Sonntag, 11. August 2019

Auctoritas und Potestas - Zur Frage des Metapolitischen in der philosophischen rechten Szene

Auctoritas und Potestas
Zur Frage des Metapolitischen in der philosophischen rechten Szene


Ich habe mich auf dem Blog der rechtskonservativen Zeitschrift „Sezession“ an einer Diskussion unter einem Artikel von Jonas Schick mit dem Titel „Netzfundstücke (22) – Formierung, Flaute, Europa“ vom 10. August 2019 beteiligt, der ausführlicher auf einen Artikel von Moritz Rudolph im „Merkur“ vom 5. August 2019 unter dem Titel „Eurofaschismus — wer gegen ihn ist, könnte für ihn sein“ eingeht Artikel Moritz Eurofaschismus und von einem Kommentator namens „Nath“ eine interessante Antwort erhalten. Man kann die Diskussion hier lesen Artikel Jonas Schick + Kommentare
Ich möchte @ Nath hier antworten, weil es im Kommentarbereich der Zeitschrift zu ausführlich würde, aber davon abgesehen auch viele Leser interessieren könnte, die eher keine „rechten“ Zeitschriften lesen:


@ Nath

Mit der an Kant angelehnten Identifizierung von „rechts“ mit einem Denken von der Notwendigkeit her und „links“ mit einem Denken von der Möglichkeit her, während im reflexiven Ich eine Realisation des Möglichen und Notwendigen geschieht, sind einige Fragen ungelöst, etwa die, wer denn dieses reflexive Ich auf praktischer politischer Ebene ist oder sein kann, und vor allem: wer die naturgemäß unendliche Vielfalt des Möglichen verwaltet und aus ihr das Grundlegende ausfiltert, das dem Notwendigen zugeordnet wird. Und: Gibt es ein Notwendiges überhaupt an sich, oder hängt es nicht immer mit einem Bein im Reich des Möglichen und daher nicht Zwingenden und umgekehrt? Sie weisen darauf hin, dass die Trennung zwischen beidem künstlich ist und letztendlich absurde Züge hat.

Ich versuche die Frage einmal in einem anderen tradierten Rahmen zu betrachten:

Zunächst erschien in der Spätantike dieses reflexive Ich Mögliches und Notwendiges in der Gestalt des Kaisers zu binden. Das hielt sich aus verschiedenen Gründen nicht lange, wir finden einige dunkle Jahrhunderte der „Zwischenzeit“ zwischen dem zerfallenden christianisierten römischen Reich und dem frühen Mittelalter vor, über dessen Vorgänge wir kaum oder wie manche behaupten gar keine echten Quellen haben. Plötzlich taucht aus dem Schatten der grandiose Karl auf, und mit ihm — zumindest hat man es so tradiert — eine Rekonstruktion des römischen Reiches, nun aber in einer Dichotomie zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, die man begrifflich jeweils anders charakterisierte und die der kantischen in gewissem Sinne ähnelte:

Diese ins Absurde reichende Dichotomie des Möglichen und Notwendigen mündete später über die Auseinandersetzungen im Investiturstreit in der Konkurrenz der „zwei Schwerter“, der nun ausgeprägter die theoretische, v.a. von Augustinus ausgearbeitete Trennung von Heilsgeschichte und bloßem Saeculum zugrunde lag. Das Saeculum sollte aus dem unsichtbaren Regnum regiert werden, das „schon-und-noch-nicht“ war, alle Jahre waren bereits „Jahre des Herrn“, obwohl man andererseits nicht die Vaterunserbitte leugnen wollte, dass sein Reich erst noch komme. Die kirchliche Hierarchie war sichtbar-unsichtbares Zeichen des Regnum Dei.

Dabei setzte man das Regnum Dei als abstraktes Potenzial, das hinsichtlich der irdischen Verhältnisse eben doch nicht unendlich und frei war, voraus. Man verstand das praktische Recht im Staat als ein „göttliches Recht“, sein Vollstrecker, der Fürst, war „von Gottes Gnaden“, was er war. Das Gemeinwesen wurde zum definierten Rahmen des irdisch Möglichen, das nicht mit einem himmlisch Möglichen verwechselt werden sollte, seinem Wesen nach aber eben doch Göttliches im Nichtgöttlichen behauptete. Grundlage bot dafür alleine Röm 13, wo jegliche „potestas“ als „ministra Dei“ (griech. „diakonos theou“) behauptet wurde, was zu verheerenden Verkennungen in der Christenheit führte, die die antagonistischen Schriftstellen dazu entweder ignorierte oder nicht ernst genug nahm. Insbesondere die Behauptung, alle „potestas“ komme von Gott („Non est enim potestas nisi a Deo“ Röm 13,1), widerspricht offen der Aussage Jesu, die eine Sphäre Gottes und eine des Potentaten für den Christen scharf trennt und die „potestas“ der Fürsten überhaupt als in einem höheren Sinne wirksam geschweige denn gerecht in Frage stellt:

„Scitis quia hi, qui videntur principari gentibus, dominantur eis, et principes eorum potestatem habent ipsorum.
Non ita est autem in vobis, sed quicumque voluerit fieri maior inter vos, erit vester minister;
et, quicumque voluerit in vobis primus esse, erit omnium servus. (Mk 10,42)

«Qui videntur principari gentibus», «die als Fürsten angesehen werden von den Völkern» sind in der Aussage Jesu finstere Institutionen, Ausbeuter, herrschsüchtige Wesen, die den „gentes“ letztendlich „potestas“ gegen die Menschen ausüben, nicht für sie, ihnen förmlich „antun“. In dieser Formulierung steckt eine Differenzierung von „Autorität“ und „Macht“, zwischen „auctoritas“ und „potestas“, die in der Stelle im Römerbrief total verwischt wird. Auch der Satz Jesu „Reddite ergo, quae sunt Caesaris, Caesari et, quae sunt Dei, Deo“ (Mt 22,21) trennt die Sphäre des Kaisers von der Gottes scharf. Auf der Münze ist das Bild des Kaisers, zeigt Jesus auf, man kann ihm also „zurück“geben, was ihm gehört. Soll er seine Münzen doch behalten! Es ist gleichgültig.
Aber das, was Gottes ist und sein Abbild ist, gebührt niemals dem Kaiser, kann ihm nicht gebühren. Die Verwischung dieser Differenz im Römerbrief steht zu der klaren Position Jesu, die sich im übrigen aus dem gesamten Alten Testament ergibt, im krassen Gegensatz.
Interessanterweise klammern sich politisch konservative Christen meist an Röm 13, angereichert durch einen Schuss Thomismus, der den Aussagen Jesu noch mehr aus dem Wege ging, indem er aristotelische Gedanken hinzunahm. Thomas zeichnet im wesentlichen die Monarchie als die idealste Staatsform, den Monarchen als Abbild der mon-arche Gottes. Dabei blieb es fortan für die Christen weitgehend, auch die Protestanten, man orientierte sich, wenn es um die Position des Christen in der Welt ging, daran und ignorierte oder relativierte alle herrschaftskritischen Stellen, deren die ganze Bibel voll ist, und die in zahlreichen weiteren Aussagen Jesu eingeschlossen ist, deren genauere Auflistung und Interpretation hier aber zu weit führen würde.

Die Problematik für eine christliche Argumentation schien darin zu liegen, dass das Reich Jesu „nicht von dieser Welt“ ist, wie Jesus vor Pilatus im Verhör sagte, sich also für eine politische Realisation in diesem Saeculum nicht eignet. Daran nahmen nicht nur die Juden Anstoß, sondern auch der Verräter Judas und der Verleugner Petrus und mit ihnen vermutlich der Großteil der Christenheit und des Abendlandes. Sie haben genau diesen Aspekt des Lebens und der Lehre Jesu abgelehnt und verfremdet, ins Gegenteil verkehrt, eben aus der Not heraus, dass sie nicht wussten, wie sie die Zeit des Wartens auf ihn in einem ausdrücklich  „christlichen“ Gemeinwesen überbrücken sollen.

Tatsächlich trat Jesus im römisch besetzten Heiligen Land mit Autorität, aber ohne jede Gewalt auf: er hatte höchste „auctoritas“, die sofort von den Menschen ohne Unterschied erfasst wurde, der „potestas“ aber hatte er dem Satan in der Wüste ins Angesicht widerstanden. Er ist nicht der Fürst der Werktage, sondern des Ruhetages, des Schabbats (Mt 12,8). Der Schabbat steht für die „auctoritas“ der Ruhe Gottes, in der es keine Herrschaft und Gewalt gibt.
Das christliche Abendland hat säkular-römische Okkupation und Katholizität mit dem „Hinterweltlertum“ (Nietzsche) Jesu verbunden und dabei ein Monstrum erschaffen, das sich als Gott und Teufel zugleich gibt.

