem menschlichen Bedürfnis nach Halt angesichts der ‚letzten Dinge’ entgegen, aber deswegen meinen sie längst nicht dasselbe….
Im Spruch Im Grunde meinen wir doch dasselbe! drückt sich andererseits die Ahnung aus, dass man sich gegenseitig im Glauben an gemeinsam für wahr Gehaltenes erkennen, tief berühren kann, auch wenn man sich unterschiedlich ausdrückt. Es ist ein großes Glück, wenn sich solches Erkennen einstellt. Dieses Glück bleibt versagt, solange ich meine individuelle Wahrheit als das höchste Gut betrachte.

In allen Konflikten zwischen Menschen liegt unbereute und unverziehene Schuld begraben, die immer wieder spukt. Gelegentlich werden angesichts des Dilemmas Dialog, Vergebung und Frieden politisch voraussetzungslos verordnet, scheinen jahrzehntelang sogar zu funktionieren. Brechen aber die Unterdrückungsmechanismen solcher Politik im geschichtlichen Verlauf ab, kommt das Gespenst des alten Zerwürfnisses wieder hoch wie der Geist, dessen Flasche endlich entkorkt wird. In der Regel ist der Hass in der Zeit der Unterdrückung gewachsen und gibt erstklassiges Material her für ambitionierte neue Machthaber. Umso grausamer wird alte Schuld aufgerollt und immer wieder aufs Neue gerächt. Dafür gab uns Jugoslawien ein schreckliches Beispiel.
Die eigene Schuld ist im (post-)modernen Gespräch ein Reizthema. Das kirchliche Mea culpa ruft in uns große Abwehr hervor. Wir vermeiden es, unsere Taten als Schuld zu bewerten. Es geht mir nicht um die Verklärung einseitiger, leichtfertiger Schuldzuweisungen früherer Zeiten. Aber Schuld ist und bleibt das größte Hindernis zwischen den Menschen. Es sind nicht einfach nur Positionen, die aufeinander prallen. Wir empfinden tief und schmerzlich das Unrecht, die Verletzung der eigenen Würde, den Hass, wenn wir Opfer werden. Ohne Auseinandersetzung, ohne Reue kann nicht verziehen werden. Mag ich als Geschädigter meinen inneren Frieden machen mit dem Unrecht, das mir widerfahren ist - Versöhnung mit dem anderen, Vergebung, sind solange nicht möglich, solange der Täter nicht bereut und sich meine Vergebung nicht wünscht. Es erscheint mir daher irrig, sich einen christlichen Gott vorzustellen, der nach dem Gießkannenprinzip ‚vergibt’. Ich hatte immer den Eindruck, dass der christliche Gott mit jedem einzelnen ins Gespräch kommen will. ‚Wo bist du?’ ruft Gott schon in der Genesis den Adam, der sich vor ihm verbirgt, weil er schuldig wurde. Adam kommt aus seinem Versteck und schiebt die Schuld für sein Versagen auf Eva. Christliche Tradition spricht von einem ‚Jüngsten Gericht’, in dem am Ende der Zeit Recht geschaffen wird. So sehr wir uns wünschen, dass Recht da geschaffen wird, wo wir ins Unrecht gesetzt wurden, so sehr fürchten wir, dass unser eigenes Unrecht ans Tageslicht kommen, dass das, was wir hinter unserer vorgeblichen ‚persönlichen Wahrheit’ verborgen haben, als Illusion oder sogar Lüge entlarvt werden könnte… Also hat man das Jüngste Gericht aus dem kirchlichen Leben eliminiert. Um es pointiert zu sagen: Nicht Gott - ich muss recht behalten!
Die neuzeitliche Theologie und Psychologie fördert die Sprachlosigkeit zwischen Gott und Mensch. Während in den alten Kirchen der Priester in persona Christi der Gemeinde so zuspricht, wie Gott nach christlicher Überlieferung zum Menschen spricht (im Beichtgespräch bzw. dem Sakrament der Versöhnung geschieht solcher Zuspruch individuell), ist mit zunehmender Entfernung von der Tradition sowohl diese liturgische Gestaltung als auch das Beichtgespräch geschwächt oder ganz abgeschafft worden. In den modernen protestantisch orientierten Kirchen und Freikirchen redet vor allem der Mensch. Wem in der Kirche etwas nicht passt, der macht eben seine eigene auf, Wahrheitsanspruch übrigens inklusive. Ein Heer entwurzelter, nomadisierter Christen nippt krittelnd und mäkelnd mal bei der, mal bei jener ‚Kirche’. Ich interpretiere selbständig die Bibel, wie es mir gerade passt, was die Kirche glaubt(e), geht mich nichts an, interessiert mich nicht einmal. Ich bin der Souverän über mein Verhältnis zu Gott. Ich bete, was ich will. Ich  schreie Halleluja und ‚Preiset den Herrn’, ich gebe mir Ausdruck in Liedern und Tänzen. Ich entscheide, was ich verstehen und glauben will. Mit der Vorstellung, dass Dinge über mein momentanes Verstehen gehen könnten, gehe ich nicht (mehr) um. Der kirchenfreie Christ hat sich selbst zum Maß der Dinge des Glaubens gemacht. Seine Gottesdienste sind Weihehandlungen des inszenierten Selbst. Gott wird dem schon wohlgefällig zusehen und zustimmen…. Ein Gott, der in seiner Größe immer einen Schritt hinter mir herhinken darf, ist genaugenommen überflüssig! Ich muss ehrlich zugeben, dass mir da ein gestandener Agnostiker glaubwürdiger erscheint!
Immer werden Schulddefinitionen dadurch umgangen, dass man dem Opfer eine Mitschuld zuschreibt. Schuld wird so gegen Schuld aufgerechnet, quasi weggekürzt. Und schon scheint Schuld keine Rolle mehr zu spielen. Die tragische Situation der Notwehr wird als Verstehensmuster für alle Situationen des Lebens angenommen.
Ich bin nicht selbst schuld an dem Unrecht, das mir widerfährt. Auch dann nicht, wenn ich selbst Schuld auf mich geladen habe. Unrecht ist Unrecht. Meines und das des anderen. Da hebt sich nichts einfach auf! Die Notwehrsituation zwingt den Täter, gegen seine Absichten, um des eigenen Überlebens willen, schuldig zu werden. Um es noch einmal zu sagen: es ist infantil, jede unbequeme Herausforderung des Lebens als Notwehrsituation zu interpretieren und sich selbst damit einen Freispruch für das Unrechttun auszustellen. Diese selbstmitleidige Haltung ist eine kollektive Neurose des deutschen Volkes. Das hitlersche ‚Ab heute wird zurückgeschossen!’ am Vorabend des Einmarsches in Polen meinte, dass das geprellte, beschissene, gedemütigte deutsche Volk nun endlich zeige, ‚wo der Bartel den Most holt’, ‚zurückschießt’, sich wehrt, weil es so tief ins Unrecht gesetzt wurde. Über das Ins-Unrecht-gesetzt-worden-sein hätte im politischen Gespräch und auf lange Sicht gekämpft werden können und müssen. Das Unrecht aber, das Deutschland aus der Haltung verzweifelter Infantilität über die Welt brachte, ist und bleibt tiefe, tiefe Schuld. Sie verschwindet auch nicht dadurch, dass man einfach nicht mehr darüber redet…