Die Frage kam dennoch im Abendland immer wieder und früh auf, ob man sich mit einem solchen — oben referierten — Modell nicht selbst belügt.
Das bei Bonifaz VIII. hierarchisch „höher“ gedachte „Schwert“ des Papstes repräsentierte das Mögliche bereits in einer Konkretisierung, und das hierarchisch „darunter“ befindliche „Schwert“ des Kaisers repräsentierte die Notwendigkeit, die sich etwa mit der Aussage, konkrete säkulare Rechtsordnungen müssten — im Auftrag des Papstes und damit Gottes — autoritär stabil gehalten werden, weil der Mensch ohne sie eine chaotische Schafherde bleibe, die in Krieg und Chaos versinke, niederschlägt. Bei diesem von Bonifaz VIII. ausdrücklich eingeforderten Modell werden zwar formal noch „auctoritas“ und „potestas“ unterschieden. Faktisch aber hat geistliche „auctoritas“ sich zur „potestas“ verwandelt und deren Vollstreckung an den Kaiser outgesourct.
„Auctoritas“ stürzte damit unwiederbringlich in die „potestas“ ab. Das Abendland hat sich damit schon lange selbst erledigt, und Ricarda Huch sprach in ihrem Buch über den Untergang des Heiligen Römischen Reiches davon, dass sich dieses Abendland mit seiner klassischen Musiktradition einen grandiosen Schwanengesang gegeben habe. Das meint: Es ist schon lange, seit Jahrhunderten sterbend und nun abgestorben, nur merken es die Konservativen nicht. Oder sie glauben, man könnte es zur Auferstehung bringen — eine Hybris.
Die Reformation, aber auch ganz basal die Bundschuhbewegung, waren nicht zuletzt Folge dieses selbst dem ungebildeten Bauern leicht erkennbaren Absturzes. Aber der Mensch braucht das Potenzielle, sonst sinkt er ins Animalische ab. Europa wird ohne konservativen Auferstehungsillusion nicht überleben, mit ihr aber auf Dauer auch nicht. Europa ist eine Art Zombie.

Hannah Ahrend schrieb in den 50ern einen Artikel über die Frage, was „Autorität“ sei und verwies darin auf den römischen Senat, dessen Autorität darin bestand, sie ohne Unterstützung durch Gewalt innezuhaben. „Auctoritas“ funktioniert diesem Ideal nach ohne „potestas“. Sie überzeugt im Gegensatz zur „potestas“ aus sich selbst und einer unhinterfragbaren geistigen Kraft heraus. Im Bild des frühen Mittelalters aber wurde deutlich, dass das Ideal sich selbst aufgegeben hat und selbst das Schwert dessen ergriffen hat, der in Wahrheit keine Autorität hat und der Gewalt zur Durchsetzung seines Willens bedarf. Schon in den Tagen Bonifaz VIII. war das Meta-Politische, wenn man einmal „rückwirkend“ sagen will, vom rein Politischen kaum mehr zu unterscheiden, gab sich aber den Anschein einer Unterscheidung.
Die Frage, ob damit das Kollektiv „befriedet“ wird, das ansonsten in ewiger Unordnung und Krieg versinken würde, erübrigt sich seither faktisch. „Frieden“ erscheint immer mehr als Kriegsvorbereitung, nach dem Motto „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg“. Der Sinn der Staatlichkeit erledigt sich zunehmend selbst, weil es der Staat und seine „Influencer“, die Strippenzieher und Geldmächte, die den Unfrieden aus den Sehnüschten nach Frieden und Befriedung zu einem „ewigen Krieg“ generieren, Lebenskräfte für die Macht des Todes brauchen, geschafft haben, ihr schändliches Handwerk als ungeschminkte "potestas", also "Gewalt", erst recht als Engagement für den „ewigen Frieden“ zu tarnen.

Wie Sie andeuten, ist eine „Rechte“, die in diesem Sinne der „potestas“ zugeordnet werden muss und daher immer pragmatisch autoritär konzipiert ist, nicht nur aus sich selbst heraus schwach und ohne Überzeugungskraft, sondern abgekoppelt von der „auctoritas“, die gewaltlos zu überzeugen vermag. Die Frage ist schlicht, wer hier der „auctor“ sein sollte?

Faktisch bedeuten rechte bzw reaktionäre Modelle für das Volk nach zum Untergang des Ancien Régime seit dem 19. Jh denselben Kollektivismus, der sie, so oder so ohne sichtbaren Apex an der Spitze der Pyramide in Gesellschaftsbildungen, die dem Anschein nach direkt aus dem Möglichen schöpfen, einspannt. Wir fassen die Modelle des Ancien Régime, die zugegebenermaßen ehrlicher waren und ungeschminkter zur Schau stellten, was sie waren, heute mit Wehmut und Folklorismus auf, weil vieles daran ästhetisch ansprechender war: Solange die Hierarchen sich als die Schöpfer  (Begriff der „mon-arche“) ihrer Untertanen ansahen, sollten diese Untertanen ihnen keine Unehre bereiten und einigermaßen aufgeputzt wirken. Der gleichförmige Untertan war Abbild des einen Fürsten. Der Monarch war persönlich verantwortlich, wenigstens formell. Man wusste im Volk noch, vor welchem Schlosstor man mit der Mistgabel aufmarschieren konnte, wenn der Fürst Mist baute. Heute weiß man das nicht mehr.