Wir erziehen unsere Kinder nicht (mehr) zu dem Bewusstsein, dass sie verantwortlich für ihr Verhalten sind. Wir entlasten sie unentwegt. Wir haben ein sentimentales Verhältnis zu ihnen, missbrauchen sie als Projektionsfläche für unsere eigenen Entwicklungsdefizite. Alle Argumente werden herangezogen, die kleinen Übeltäter zu entlasten: er oder sie ist müde, hatte einen langen Tag, ist im Unterzucker und außerdem haben wir so wenig Zeit für ihn oder sie und überhaupt sind die Kleinen heute ja so belastet…! Dem Kind wird ein Koffer voller Ausreden und Argumente für seine Selbstsucht mit auf den Weg gegeben. Benimmt es sich vor aller Augen daneben, entschuldigen sich meist die Eltern dafür, anstatt ihr Kind dazu zu ermutigen, sein Verhalten einzusehen und den, den er geschädigt hat, um Verzeihung zu bitten. Ob so erzogene bzw. unerzogene Menschen je beziehungsfähig sein werden? Sie hängen am Tropf elterlicher Absolution gegen den Rest der genervten Welt und bleiben auf diese Weise unselbständig. Man kann den Verdacht haben, dass die gestiegene Gewaltbereitschaft der Jugend mit dieser anerzogenen herabgesetzten Frustrationstoleranz zu tun hat. Ohne Erkenntnis über die konkrete eigene Verantwortung und Schuld kann kein Frieden werden, wird kein einziges Gespräch möglich sein. Solange wir für uns selbst immer eine Entschuldigung parat haben, die der andere gefälligst anzunehmen hat - wie soll da Versöhnung, Frieden, echte Zwiesprache möglich sein? Ich bitte darum, mich hier nicht misszuverstehen: es geht nicht darum, wie vielleicht vor Jahrzehnten noch üblich, Kindern abzuverlangen, dass sie sich regelmäßig neue Sünden zuschreiben, um im Beichtstuhl auch etwas erzählen zu können!

Je größer die Lüge, desto schöner der Mantel, sagt das Sprichwort. Und wir lassen uns gerne von schönen Gewändern blenden. Besser gesagt von dem, was man uns als schön und prächtig vorgaukelt. Wir glauben dem Ansehen, der Macht und dem Sieg. Gesellschaftliche Macht und geistigen Sieg haben manchmal übrigens nicht die Funktionsträger, sondern deren medienwirksame, als Helden verehrte Kritiker. Die Wahrheit, das Gute, die Schönheit können wahr, gut oder schön sein wie sie wollen - wir werden sie mehrheitlich für falsch, böse und hässlich halten, wenn man uns im Appell an eine verschworene Gemeinschaft, ein Wir, sagt, dies sei so. Die meisten Menschen begreifen diese Mechanismen instinktiv und leben in ständiger Anpassung an das, was gerade angesagt ist. Die Tuchfühlung mit den Meinungsmachern - auch den subversiven Meinungsmachern! - gibt ihnen das Gefühl, Anteil an deren Möglichkeiten zu haben. Sie leben nicht im Dialog mit wem oder was auch immer, sondern im strategischen Kontakt mit der Macht
Der Kreis schließt sich hier. Die Idole, der Mainstream, besser die Mainstreams, der Zeitgeist werden zum Wahrheitsmuckefuck, auf den man sich einigt. Die Reflexion, die Mühe um Annäherung an Wahrheit und Schönheit hat man vollständig delegiert. Ist eben alles relativ. Fast ist man geneigt zu sagen, man einige sich leichter auf die Lüge als auf die Wahrheit.
Je größer die Lügen, je mehr sie sich schmiegen. Wer uns einwickeln will, wird uns vorspielen, mit uns im Einvernehmen sein zu wollen. Viele streben in politisch erwünschten Dialogen Vereinbarungen, gemeinsame Papiere und Verbindlichkeit an. Das ist zwischen Partnern, die eine große Schnittmenge an Gemeinsamkeiten aufweisen, möglich und zukunftsfähig. Gibt es aber diese Gemeinsamkeiten bei ehrlicher Sicht auf die Sachlage kaum, wird jede getroffene Abmachung, jeder Vertrag ohne Zögern gebrochen werden. Die meisten Menschen setzen sich lieber mit dem Schmeichler und Vertragsbrecher an den Tisch als mit dem, der ihnen offene Konfrontation auf Augenhöhe bietet. Die Verbindlichkeit hat unter der beschriebenen Umständen erheblich abgenommen. Das Individuum bleibt schutzlos und einsam mit seinen Kaffeesatzgefühlen im Gepäck zurück wie der verlorene Sohn, nachdem er sein Vermögen verprasst hatte.
Copyright by Hanna Jüngling 2010