Unverfängliches Beispiel: Trachten. Heute ein Utensil der „guten alten Zeit“, gerne getragen von Konservativen als Symbol des „Eigenen“ und der „eigenen Tradition“, gediegen, wirklich schön und kunstvoll, kurz: schmuck. Die wenigsten wissen, dass diese Trachten vom Fürsten diktiert worden waren, ständischen Charakter hatten und kollektiv allen Untertanen aufgezwungen wurden. Trachten waren faktisch die Uniformierung der alten Untertanen-Gesellschaft, die man damals nicht „Kollektiv“, sondern „Herde“ nannte (der Vatikan tut es heute noch!). Die Illusion des Ständischen konnte über den kollektiven Charakter solcher Gemeinwesen nicht hinwegtäuschen: Ob man die Herde in einen Pferch mit mehreren Schlafzimmern oder mit einen großen Schlafraum zwingt, ändert nichts daran, dass sie alle unter Zwang und ohne große Abweichungsmöglichkeiten in diesem Pferch "geframed" wurden, wie man heute sagen würde.
Die „demokratische“ Suggestion des direkten Kollektivs, das angeblich ohne Apex ist, hat heute durch PR und Modediktat alle in die Kleidung der Sklaven und Lohnarbeiter getrieben, die als schick gilt: Jeans, Jeans, Jeans, eigentlich zu Deutsch der blaue Anton des ungelernten, ungebildeten Arbeiters und Bauern. Auch hier bleibt ein Rest ständischer Illusion erhalten: Ob Edeljeans oder löchriger Denim für Rapper - es sind doch immer die Kleider des Sklaven. Besonders absurd: Trachtenkleider aus Jeansstoff. Die Queen würde das wohl kaum tragen, nicht mal in der edelsten Variation. Auch heute fällt man auf, wenn man niemals „Jeans“ trägt. Man verweigert die „Tracht“ des Sklaven, auch wenn sich das Diktat etwas weicher gibt, und gilt als "extravagant" und jemand, der sich "für was Bessers hält". Kollektivistisch sind beide Modelle, nur ist das erste nicht unpersönlich gezeichnet.
Das Volk (als Konglomerat der Untertanen im ersten Modell verstanden) war immer noch irgendwie Abglanz seines Fürsten.
Das zweite Modell koppelt das Kollektiv der Untertanen von den Fürsten ab, die fortan unsichtbar bleiben und das Kollektiv als Konkursmasse ihrer Geschäfte ansehen, ohne dafür mit ihrem Gesicht einzustehen oder gar Verantwortung zu übernehmen. Das „Volk“ findet sich alleine vor und spürt doch, wie es an jedem Gelenk einen Faden in ein „Oben“ hat, den es selbst nicht abschneiden kann. Es tanzt einen Totentanz nach einem gespenstischen Diktat. Die Mistgabel kann es nicht einmal mehr ergreifen, geschweige denn erheben.

Hier stellt sich das Problem, inwiefern es überhaupt so etwas wie eine „Rechte“ im Gegensatz zum „Linken“ oder „Liberalen“ geben soll, die nicht anders als jene ohne sichtbare Monarchen auskommen will und die vorhandenen Fäden leider selten zum Thema macht. Es wäre jedenfalls absurd zu sagen, das Volk sei Abglanz seiner selbst.


Mit dieser schwerwiegenden Problematik hat sich bereits die völlig zu Unrecht (oder vielleicht gerade deswegen!) vergessene Ricarda Huch befasst, die zu Beginn der 20er Jahre ein geschichtsphilosophisches, modernen Staatsauffassungen kritisch gegenüber stehendes Werk mit dem Titel „Entpersönlichung“ veröffentlichte, daneben aber auch eine wertschätzende Monografie über den von Ihnen erwähnten Anarchisten Bakunin. Man kann vermuten, dass sie auf der Suche nach dem Ausweg aus dem modernen Dilemma versucht hat, etwas zusammenzudenken, das dem Anschein nach nicht zusammengeht, nämlich Anarchismus und Personalität im besten Sinne, die ohne Gesichter und die größtmögliche Konkretisierung des reflexiven, individuellen Ich naturgemäß nicht auskommen und das Gemeinschaftliche „Ich“ damit zum Leuchten brächten. Nur landet man hier - christlich gesprochen - wieder bei der Frage, ob in diesem Saeculum überhaupt Aspekte des künftigen Regnum politisch realisierbar sind. Dieses Problem drücken Sie in Ihrer Bemerkung aus, dass der anarchische (von: "an-arche") Libertarismus aus Ihrer Sicht das Maximum an sozialer Eiskälte bedeute.

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